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DFB-Coach Joachim Löw

© imago/DeFodi

Jogi Löw und die DFB-Nationalmannschaft: Das sind die wichtigsten Baustellen der DFB-Elf

Aus der Tiefe der Krise: Neun Wochen nach dem WM-Aus präsentiert Bundestrainer Joachim Löw seine Analyse. Was muss er alles verändern?

Exakt 57 Tage (in Worten: siebenundfünfzig) waren am Freitag seit dem Aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der WM vergangen. 57 Tage, in denen sich Joachim Löw als verantwortlicher Bundestrainer weitgehend der Öffentlichkeit entzogen hat. Klar, Löw war ja mit der tiefgehenden Analyse des WM-Debakels beschäftigt. Es könnte also ein ziemlich voluminöses Werk geworden sein, das der Bundestrainer am Freitag dem Präsidium des Deutschen Fußball-Bundes als Ergebnis seiner Analyse präsentiert hat. Am heutigen Mittwoch soll nun auch die Öffentlichkeit informiert werden, bei einer Pressekonferenz des Bundestrainers in der Münchner Arena. Dass Löw sich dabei entschieden selbstkritisch geben wird, ist nach dem bisherigen Erkenntnisstand nicht zu erwarten, nachdem er zuletzt Mängel bei der Nachwuchsausbildung der Bundesligisten beanstandet hatte. Dabei hat es bei der WM auch genügend Anlass zur Kritik an seiner Arbeit gegeben – und damit Ansätze für Veränderungen. Wir stellen die wichtigsten vor.

DER STAB

Nach dem historischen Vorrundenaus der Nationalmannschaft ist oft und viel auf die unheilvolle Wirkung des WM-Quartiers im tristen Watutinki hingewiesen worden. Was dabei leicht vergessen wird: Die Suche nach der perfekten Unterkunft ist ein kniffliges Puzzle, bei dem viele Faktoren (Strandnähe, Wettersicherheit, Erreichbarkeit) berücksichtigt werden müssen. In Russland kam eine weitere Kategorie hinzu: die Größe. Dem deutschen Tross gehörten diesmal 135 Personen an. In Worten: einhundertfünfundreißig.

Unter diesen 135 Personen lassen sich mit Sicherheit zwei oder drei finden, die für den Neuaufbau nicht mehr benötigt werden. Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, der bei der nächsten WM 80 wäre, hat von sich aus aufgehört. Wenn man sich jetzt noch vom achten Physiotherapeuten trennt und vom vierten Pressesprecher – reicht das nicht.

Zum einen hat Joachim Löw vor lauter Delegieren auf dem Trainingsplatz ein bisschen den Überblick verloren, was für eine tiefgreifende Strukturreform in seinem Stab spricht. Zum anderen benötigt er dringend wieder ein sportliches Korrektiv, wie es Hans-Dieter Flick als sein Co-Trainer (2006 bis 2014) war. Flick ist nicht als begnadeter Entertainer aufgefallen, aber er war ein ausgewiesener Fußballfachmann. Ein unbequemer Konterpart für den Bundestrainer; jemand, den Löw erst argumentativ überzeugen musste, wenn er mal wieder eine besonders originelle Idee entwickelt hatte.

Flicks Nachfolger Marcus Sorg und Thomas Schneider sind das nicht. Vor allem Schneider ist es in immerhin vier Jahren nicht gelungen, sein Profil entscheidend zu schärfen. Er war für Löw vor allem: bequem. Daher ist es kein Zufall, dass bereits über eine Rückkehr Flicks spekuliert wird. Allerdings soll dessen Verhältnis zu DFB-Präsident Reinhard Grindel nicht frei von Verwerfungen gewesen sein.

DAS TRAINING

Die wichtigste Erkenntnis aus der WM in Russland? Ballbesitz ist tot. Schnelles Umschaltspiel ist jetzt das große Ding im Weltfußball. Heißt: Joachim Löw muss seine Mannschaft fortan nur auf Konterfußball polen – und schon wird alles gut. Wie so oft, werden solche Schlüsse der Komplexität des Fußballs nicht gerecht. Wenn die Gegner der Nationalmannschaft auch weiterhin ihren Strafraum verrammeln, wird das mit dem Kontern schwer. Die Nationalmannschaft wird auch künftig eher öfter den Ball haben als ihr Gegner, ganz egal, ob sie will oder nicht.

Der Ballbesitzfußball ist nicht per se das Problem. In England, Frankreich, Spanien und Deutschland sind auch in der vergangenen Saison ausgewiesene Ballbesitzmannschaften (Manchester City, Paris St. Germain, FC Barcelona und Bayern München) Meister geworden – jeweils mit riesigem Abstand. Das Problem der Nationalmannschaft in Russland war die mangelhafte Ausführung. Die Schlüsselqualifikation im modernen Fußball, egal in welchem System, ist Tempo – und daran hat es Löws Team bei der WM erkennbar gemangelt.

Zu Beginn seiner Amtszeit, als der deutsche Fußball noch nicht mit derart vielen herausragenden Individualisten gesegnet war, hat Löw das Defizit dadurch kompensiert, dass er mit seinem Team wie mit einer Vereinsmannschaft gearbeitet und trainiert hat. Davon ist er mehr und mehr abgekommen, weil es ihm nicht mehr notwendig erschien. Co-Trainer Schneider hat einmal erzählt, dass er zu Löw anfangs oft gesagt habe: „Das und das müssen wir doch mal trainieren. Da meinte er nur: ‚Müssen wir nicht. Es genügt, wenn wir es ansprechen – dann wird es umgesetzt.‘“ Genau diese Haltung ist der Mannschaft bei der WM zum Verhängnis geworden.

DIE AUSWAHLKRITERIEN

Wer als Bundestrainer arbeitet, bekommt die Besserwisser, die alles ganz anders gemacht hätten, gratis dazu. Vor allem bei seiner Personalauswahl hat es Löw nie allen recht machen können. Ihm ist immer schon eine zu große Anhänglichkeit an alte Weggefährten nachgesagt worden, zu viel Nachsicht mit früheren Helden, dazu eine Neigung, Konflikten aus dem Weg zu gehen (siehe Sandro Wagner).

Die Darbietungen in Russland müssten ihn nun eigentlich zu einer Abkehr von seinen bisherigen Prinzipien bewegen. Löw hat bei der WM – angefangen mit Torhüter Manuel Neuer, der acht Monate kein Spiel bestritten hatte – das Leistungsprinzip zu wenig berücksichtigt. Die aktuelle Form eines Kandidaten sollte vom Bundestrainer nicht gänzlich ignoriert werden. In Russland jedenfalls standen zu oft zu viele Spieler auf dem Platz, die nicht fit und/oder nicht in Form waren.

DAS PERSONAL

Zwei WM-Teilnehmer haben nach der WM Fakten geschaffen. Mesut Özil und Mario Gomez haben ihre Karriere in der Nationalmannschaft für beendet erklärt. Im Fall des Stuttgarters Gomez, 33 inzwischen, wird sich das Bedauern des Bundestrainers in Grenzen halten. Bei Mesut Özil, der immer zu Löws erklärten Lieblingsspielern gehört hat, dürfte das etwas anders sein. Allerdings hat sich Löw in dieser Angelegenheit bis heute nicht geäußert.

Sami Khedira, 31, hat das Vakuum durch die Absenz des Bundestrainers dazu genutzt, mal schnell seine Bereitschaft zum Weitermachen zu erklären. Das ist vermutlich nicht die Botschaft, die das Publikum vernehmen wollte, weil es im Volk einen durchaus verständlichen Wunsch nach Veränderungen gibt, auch personeller Art. Diesem Wunsch wird Löw Rechnung tragen müssen. Mit Manuel Neuer, Mats Hummels, Toni Kroos und vermutlich auch Thomas Müller werden die Weltmeister von 2014 auch weiterhin prominent und ausreichen vertreten sein. Darüber hinaus aber bietet der deutsche Fußball immer noch genügend qualifiziertes Personal, das nicht nur deutlich jünger ist, sondern auch eine echte Chance in der Nationalmannschaft verdient hat. Dass Leroy Sané im Länderspiel gegen Frankreich in der kommenden Woche zurückkehrt, darf als sicher gelten; auch Serge Gnabry könnte ein Gewinner der WM sein, weil er ebenfalls nicht in Russland dabei war. Und dass Kai Havertz (19, Bayer Leverkusen), der wohl beste deutsche Fußballer unter 20, bald Nationalspieler wird, wäre alles andere als eine Überraschung.

DIE HALTUNG

Als ehemaliger Politiker weiß Reinhard Grindel, dass man dem Volk auch mal nach dem Mund reden muss. Am vergangenen Wochenende hat der DFB-Präsident in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ das Label „Die Mannschaft“ zur Disposition gestellt. „Die Mannschaft“ als Marke stand vielen für all das, was im deutschen Fußball schief läuft – für das Primat der Vermarktung vor dem Sport. Und eine Haltung, an der das Team in Russland gekrankt hat: Wir sind die Besten, und uns kann keiner was.

Als Oliver Bierhoff, Jürgen Klinsmann und Joachim Löw 2004 beim DFB angefangen haben, mussten sie das Land erst wieder mit der Nationalmannschaft versöhnen. An annähernd diesem Punkt ist der DFB auch jetzt wieder. „Es muss uns wieder gelingen, dass man unseren Spielern die Freude, den Spaß, die Leidenschaft, für Deutschland zu spielen, anmerkt – auf und neben dem Platz“, sagt Löw.

In Russland vermittelte kaum jemand diesen Eindruck. Der Kontakt zur Basis ist nicht mehr vorhanden. Die Mannschaft verbarrikadiert sich, dem Trainer mangelt es in der Krise am Gespür für die Situation, die Spieler lassen ihre bevorzugten Coiffeure einfliegen, sie zocken lieber bis in die Nacht und sorgen sich eher um ihr Image in den sozialen Medien als um die richtige Schusshaltung.

Diese Haltung wieder aufzubrechen, das Gemeinschaftsgefühl neu zu beleben – das wird für den Neustart von Joachim Löw als Bundestrainer vermutlich viel entscheidender sein als die Frage, ob künftig Jonas Hector linker Außenverteidiger spielt, Marvin Plattenhardt oder doch Philipp Max.

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