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Bei Extremläufen gehen die Sportler an ihre Grenzen.

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Kolumne: So läuft es: Extremläufe machen weise

Viele Läufer suchen nach Grenzerfahrungen. Auch unser Autor will immer mehr und ist dabei öfter mal unvernünftig.

Hätte mir vor sechs Jahren jemand gesagt, dass ich je 42 Kilometer am Stück laufe, ich hätte lässig gelacht. Selbst zehn Kilometer waren eine fürchterliche Qual. Und heute? Heute laufe ich ab und an mal einen Ultramarathon. Und während ich das so schreibe, schüttle ich ungläubig den Kopf. Weil das alles so unwirklich erscheint, wenn ich zurückschaue. Damit bin ich nicht alleine. Kaum ein Sport lässt es zu, sich so schnell so sehr zu steigern. Ist der erste Marathon einmal geschafft, meldet man sich oft bereits für den nächsten an.

Für viele gibt es dann kein Halten mehr: Die Suche nach den Grenzerfahrungen hat begonnen. Ich bin da nicht anders als Sie, keinen Deut besser oder vernünftiger. Im Gegenteil. Am Dienstag muss ich mich einer Meniskusoperation unterziehen, und trotzdem musste er sein: der Jungfrau-Marathon in der Schweiz. Egal wie. Grenzerfahrung eben. Aufgeben ist im Grunde keine Option, wenn man mal seine Entscheidung getroffen hat. Ich bin meinem Arzt sehr dankbar. Er überließ die Entscheidung, diesen extremen Bergmarathon zu absolvieren, ganz mir. „Wenn du glaubst, dass das gut für dich ist, mach es!“ Seinen sorgenvollen Gesichtsausdruck nahm ich sehr ernst.

Der Jungfrau-Marathon ist einer der schönsten Läufe der Welt. Mehr Schweiz-Kitsch geht nicht, im positiven Sinn. Sie laufen quasi in einer Filmkulisse und von einer Gänsehaut zur nächsten. Der Lauf von Interlaken auf die kleine Scheidegg, im Schatten der Eiger-Nordwand, ist an Schönheit nicht zu überbieten.

Die Grenze spüren

Sie werden von dröhnenden Alphörnern getragen, wilde Schweizerinnen und Schweizer feuern sie mit „Heeeja, Heeeja“ an, und selbst in den Bergen harren die Einwohner aus. Mit einer Freundlichkeit, die so nur selten zu finden ist. Und all die positive Energie benötigen Sie auch dringend. Denn Sie legen 1800 Höhenmeter zurück.

Die Steigungen sind so brutal, dass selbst Profis nur gehen können. Das Wetter kann in den Bergen plötzlich umschlagen. So stand ich bei zwei Grad und Starkregen auf einer Moräne. Zwei Kilometer vor dem Ziel steckte ich im Läuferstau. Der Pfad war zu schmal für ein Überholmanöver. Ich schaute um mich in die Gesichter. Alle spürten ihre Grenze, einige waren deutlich darüber gegangen. Im Ziel angekommen, wurde mir klar: Auch wenn der Trend immer mehr zu Extremläufen geht, vergessen wir bitte nie, woher wir kommen. Hören wir unbedingt auf unseren Verstand. Auch ein 10-Kilometer-Lauf ist oft Abenteuer genug. Oder um es mit Friedrich Schiller zu sagen: „Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrtum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schöneren Ziele der ruhigen Weisheit hinaufarbeiten.“ So läuft es.

Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen. An diesem Sonntag liest er in Berlin ab 17 Uhr beim Literatur-Marathon in der Kunstfabrik „Schlot“ (Invalidenstraße 117) aus seinem Buch „Laufwunder“ (Eintritt frei).

Mike Kleiß

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