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Marathon-Olympiasieger Eliud Kipchoge geht im September in Berlin auf Rekordjagd.

© AFP

Kolumne: So läuft es: Der Traum vom Berlin-Marathon

Schnelligkeit ist relativ. Während es einigen beim Berlin-Marathon auf die Zeit ankommt, ist sie anderen völlig egal. Aber geht es letztlich nicht darum, einfach nur anzukommen?

Wenn Marathon-Olympiasieger Eliud Kipchoge am 24. September versuchen wird, den aktuellen Marathon-Weltrekord von 2:02:57 Stunden in Berlin zu pulverisieren, und das mit Ansage, wird mir Otto sicher wieder beim Laufen begegnen. So wie an fast allen Sonntagen seit sechs Jahren. Otto geht jetzt auf die 80 zu.

Seine Läufe werden sehr, sehr langsam. Und seine Stimme kratzt seit zwei Jahren immer ein bisschen mehr. Sein Rücken ist ein wenig runder, und seine Haltung etwas gebückter. Aber er läuft. Noch immer. Irgendwie. Es lohnt sich immer, kurz den Lauf zu unterbrechen, um mit Otto einige Worte zu wechseln. Das tut uns beiden gut. Er kann kurz verschnaufen. Ich lerne fürs Leben.

Zuerst ist Ottos Hund gestorben, dann seine Frau. Und immer hat ihm das Laufen geholfen, sagt er. Denn es ist sein Lebenselixier, es ist für ihn – wie für mich – auch eine Art Meditation. Letzten Sonntag hatte ich einen langen 35 Kilometer Lauf auf dem Plan. Der Jungfrau-Marathon will gut vorbereitet sein. Noch bin ich es nicht so ganz.

Bei Kilometer 30 hörte ich von weiter Ferner den freudigen Ruf, den ich immer von Otto höre: „Dauerläufer! Da bist Du ja wieder. Wie schön!“ Mein Tempo war gerade recht gut, die letzten fünf Kilometer wollte ich nochmal die letzten Körner auf den Feldweg ballern, ich hatte Durst und Hunger, mein Kopf war auf die letzten Kilometer eingestellt, ich musste sehr kämpfen. Und ich hielt doch.

„Du siehst abgekämpft aus, Dauerläufer“, sagte Otto

Natürlich hielt ich an. Wenn nicht für Otto, für wen dann? „Du siehst abgekämpft aus, Dauerläufer“, sagte Otto. „Du siehst entspannt aus, Otto“, sagte der Dauerläufer. Otto lachte: „Hast Du gehört, dass der Kipchoge den Weltrekord knacken will, in Berlin? Und kürzlich hat er in diesem Versuch unter die zwei Stunden gewollt, beeindruckend. Aber Quark. Und Du machst auch besser mal langsamer. Wer sacht läuft, kommt auch an.“

Zack, der letzte Satz hatte gesessen. Und genau wegen dieser Sätze halte ich seit sechs Jahren immer wieder an. Aber Otto war noch nicht fertig. „Eines Tages, da werde ich auch Berlin laufen. Eines Tages. Muss ein tolles Erlebnis sein. Ich bin sie alle gelaufen. New York, Paris, Chicago, London. Und eines Tages, da werde ich Berlin laufen. Sachte, aber ich werde ankommen. Das ist noch so ein Traum.“ Ich erzählte Otto von meinem Berlin-Marathon, von einem der schönsten Lauferlebnisse meines Lebens. Von all den Kulturen und Begegnungen an diesem Tag.

Davon, dass Berlin der Marathon gewesen ist, bei dem mir die Zeit egal war. Komplett egal. Und dass ich dabei ein ganz anderes Gefühl des Ankommens hatte. Zufriedener, irgendwie. „Deshalb laufen wir doch alle eigentlich. Weil wir ankommen wollen. Im Ziel. Aber vor allen Dingen bei uns selbst. So sollte es doch sein, Dauerläufer“, verabschiedete sich Otto. Ich bin froh, stehengeblieben zu sein. So läuft es.

Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.

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