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Kraftpaket. Am vergangenen Sonntag warf Johannes Vetter seinen Speer beim Meeting in Chorzow 97,76 Meter weit – den Weltrekord hält der Tscheche Jan Zelezny mit 98,48 Metern aus dem Jahr 1996. Beim Istaf in Berlin geht Vetter als Titelverteidiger an den Start.

© imago images/Hartmut Bösener

Johannes Vetter beim Leichtathletikmeeting Istaf: Sein Speer fliegt und fliegt und fliegt

Speerwerfer Johannes Vetter ist dicht dran am Weltrekord. Die Corona-Pandemie könnte ihm dabei sogar helfen.

Ein paar bewundernde Blicke ernten Malaika Mihambo und Johannes Vetter schon von den kleinen und den großen Plauzenträgern. Die beiden sind am Freitag an den Lützowplatz in Berlin-Mitte gekommen, um für das Leichtathletik-Meeting Istaf an diesem Sonntag zu werben. Die Weitspringerin Mihambo im bauchfreien Oberteil und der Speerwerfer Vetter in einem schwarzen T-Shirt, das viel verrät über seine enorme Brustmuskulatur.

Beide sind Vorzeigeathleten der deutschen Leichtathletik. Mihambo ist aktuelle Weltmeisterin, und Vetter warf am vergangenen Sonntag in Chorzow seinen Speer auf 97,76 Meter. Weiter kam in der Historie der Disziplin nur der Tscheche Jan Zelezny im Jahr 1996 mit 98,48 Metern. Wer sich die Bilder des Wettkampfes vom vergangenen Sonntag in Polen ansieht, der ist erleichtert darüber, dass nicht zeitgleich die Kugelstoßer im Ring standen. Der Speer von Johannes Vetter flog und flog und flog, ehe er sich bedrohlich nahe am Ende des Stadionrunds in den Rasen bohrte.

„Ein bisschen Platz ist aber schon noch“, sagt Vetter am Freitag. Genug Platz jedenfalls für die Einstellung des Weltrekords von Zelezny, und auch für die 100 Meter, die magische Marke, auf die jeder schielt. Aber so ein Wurf, wie er Vetter in Chorzow gelang, ist Fluch und Segen zugleich. Er ist eine Bestätigung für all die harte Trainingsarbeit. Doch er weckt zugleich hohe Erwartungen. „Ich versuche ja schon zu bremsen“, sagt Vetter. Es müsse schon viel zusammenkommen, damit der Speer so weit fliege wie in Chorzow. „Das ist im Grunde wie ein Sechser im Lotto.“

Die 3500 Zuschauer, die der Veranstaltung am Sonntag im Berliner Olympiastadion beiwohnen dürfen, müssten demnach großes Glück haben, sollte das Wurfgerät des 27-Jährigen nahe an die bisher mit dem neuen Speer unerreichte 100-Meter-Marke segeln. Zumal Vetter nach dem jüngsten Wettkampf am Dienstag in Dessau verlauten ließ, dass er mental kaputt sei. Außerdem ist die Anlaufbahn im Olympiastadion nicht perfekt. Das Nonplusultra für Speerwerfer ist ein extrem harter Boden aus vulkanisiertem Kautschuk. Im Olympiastadion ist ein anderes Material verbaut. Hinzu kommt, dass dort der Wind aus allen Ritzen weht. Alles in allem braucht es daher vielleicht mehr als einen Sechser im Lotto, um an diesem Ort einen Weltrekord aufzustellen. Aber darum geht Vetter bei seinem Saisonabschluss auch nicht. „Ich will Spaß haben“, sagt er.

„Speerwerfen ist viel Physik“

Vor ein paar Monaten war noch nicht zu erwarten, dass sich überhaupt jemand vom Deutschen Leichtathletik-Verband für sportliche Höchstleistungen motivieren könnte. Der Höhepunkt, Olympia in Tokio, war verschoben worden. Existenzielle Sorgen gingen damit für viele Sportler einher. In den vergangenen Wochen zeigte sich aber, dass einige Athleten die besonderen Bedingungen in diesem Jahr nutzten. Sie probierten Dinge aus, für die sie in einer normalen Olympia-Saison keine Zeit gehabt hätten.

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Auch Vetter dokterte in den zurückliegenden Monaten mit Bundestrainer Boris Obergföll an seinem Wurf herum. „Speerwerfen ist viel Physik“, sagt er. Es komme auf 1000 kleine Einzelteile an. Überall lässt sich ein bisschen was drehen, am Anlauf, am Stemmbein kurz vorm Abwurf, an den Abwurfwinkeln und, und, und. Was man dafür braucht, ist viel Zeit zum Tüfteln. Und davon hatten Obergföll und Vetter etwas mehr, als sie es sonst gewohnt sind. Überhaupt, sagt Vetter über sich, habe die Coronavirus-Pandemie keinen Einfluss auf seine Motivation für den Sport gehabt. Er habe zwei harte Jahre hinter sich, mit einem Schicksalsschlag in der Familie, erzählt er am Freitag. „Ich kenne widrige Umstände, aber ich bin ein Kämpfer bis zum Schluss.“

In dieser Leichtathletik-Saison muss Vetter nur noch einmal kämpfen, beim Istaf am Sonntag, dann ist sie beendet. Er kann es kaum erwarten. Zuletzt, nach seinem Wahnsinns-Wurf in Chorzow, habe er viele Anfragen und wenig Schlaf gehabt. „Ich tue es ja gerne, nicht nur für mich, sondern auch, weil ich Werbung für die Leichtathletik machen will“, sagt Vetter. Doch nun schreit sein Körper nach Erholung. Bevor er diese bekommt, muss Vetter noch einmal einen raushauen, wie es in der Leichtathletik heißt. Ob sein Körper aber noch die Energie aufbringen kann für über 90 oder gar über 95 Meter?

Die Auflösung gibt es am Sonntag. Johannes Vetter sagt: „Auch einem 86-Meter-Wurf kann ich etwas abgewinnen.“ Die Zuschauer im Olympiastadion könnten das bestimmt auch.

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