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Jan Ullrich im Jahr 2016 bei einer Pressekonferenz in Köln.

© imago/Nordphoto

Kolumne: So läuft es: Jan Ullrich ist kein Einzelfall

Vieles deutet darauf hin, dass Ex-Radstar Jan Ullrich massive Probleme hat. Unser Kolumnist hat ihn schon öfter getroffen und eine wichtige Botschaft.

Vor einigen Tagen schrieb ich etwas bei Facebook: „Ich habe selten einen sensibleren und zerbrechlicheren Menschen kennengelernt. Ich weiß bis heute nicht, welchen Schmerz er in sich trägt. Häme und Spott sollten sich einige besser verkneifen. Alkoholsucht ist eine Volkskrankheit. Fuck Drugs.“ Dazu postete ich ein Foto von Jan Ullrich und mir. Ich traf ihn einige Male. Dieser Post über Jan Ullrich löste eine rege Debatte aus. Und dann erreichte mich eine sehr sensible Message von Cathy. Aus Rücksicht vor ihrer Mutter, der Familie, aus Rücksicht vor ihrer Privatsphäre, habe ich ihren Namen in Cathy geändert. Nach Absprache mit ihr darf ich ihre Nachricht hier veröffentlichen.

Sie lautet: „Ich werde nächste Woche 44 Jahre alt. Seit ich denken kann, trinkt meine Mutter. Wenn ich zurückdenke, haben meine Geschwister und ich immer gesagt: Wir haben zwei Mütter. Eine, die lieb ist und sich um uns kümmert. Eine, die in der Ecke, auf dem Sofa oder im Keller liegt, die nur schreit, die nicht mehr richtig reden kann. Erst im Alter von circa 20 Jahren habe ich verstanden, dass Alkoholismus eine Krankheit ist und dass meine Mutter das nicht extra macht.“

Und dann schrieb Cathy, wie ihr Vater damit umgegangen ist. „Er hat mit 30 Jahren angefangen zu joggen. Erst nur so, dann etwas mehr, und dann lief er seinen ersten Marathon. Durch die Krankheit meiner Mutter war das seine Flucht, sein Ausgleich, einfach sein Ding, seine Hingabe. Er ist über 100 Marathons gelaufen. Er musste auf seine Art davonlaufen, denn ein Alkoholiker trinkt natürlich nie, er würde nie sagen, dass er Alkoholiker ist und es ihm auch gut geht. Wenn sich ein Mensch öffnet, dann kann ihm auch geholfen werden, aber das hat meine Mutter nie zugelassen. Nie hat sie was getrunken. Nein, sie doch nicht. Nie waren es ihre Flaschen, die wir als Kinder in allen Ecken gefunden haben."

Der Sucht davonrennen

Cathy hat sich ihre Gedanken gemacht zum Verhalten ihres Vaters: "Mein Vater war stets ein sehr ruhiger und starker Mann. Warum er nie weggegangen ist, das wissen wir nicht. Wir haben ihn früher öfter danach gefragt, er hat es uns nie beantwortet. Auch wissen wir nicht, warum es bei meiner Mutter soweit kam. Durch das Laufen bekommt Vater seinen Kopf frei. Kann sich die Gedanken wegrennen. Ich glaube: Wenn er läuft, dann gibt es für ihn in dieser Zeit nur den Wald, die Straße, die Berge (je nachdem, wo er gerade läuft) und ihn. Er hat da richtig Spaß dran, an all den offiziellen Läufen, auf denen wir ihn früher begleitet haben. Man konnte spüren wie gut es ihm davor, währenddessen und danach ging. Es war nicht selten, dass er einen Marathon beendet hat und gesagt hat: "Ach, so´n 10er würde jetzt noch gehen..."

Die Geschichte von Cathy und ihrer Familie passiert überall in Deutschland. Jeden Tag. Ihr Vater hat sich freigelaufen, um die schwere Situation zu meistern. Das Laufen selbst wird oft als Therapie- Baustein für den Suchtentzug eingesetzt. Alkohol ist nichts weiter als eine legale Alltagsdroge mit fatalen Folgen. Sie zerstört Menschen und Familien. Schauen wir genau hin, helfen wir denen, die es betrifft. Lachen wir nicht über sie. Helfen wir, wo es geht. So läuft es.

Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.

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