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Menschmaschine. Joachim Deckarm zeichneten während seiner aktiven Karriere enorme Athletik und hohes Spielverständnis aus.

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Lehrer des Lebens: Handballer Joachim Deckarm wird 60

Nach seinem tragischen Unfall vor 35 Jahren wurde Handballer Joachim Deckarm schon für tot erklärt – heute wird er 60 Jahre alt.

Als das Gerücht den Kabinengang erreicht, weicht die Stille blankem Entsetzen. Ausgewachsene Mannsbilder sitzen auf Holzbänken und kämpfen mit ihren Emotionen, sie nehmen sich in den Arm und versuchen einander zu trösten. „Viele von uns haben bitter geweint, es war ganz schrecklich“, erinnert sich Heiner Brand, „diesen Tag werde ich nie vergessen können.“ Am 23. März 1979 ist der VfL Gummersbach um den späteren Bundestrainer Brand zum Europapokalspiel in Tatabanya angetreten, eigentlich Routine für die seinerzeit beste und populärste deutsche Handball-Mannschaft. Was die Spieler in der 50 Kilometer westlich von Budapest gelegenen Kleinstadt erleben, soll sich allerdings nachhaltig in ihr Gedächtnis einbrennen. Nach dem Zusammenstoß mit einem Gegenspieler landet ein Gummersbacher unglücklich mit dem Kopf auf dem Hallenboden, der nur mit einer dünnen Kunststoffschicht überzogen ist. Er bleibt bewusstlos liegen und muss vom Platz getragen werden. Im Grunde ist dem Unfall nicht einmal ein Foul vorausgegangen, sondern nur ganz normaler Körperkontakt.

Brand und seine Kollegen müssen das Spiel zunächst zu Ende bringen, geplagt und begleitet von Ungewissheiten. Später in der Umkleidekabine macht das denkbar schlimmste Gerücht seine Runde: Joachim Deckarm, der beste Handballer seiner Generation, Anführer der legendären Weltmeistermannschaft von 1978 und des VfL Gummersbach, vor allem aber: Freund und Wegbegleiter, sei seinen schweren Verletzungen erlegen, heißt es. Im Alter von gerade einmal 25 Jahren.

Heute feiert Joachim, genannt „Jo“, Deckarm seinen 60. Geburtstag – und sein alter Freund Heiner Brand hat nur eine Erklärung dafür. „Es ist ein Wunder, dass es so gekommen ist“, sagt er, „ein Wunder, für das Jo und zahlreiche Helfer immens viel getan haben.“ Wenn die Karriere des gebürtigen Saarbrückers schon außergewöhnlich war, ist es die Geschichte seines Lebens nach dem Unfall erst recht. Weil sie traditionelle Werte aufzeigt, die im durchkommerzialisierten Sport immer seltener zu finden sind: Verbundenheit, Ehrgeiz, Pflichtbewusstsein, Teamgeist. Letzteren Begriff trägt auch die vor fünf Jahren erstmalig erschienene Biografie des ehemaligen Rückraumspielers im Titel. In „Teamgeist – die zwei Leben des Joachim Deckarm“ nimmt er den Leser mit auf eine sehr persönliche Reise durch sein bewegtes Leben.

Er erzählt vom vorbildlichen Zusammenhalt der 78er Weltmeister, die sich nach dem Unglück geradezu rührend um ihren Teamkollegen gekümmert haben und das bis heute tun. Die sich traditionell einmal im Jahr gemeinsam mit ihren Frauen für drei Tage an Fronleichnam treffen, um die guten und weniger guten alten Zeiten zu beleuchten. Nur über den Tag X, diesen 23. März 1979, mag Deckarm verständlicherweise nicht mehr sprechen, da macht er auch in seiner Biografie keine Ausnahme. Mit den finanziellen Erlösen des Buches und weiteren Spenden aus einem eigens eingerichteten Fonds unter dem Dach der Stiftung Deutsche Sporthilfe wird die spezielle medizinische Behandlung des einstigen Jahrhundertspielers finanziert, der in einem Heim für betreutes Wohnen in Saarbrücken lebt. Zu seinem runden Geburtstag hat man ihm in der „Hall of Fame“ des deutschen Sports eine Sonderausstellung gewidmet.

"Ich glaube, dass ich ein gutes Leben führe", sagt Deckarm zum Jubiläum.
"Ich glaube, dass ich ein gutes Leben führe", sagt Deckarm zum Jubiläum.

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Um in diesen Tagen nach dem Unfall von Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher ein Gefühl für die Schwere von Deckarms Verletzung zu bekommen, genügt eine Zahl: 131. So viele Tage lag er 1979 im Koma, er wurde von einer Klinik in die nächste, von einem Fachmann zum anderen geschickt, ehe er schließlich im Beisein seiner Mutter und entgegen vieler medizinischer Prognosen wieder die Augen öffnete. Doch damit beginnen die Probleme erst: Wer soll sich um Deckarm kümmern? Wer soll’s bezahlen? Und, viel wichtiger: Wie geht er selbst mit den Folgen seines schweren Schädel-Hirn-Traumas um? Wird die Behinderung den Modellathleten von einst brechen?

Joachim Deckarm hat nach der Rückkehr ins Leben die motorischen Fähigkeiten eines Kleinkindes, er muss sich alles neu erarbeiten: Sprache, Reflexe, jede noch so kleine Bewegung. Ein schweres Unterfangen für den ehemaligen Fünfkämpfer, der zeit seines Lebens Sport getrieben hat. „So strebsam und ehrgeizig wie als Spieler war er auch in der Zeit danach“, sagt Brand. „Wie er mit der Situation umgegangen ist, hat mich immer am meisten fasziniert: es gab nie Beschwerden, kein Gejammer, im Gegenteil: Jo war den Umständen entsprechend immer aktiv und hat Wert auf Selbstbestimmung gelegt.“

Deckarm macht in den Jahren danach kleine Fortschritte, aber er macht eben welche. Lesen, Schreiben, Schwimmen, Gehen – mit der Zeit kommt alles wieder, Schritt für Schritt. In seiner Biografie hat er seine Sportart einmal als „Schule des Lebens“ bezeichnet. So gesehen ist er der Lehrer des Lebens. Brand sagt: „Im Umgang mit seinem Schicksal ist Jo ein großes Vorbild. Er hat vielen Leuten gezeigt, wie man es machen kann.“ Mittlerweile geht der ehemalige Mathematik-Student sogar wieder einer großen Leidenschaft nach: dem Schachspiel. „Selbst als gehobener Hobby-Spieler sollte man nicht gegen ihn antreten“, sagt Brand, „da hat man keine Chance.“

Und Deckarm selbst? Der Jubilar hat sich ziemlich rar gemacht, große Auftritte und Empfänge bedeuten für ihn stets auch eine große Belastung. In der Personalie Schumacher hat er sich kürzlich zu Wort gemeldet, „der schafft das“, sagte Deckarm. Und dann hat er mit Blick auf seinen 60. Geburtstag noch einen Satz ergänzt, den seine Teamkollegen, Freunde, Betreuer und ehrenamtlichen Helfer sehr gern hören werden: „Ich glaube, dass ich ein gutes Leben führe.“

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