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Auge drauf. Klaus Augenthaler schießt im WM-Finale 1990 aufs Tor. Der 1:0-Sieg gegen Argentinien war sein letztes von 27 Länderspielen.

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Klaus Augenthaler über den WM-Sieg 1990: "1990 war alles erlaubt"

Klaus Augenthaler war bei der WM 1986 und 1990 dabei, als Deutschland jeweils im Finale gegen Argentinien spielte. Im Interview spricht er über Bootstouren mit Lothar Matthäus, das Finale von Rom und Thomas Häßler im Kinderwagen.

Klaus Augenthaler, Deutschland spielte in zwei aufeinanderfolgenden WM-Finals gegen Argentinien. Sie waren bei beiden Turnieren dabei. Was ist der gravierende Unterschied zwischen den Vizeweltmeistern 1986 und den Weltmeistern 1990?

Die Mannschaft in Mexiko bestand aus zerstrittenen Lagern, aus Kölnern, Münchnern und Stuttgartern. Da gab es viele Scharmützel. Beckenbauer legte sich bei der WM zudem mit den Journalisten an, die damals noch bei uns in der Hacienda lebten. Wir haben in Mexiko viele Fehler gemacht, die wir 1990 in Italien vermieden haben.

Zum Beispiel?
In Italien kamen die Journalisten nur noch zwei, drei Mal in der Woche zu abgesteckten Terminen zu uns ins Quartier. Ansonsten hatten wir unsere Ruhe. Und die Harmonie in der Mannschaft war sehr ausgeprägt.

Woran lag das?
Ein Vorteil war sicher, dass etliche Spieler damals in Italien spielten. Die Italiener mochten uns, wir wurden mit offenen Armen empfangen. Lothar hatte ein Boot auf dem Comer See, auf dem wir Ausflüge machen konnten. In Mexiko hatten sie uns in die Savanne verfrachtet, in Italien erlebten wir Lebensfreude. Und Franz ließ uns fast alle Freiheiten.

Wie müssen wir uns Ausflüge auf dem Boot von Matthäus vorstellen?
Wir schipperten entlang der Uferpromenade und sahen die Häuserfassaden vorm Sonnenuntergang. Das war romantisch. Weniger romantisch waren die Fahrten zur Anlegestelle. Lothar hatte einen Peugeot 205. Da bin ich nur ein einziges Mal mitgefahren, weil er so riskant die Küstenstraßen entlangbretterte.

Wurde im WM-Quartier viel gefeiert?
Nach den Spielen – die ja ausnahmslos erfolgreich für uns liefen – gab es immer ein Bankett. Die Räumlichkeiten waren herrlich. Gerhard Mayer-Vorfelder kam nach dem Essen immer zu mir und sagte: »Auge, jetzt rauchen wir mal eine richtige Zigarette!«

Eine richtige Zigarette?
MV rauchte damals ohne Filter, also bot er eine von seinen Reval oder Roth-Händle an.

Wie stand Teamchef Franz Beckenbauer zu rauchenden Profis?
Das war ihm im Prinzip wurscht, wie gesagt, er ließ uns sehr viel Freiheiten. Bis zu diesem Turnier hatte ich es nie erlebt, dass Spieler sich nach dem Essen im Restaurant eine anzündeten. Aber zur italienischen Lebensart passte es, und so wurde auch schon am Tisch gequalmt.

Klingt alles sehr entspannt.
Nicht, dass hier ein falscher Eindruck aufkommt. In den Trainingseinheiten ging es schon zur Sache. Gerade Berti Vogts, der für viele Trainingsinhalte verantwortlich war, sorgte am Tag nach gewonnen Spielen schnell dafür, dass wir wieder bei der Sache waren. Da wurde auf keinen Rücksicht genommen.

Wie würden Sie Beckenbauer beschreiben?
Er war in jeder Hinsicht eine Respektsperson. Speziell nach dem Viertelfinale gegen die Tschechen haben wir die Peitsche pur zu spüren bekommen. Wie ein Wirbelwind ist er auf jeden los. Ich habe zugesehen, so schnell wie möglich ins Entmüdungsbecken zu kommen. Aber selbst da kam er hinterher und wütete. Zum Glück war es im Bad so heiß, dass er es dort nicht lange aushielt.

"Wenn wir 1990 im Finale gegen Italien gespielt hätten, dann wären wir nicht Weltmeister geworden"

In den Medien kursierte das Gerücht, der damals 44-jährige Beckenbauer würde die Nationalspieler im Training noch locker ausspielen.
Wenn wir Sechs gegen Zwei spielten, musste er mit Abstand am seltensten in die Mitte. Am Ball machte ihm keiner etwas vor.

Wie unterschied sich die Trainingslehre im Gegensatz zur WM 1986?
In Mexiko wurden wir auf die Gegner in furchtbar ermüdenden Videovorführungen vorbereitet, indem wir uns komplette Spiele anschauen mussten. Bei wichtigen Szenen wurde mühsam zurückgespult, was die neunzig Minuten teilweise auf fast drei Stunden ausdehnte. Hinterher hätte ich aus dem Kopf die Augenfarbe jedes Gegners aufsagen können und habe gewusst, welcher Ersatzspieler Bartträger ist. 1990 lief das zum Glück gestraffter ab. Wir bekamen die Stärken und Schwächen des Gegners in Zusammenschnitten präsentiert.

Sie waren vor der WM 1990 lange außen vor. Beckenbauer kritisierte Sie. Wie lange mussten Sie überlegen, als er doch noch anrief?
Wenn der Kaiser anruft, überlegt man nicht lang. Aber in der Vorbereitung bekam ich extreme Achillessehnen- und Leistenprobleme. Es war so schlimm, dass ich davor war, hinzuschmeißen. Letztlich hat Franz mich überredet. Er meinte, dass wir es mit der Hilfe der Masseure und Physios schon hinbekommen.

Sie haben unter Schmerzmitteln gespielt?
Nicht das Turnier, nur die Vorbereitung. Zwei Wochen lang lag ich jeden Tag zwei Stunden bei den Physios auf der Bank und grübelte, ob ich nicht doch nach Hause fahren sollte. Aber in Italien ging es wieder halbwegs. So ein Turnier ist schon ein Kraftakt, besonders wenn man Beschwerden hat.

Wie nah kam der Kader 1990 noch dem Mythos von den elf Freunden?
In der Truppe herrschte ein guter Geist, wir waren eine Einheit. Schauen Sie auf Günter Herrmann, der keine Minute gespielt hat, Frank Mill, Paul Steiner oder Uwe Bein, die während des Turniers nur wenig Einsatzzeiten hatten. Die waren abseits des Platzes ständig mit dabei.

Wer war der Spaßvogel der Mannschaft?
Gemeinhin gilt Sepp Maier oft als der, der für gute Laune sorgte. Aber Sepp hatte auch ein sehr feines Gespür dafür, wie man aufkommenden Ärger schlichtet. Als Franz nach dem Spiel gegen die CSFR tobte wie ein Taifun, ging Sepp zu ihm und holte ihn auf den Boden zurück. Und er hat auch die Spieler besänftigt, wenn sie sich zu sehr von Franz angegangen fühlten.

Ab wann ahnten Sie, dass Sie in Italien den Titel holen könnten?
Der Sieg im ersten Spiel hat uns enormes Selbstbewusstsein gegeben. Jugoslawien war ein Mitfavorit. Die mit 4:1 zu düpieren, hat eine ungeheure Euphorie freigesetzt.

War Argentinien ein dankbarer Finalgegner?
Ich weiß nicht, wie unsere Chancen gestanden hätten, wären wir im Finale auf Gastgeber Italien getroffen. Ich glaube nicht, dass wir in dem Spiel Weltmeister geworden wären.

Warum war das Finale 1990 so unglaublich langweilig?
Beide Teams haben sehr abwartend gespielt. Jeder wusste, wer ein Tor fängt, für den wird es schwer. Also haben wir zugesehen, dass wir Maradona aus dem Spiel nehmen, was Guido grandios gelungen ist, und haben uns dann langsam in die Partie gekämpft. Und je länger das Finale dauerte, desto sicherer waren wir, dass wir es packen können.

So sicher, dass Sie plötzlich im gegnerischen Strafraum auftauchten und prompt zu Boden gingen.
Das war nach einem Eckball, sonst hätte ich mich nie da hingetraut. Das war ganz sicher ein Elfmeter. Auf jeden Fall eher als die Situation, in der Rudi Völler zu Boden ging.

"Morgens im Restaurant saß ein Großteil der Spieler schon wieder beim Weißbierfrühstück"

Nie Angst gehabt, dass es mit dem Titelgewinn schiefgeht?
Angst nicht. Ich würde eher von positiver Anspannung sprechen, die sich auf der Fahrt ins Stadion steigerte. Ich hoffte, dass das Spiel so schnell wie möglich beginnt. Wenn wir in der Kabine saßen und „Un’ estate Italiana“ von Gianna Nannini aus dem Stadion hörten, wurde es fast unerträglich. Ich höre sowieso gerne italienische Musik, aber wenn ich diesen Song höre, kommen all die Erinnerungen von 1990 wieder hoch.

Was war für Sie die legendärste Party bei der WM 1990?
Wie gesagt, nach jedem Spiel haben wir im Quartier die Siege gefeiert. Es war durchgehend eine schöne Zeit. Alles war erlaubt. Ein einziges Mal haben wir nach einem Essen den Zapfenstreich verpasst. Da kamen wir gegen Viertel vor zwölf zurück. Wir nahmen den Hintereingang, um Franz nicht über den Weg zu laufen. Doch im Reinkommen empfing uns Beckenbauer zusammen mit den Masseuren – alle mit einem Pils in der Hand.

Und es gab Ärger?
Franz sagte: „So kommt ihr mir nicht ins Bett. Ihr trinkt zur Strafe noch ein Bier mit uns.“

Wie haben Sie die Siegesfeier in Erinnerung?
Sehr gut, auch wenn ich nur einen kleinen Teil davon erlebt habe, weil ich nach dem Spiel zur Dopingprobe musste – und dort dreieinhalb Stunden verbrachte.

Wie kann es sein, dass man so lange nicht zu Potte kommt?
Sie können sich vorstellen, das ich nach drei, vier Litern, die in der Situation in mich hineinschüttete schon einen Wasserbauch hatte. Aber kommen Sie mal in die Pötte, wenn Ihnen zehn, fünfzehn Mal bei dem Versuch zu pinkeln ein 75-jähriger Kontrolleur zuschaut. Da tröpfelt es eben nur. Was meinen Sie, wie viel warmes Wasser ich mir über die Hände habe laufen lassen. Irgendwann habe ich einem der Kommissare dann mein Deutschland-Sweatshirt angeboten, damit er sich mit der vorhandenen Flüssigkeitsmenge zufriedengibt. Er hat sich auf den Deal eingelassen, dem wurde wohl auch schon langweilig.

Und als Sie dann endlich bei der Feier im Quartier auftauchten…
... waren die Ansprachen gelaufen und die anderen schon bester Laune. Dazu kam, dass meine Frau mit unserer zwei Monate alten Tochter angereist war, so dass wir uns gegen drei Uhr schlafen legten, weil wir wussten, dass sich die Kleine gegen sechs Uhr melden würde. Als wir am Morgen im Restaurant auftauchten, saß da ein Großteil der Mannschaft schon wieder beim Weißbierfrühstück.

Wie ist es, nüchtern zwischen sternhagelvollen Weltmeistern zu sitzen?
Beim Aufwachen schaute ich aus dem Fenster und traute meinen Augen nicht: Sepp Maier schob Icke Häßler im nagelneuen Kinderwagen meiner Tochter um den Rasensprenger. Der Buggy war hin.

„Weltmeister bleibt man für immer“, sagt Rudi Völler.

In Italien war mir das gar nicht so bewusst, aber was dann in Deutschland ablief, war enorm. Ein paar Tage nach dem Finale kam die Freiwillige Feuerwehr Vaterstetten mit Blaulicht vor unserem Haus vorgefahren. Bierbänke und Fässer wurden ausgepackt. Und dann haben wir auf die WM angestoßen.

In einem Satz: Ihr Team wurde Weltmeister, weil…
... alles gestimmt hat und wir eine Einheit waren: die Spieler, der Stab und alle Leute im Umfeld der Mannschaft.

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