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Könige des Königsspiels. Das Duell zwischen Boris Spasski (l.) und Bobby Fischer war mehr als ein Schachspiel. Zur WM wurden seinerzeit selbst Briefmarken geprägt. Foto: Arte France

© picture-alliance / obs

Sport: Klassenkampf mit Schwarz und Weiß

Vor 40 Jahren wurde Bobby Fischer in Island Schachweltmeister gegen Boris Spasski – eine Spurensuche.

An diesen Zeichen hat die Zeit genagt. Unter der schweren Glasplatte, die den Abschluss eines kolossalen Holztisches bildet, sind nur noch bedingt jene Unterschriften erkennbar, die zwei Männer hier 1972 hinterlassen haben. Die kyrillischen Konturen auf der einen und die römischen auf der anderen Seite, sie stammen aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. So schwarz-weiß wie fast alles, was sie umgibt. Das Brett im Zentrum. Die hinter dicken Scheiben millimetergenau angeordneten Original-Figuren. Die Postkarten mit den Endstellungen der jeweiligen Spiele. Die Porträts an den Wänden. Einzig zwei Stühle geben dem Raum einen Hauch von Leben.

Auf diesen Stühlen haben sie also für zwei Monate gesessen, die besten Schachspieler des 20. Jahrhunderts. Auf dem einen: Boris Spasski aus Russland, 35, amtierender Weltmeister. Auf dem anderen: Der US-Amerikaner Bobby Fischer, 29, Herausforderer und Exzentriker vor dem Herrn, ein „cholerisches Genie“, wie ihn die „New York Times“ einst charakterisierte. Hier, auf einer Vulkaninsel mitten im Nordatlantik, die bis zu diesem Zeitpunkt sporthistorisch noch nicht in Erscheinung getreten war.

Die Bedeutung, die das Duell erlangt hat, ist der Hauptgrund dafür, dass in Reykjavik 40 Jahre später keine Nachrichtensendung ohne einen Beitrag zum „Match of the Century“ auskommt. Der Blätterwald der isländischen Hauptstadt überschlägt sich regelrecht, in Touristen-Magazinen gibt es zum 40. Jahrestag der legendären Schach-WM ganzseitige Anzeigen und Artikel. Die Dauerausstellung, die für gewöhnlich im Kulturhaus Reykjaviks untergebracht ist, hat einen Platz im Nationalmuseum gefunden, zwischen historischen Holzkeilen und Modellen von Wikinger-Schiffen.

Bobby Fischer war mal wieder nicht da. Die offizielle WM-Eröffnungsfeier am 1. Juli 1972 im Nationaltheater schwänzte er einfach, das Duell des Jahrhunderts drohte in letzter Sekunde zu platzen. Erst der zusätzliche Scheck eines Londoner Bankmillionärs und die Bitte Henry Kissingers stimmten Fischer um. „Amerika wünscht sich, dass Sie hinfahren und den Russen besiegen“, gab ihm der spätere US-Außenminister mit auf den Weg. In der Hochphase des Kalten Kriegs war das Duell zwischen dem russischen und dem amerikanischen Großmeister nicht nur ein Schachspiel, es war ein Duell der Systeme, Klassenkampf mit Schwarz und Weiß.

Entsprechend groß fiel der Empfang am Flughafen in Reykjavik aus. Als Fischer am 3. Juli endlich landete, wartete die Weltöffentlichkeit auf den Mann, der mit 15 Jahren zum jüngsten Großmeister aller Zeiten ernannt worden war. Fischer sollte die, nun ja, Erwartungshaltung an seine Person erfüllen, aus sportlicher Sicht sowieso. Für Schlagzeilen sorgte er aber nicht zuletzt mit seinen Tiraden, seinen politischen, zutiefst antisemitischen Statements, seiner konspirativen, an Schizophrenie grenzenden Art. Schnell wurde deutlich, dass dieser Mann anders tickt als sein Gegenüber. Während Spasski in Reykjavik auf öffentlichen Plätzen Tennis spielte, schottete sich Fischer in der teuersten Suite seines Hotels ab, er verlangte eine Limousine mit Diplomatenkennzeichen und Polizei-Geleitschutz zur Spielstätte. In der Ausstellungshalle, die unweit des isländischen Nationalstadions und des größten Schwimmbads in Reykjavik liegt, gingen die Tiraden weiter.

„Bobby Fischer hat sich über alles und jeden beschwert“, erinnert sich der Journalist Valur Gunnarson, der das Match seinerzeit live verfolgte. „Einmal wollte er, dass alle Kinder aus dem Parkett verschwinden, dabei herrschte absolute Stille“, sagt Gunnarson. Ein anderes Mal verlangte Fischer, den Tisch abzusägen. Die Liste nahm kein Ende: Licht zu hell, Licht zu dunkel, Spielbrett zu dreckig. Zunächst schien sich Boris Spasski nicht aus der Ruhe bringen zu lassen von den Sperenzchen seines Gegenübers. Das erste der auf maximal 24 Spiele angesetzten WM, zu dem Fischer natürlich mit Verzug erschien, entschied Spasski für sich. Das zweite schenkte Fischer kampflos ab. Begründung: Die Fernsehkameras im Zuschauersaal hätten ihn in seiner Konzentration gestört. Nach drei Siegen und einem Remis in den folgenden vier Partien ging Fischer erstmals in Führung – die psychologische Wende. Der US-Amerikaner, der zuvor nie gegen Spasski gewonnen hatte, verlor nach den beiden Niederlagen zum Auftakt nur noch eine einzige Begegnung. Nach einem Remis im 21. Spiel stand Fischer am 1. September als neuer Weltmeister fest.

Bobby Fischer wäre allerdings nicht Bobby Fischer gewesen, wenn es nach seinem größten Erfolg ruhig um ihn geworden wäre. Weil er sich weigerte, seinen WM-Titel zu verteidigen, wurde ihm dieser 1975 aberkannt. Fischer verschwand von der Bildfläche. Erst 1992 tauchte er wieder auf. Mitten im Bürgerkrieg trat er in Jugoslawien für ein Preisgeld von mehr als drei Millionen Dollar noch einmal gegen Spasski an. Fischer ignorierte damit das von den USA verhängte Wirtschaftsembargo, woraufhin sein Heimatland Haftbefehl gegen ihn erließ. Der Großmeister setzte daraufhin nie mehr einen Fuß auf US-amerikanischen Boden.

Über Umwege flüchtete er nach Japan, wo er 2004 festgenommen wurde. Fischer bemühte sich um Asyl, legte demonstrativ die amerikanische Staatsbürgerschaft ab und beantragte unter anderem die deutsche – vergeblich. Hilfe kam schließlich aus dem Land, in dem Fischer für den Anfang seiner eigenen Legende gesorgt hatte. Seine Freunde in Island ließen ihm an seinem 62. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk zukommen: die isländische Staatsbürgerschaft. Fischer durfte Japan verlassen, er flog mit seiner Lebensgefährtin nach Reykjavik, wo er bis zu seinem Tod im Januar 2008 zurückgezogen lebte. „Auch wenn er nur drei Jahre hier gelebt hat, war er ganz bestimmt der großartigste Schachspieler, den Island je hatte“, sagt Valur Gunnarson. „Und als solchen werden wir ihn bei aller Fehlbarkeit für immer in Erinnerung behalten.“

Die Unterschriften von Spasski und Fischer mögen vergänglich sein, in das Bewusstsein der stolzen Isländer haben sich die Bilder von damals eingebrannt.

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