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Kristina Vogel hat mit dem aktiven Radsport abgeschlossen.

© Jörg Carstensen/dpa

Kolumne: Meine Paralympics: Kristina Vogel beugt sich nicht dem öffentlichen Druck

Die querschnittsgelähmte Bahnrad-Weltmeisterin Kristina Vogel will keinen Leistungssport mehr treiben und eine Familie gründen. Unsere Kolumnistin macht ihr Mut.

Sport ist Lebenselixier, ist Lebenssinn, ist Selbstbestätigung, ist Leidenschaft, ist Starkmacher, ist Glück. Das habe ich bei allen sechs Paralympischen Spielen, die ich von 2004 bis 2014 mit der Paralympics Zeitung und für den Tagesspiegel live miterlebt habe, immer wieder gespürt. Es macht keinen Unterschied, ob die Athleten eine oder keine Behinderung haben. Sportlerinnen und Sportler stellen Training, Sieg und auch den Umgang mit Niederlagen im Leben symbolisch ganz oben aufs Podest.

Und dann kommt von einer Sekunde auf die andere etwas, dass das bisher Dagewesene radikal verändert.

Für die deutsche Bahnrad-Weltmeisterin Kristina Vogel war das zunächst ein schwerer Verkehrsunfall im Mai 2009, als sie beim Straßentraining von einem Zivilfahrzeug der Thüringer Polizei erfasst wurde und schwere Verletzungen erlitt. Ein Brustwirbel und die Handwurzelknochen waren gebrochen, sie verlor mehrere Zähne und die Autoscheibe zerschnitt das Gesicht. Eine Gesichtshälfte blieb teilweise taub. Steckte sie alles weg.

Dann kam der Unfall am 26. Juni 2018, als Kristina Vogel beim Training im Cottbuser Radstadion mit einem niederländischen Fahrer kollidierte – und ihr schwarz vor Augen wurde. Trümmerbruch des Brustbeins, schwere Wirbelsäulenverletzung, ihre Wirbelsäule sah aus „wie ein Ikea-Klapptisch“, sagte sie mal der „Welt“. Es kam das künstliche Koma, und die Diagnose: Querschnittlähmung vom Brustkorb abwärts. Das alles erzählt sie später wieder in Fernsehkameras. Es folgen Interviews, Auszeichnungen, Solidaritätsaktionen, sie ist die öffentliche Strahlefrau im Rollstuhl. Und immer ist da auch dieses von Zuschauern gefühlte „wie toll, dass sie das alles so schafft, und mal sehen, wie ihr Leben weitergeht“.

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Wie es in ihrem Inneren aussieht, weiß nur sie selbst. Einen kleinen Einblick gewährt die starke Frau jetzt in ihrem Buch „Immer noch ich. Nur anders“, aus dem zuletzt die „Bild am Sonntag“ vorab zitierte. „Der aktive Leistungssport kommt für mich nicht infrage, weil ich dann wieder im Rampenlicht stehen würde, und mehr noch als früher“, schreibt die 30-jährige Olympiasiegerin. Und weiter: „Würde Kristina Vogel zurückkommen, müsste sie gewinnen.“

Viele Menschen haben versucht, sie zu überreden, eine neue Karriere im Para-Sport zu beginnen, berichtet Vogel weiter. Das wolle sie aus zwei Gründen nicht: Zum einen fühle es sich gut an, wie es gerade sei. Und zum anderen: „Wir haben so viele tolle Leute im Para-Sport. Warum soll ich denen die Bühne klauen?“, gibt jetzt die Nachrichtenagentur dpa ihre Gedanken wieder. Sie schrieb das mit Blick etwa auf den Paralympics-Sieger Niko Kappel (Kugelstoßen) und die Paralympics-Zweite Denise Schindler (Radsport). Kristina Vogel: „Lieber fünf Kameras auf Niko Kappel und Denise Schindler als 20 auf mich.“

[Annette Kögel ist Mitbegründerin der Paralympics Zeitung des Tagesspiegels und der DGUV und schreibt jeden ersten Mittwoch im Monat eine Kolumne über paralympischen Sport]

Sie hat damit weiteres Großes geschafft. Sie beugt sich nicht dem öffentlichen Interesse, das einfach mit einer Athletin weiterfiebern will. Scheint es doch ein Automatismus zu sein, dass das Publikum im Kampf der anderen die eigenen Emotionen und die eigenen Lebensziele von der Couch aus mitbedient sehen will.

Der beidbeinig amputierte Prothesenläufer Oscar Pistorius bediente auch die öffentliche Neugier, als er einst die Massen – und mich – 2008 in Peking und 2012 als Olympionike begeisterte.

Die Liste der Athleten, die bei Olympia und Paralympia antraten, ist lang, und um nur einige zu nennen: Reiter Pepo Puch, Österreich. Leichtathletin Ilke Wyludda, Deutschland. Bogenschützin Zahra Nemati aus dem Iran. Die Tischtennisspielerinnen Melissa Tapper, Australien, und Sandra Paovic, Kroatien. Sowie viele andere mehr. Der italienische Geschwindigkeitsliebhaber Alessandro Zanardi, einst im Rennwagen schwer verunglückt und dann als Rennrollstuhl-Paralympicssieger mit neuerlichem Erfolg beglückt, soll nach seiner jüngsten schweren Kollision mit einem Laster bei einem Rennrollstuhlrennen jetzt zum Glück Fortschritte bei der Genesung machen. Zanardi hat schon Familie, die ihn liebt, egal wie viele Medaillen er holt.

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Auch Kristina Vogel denkt jetzt an Nachwuchs. „Ich bin aktuell nicht schwanger, wünsche mir aber Kinder“, sagte die 30-Jährige der Illustrierten „Gala“. Doch „da tauchen sofort viele Fragen auf: Klappt das überhaupt? Und wie kann ich die Zeit mit Bauch im Rollstuhl meistern?"“ Sie habe großen Respekt vor einer Schwangerschaft.

Es sei ihr Mut gemacht. Es gibt viele Menschen im Rollstuhl, die Eltern geworden sind, auch Sportlerinnen und Sportler, Frauen wie Männer. In Deutschland ist das etwa die ehemalige Rollstuhlfechterin Esther Weber, die mit 15 Jahren durch einen Autounfall eine Querschnittlähmung erlitt, sie ist Mutter zweier Kinder. Es gibt auch glückliche Mütter, denen Arme fehlen. Aber sie haben so viel mehr. Sie haben Kinder, das ist Gold für immer, ein lebenslanger Gewinn. Ich darf das seit 2016 als Pflegemutter erfahren, weshalb sich die Spiele auf meinem persönlichen Lebenspodest umplatzierten.

Ob im Corona-Sommer 2021 wohl behinderte und nicht behinderte Athletinnen und Athleten in Tokio wieder um Metall kämpfen? Ich bin mit der Paralympics Zeitung und dem Tagesspiegel jedenfalls mit dabei, diesmal – klar – digital.

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