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Lisa Marie Kwayie hat noch viel Steigerungspotential über 100 Meter.

© imago/Chai v.d. Laage

Leichtathletik-EM in Berlin: Neuköllns große Hoffnung

100-Meter-Läuferin Lisa Marie Kwayie hat den Sprung auf die große Bühne geschafft - trotz verheerender Nebenwirkungen ihrer Antibabypille.

Wenn alles genau nach Plan läuft, geht bei der Leichtathletik-EM am Montag um exakt 17.51 Uhr ein großer Traum für Lisa Marie Kwayie in Erfüllung. Dann soll der Startschuss im Berliner Olympiastadion für den zweiten Qualifikationslauf der Frauen über 100 Meter erfolgen. „Ich bin so glücklich, diese Chance in meiner Heimatstadt zu haben“, sagt Kwayie.

Es war ein harter Kampf für die Berlinerin mit ghanaischen Wurzeln auf die große Bühne der Leichtathletik. Früh war ihren Lehrern das außerordentliche läuferische Talent von Kwayie aufgefallen. Ihr Grundschullehrer musste sie drei Jahre lang überreden, in einen Sportverein zu gehen, ehe sie es dann endlich tat. Kwayie machte bei den Neuköllner Sportfreunden sehr schnell sehr große Fortschritte. 2014 holte sie bei den Junioren-Weltmeisterschaften in Eugene in der 4x100-Meter-Staffel die Bronzemedaille. Beim Einzellauf schaffte sie es zwar nicht ins Finale, Kwayie war aber die schnellste Deutsche. Über die 100-Meter-Distanz galt sie damals als größte deutsche Sprinthoffnung, trotz der gleichaltrigen Gina Lückenkemper.

Dann aber streikte ihr Körper. 2015 brach sie sich das Sprunggelenk, ein Jahr später riss sie sich die Patellasehne und wiederum ein Jahr später zwang sie ein Muskelbündelriss zu einer langen Pause. Kwayie war am Boden. War das alles nur eine Pechsträhne, Schicksal?

Ihr Laufstil ist noch längst nicht ausgereift

Eine Ärztin des Berliner Klinikums Charité, erzählt Kwayie, sei der geheimnisvollen Verletzungsserie auf die Schliche gekommen. „Es lag vor allem an den Nebenwirkung meiner Antibabypille“, sagt Kwayie. Unter anderem permanente Müdigkeit und Wassereinlagerungen in Knien und Füßen seien die Folge gewesen. „Ich war wütend und traurig. Ich hatte der Frauenärztin, die mir die Pille verschrieben hat, vertraut. Schließlich habe ich keine Ahnung von Medizin“, sagt sie. Aber natürlich war sie auch froh, dass das Rätsel nun gelöst war. Kwayie steigerte sich schnell, von 11,40 Sekunden im vergangenen Jahr auf 11,29 in diesem. Dabei ist ihr Laufstil noch längst nicht ausgereift. Besonders im letzten Drittel der 100 Meter, wenn es darum geht, die Geschwindigkeit zu halten, hat sie noch erhebliche Schwächen.

Kwayie ist im Moment noch nicht die schnellste deutsche Läuferin, aber vermutlich ist sie jene mit dem größten Steigerungspotenzial. Ihr sportliches Vorbild ist die US-amerikanische Sprinterin Allyson Felix. „Sie läuft einfach so wunderschön“, sagt Kwayie, deren großes Ziel anhand ihrer Möglichkeiten nicht besonders ambitioniert scheint. „Die Teilnahme an den Olympischen Spielen“, sagt sie mit leuchtenden Augen.

Erreichen will sie es mit ihrem Trainer Frank Paul bei den Neuköllner Sportfreunden. Ein Wechsel kommt für sie erst einmal nicht in Frage. Kwayie liebt ihr Umfeld, liebt Neukölln. Sie war drei Jahre alt, als ihr Vater mit ihr Ghana verließ und in Neukölln sesshaft wurde. „Neukölln ist kunterbunt, nie langweilig. Ich fühle mich sehr wohl hier“, sagt Kwayie. Auch macht sie deutlich, dass für eine Deutsche mit afrikanischem Hintergrund die Themen Rassismus und Diskriminierung nicht unbedingt die drängendsten sein müssen. „Ich bekomme das nicht mit. Zum Glück gehöre ich einer Generation an, in der das nicht das große Thema ist“, sagt Kwayie, die im vierten Semester soziale Arbeit studiert. „Ich bin extrem sozial, bin als Kind in Ghana sogar mal ohne T-Shirt oder Schuhe nach Hause gekommen, weil ich es verschenkt habe“, erzählt sie. Heute um 17.51 Uhr aber, das weiß sie, muss sie eher räuberisch als fürsorglich sein.

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