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Vorbeigezogen. Nach den Olympischen Spielen ist vor den Paralympics.

© dpa

Japan und die Paralympics: Bei den Menschen herrscht Frust

In Japan wurden Olympia und die Paralympics nach Fukushima als Wiederaufbauspiele verkauft. Davon merken die Menschen wenig.

Wer Vorfreude schürt, der geht ein Risiko ein. Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), fand vor allem überschwängliche Worte für die anstehenden Sommerspiele in Tokio. 2019, noch vor dem Beginn der Coronavirus-Pandemie, sagte er: „Worauf ich mich am meisten freue, ist die Wirkung, die die Paralympischen Spiele in Tokio 2020 auf die Gesellschaft haben werden.“ Sie würden Menschen mit Behinderung ermutigen; würden die politisch Verantwortlichen dazu bewegen, sich für Inklusion einzusetzen; würden den Wandel in Japan hin zu einer barrierearmen Gesellschaft weiter antreiben. Im Frühjahr diesen Jahres legte Parsons nach: Die Spiele in Tokio seien „die wichtigsten in der Geschichte des IPC“. Klar, der Präsident des Komitees rührt die Werbetrommel, das ist sein Job. Aber was ist dran an seinen Worten: Können die Spiele den enormen Erwartungen überhaupt gerecht werden? Unter welchem Stern stehen die Paralympics in Japan? Und: Was machen die Spiele mit dem Inselstaat?

Wer im Sommer 2021 Antworten auf diese Fragen sucht, der stößt unweigerlich auf zwei Probleme. Erstens: Alle Welt redet nur über die Olympischen Spiele – die Paralympics tauchen höchstens in Nebensätzen auf. Zweitens: Stimmungen in Japan, einer freiheitlichen, doch sehr geschlossenen Gesellschaft, zu erfassen, ist von außen schwer. Die Pandemie macht es nicht einfacher. Nur mittels Menschen vor Ort in Tokio und Japan-Expertinnen und -Experten gelingt etwas, das leichter klingt, als es ist: eine Annäherung an die Paralympischen Spiele in Tokio.

Einer, für den es bei den Olympischen Spielen und den Paralympics um vieles geht, ist Yoshihide Suga, seines Zeichens japanischer Premierminister. Der Regierungschef hatte die Amtsgeschäfte erst im vergangenen Jahr übernommen, nachdem sein Vorgänger und großer Verfechter der Spiele, Shinzo Abe, zurückgetreten war. Jetzt, kurz vor den Parlamentswahlen in Japan im kommenden Herbst, steht Suga vor der Mammutaufgabe, bei den Mega-Events für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen – inmitten einer Pandemie, konfrontiert mit Korruptionsvorwürfen und gegen die Proteste aus der eigenen Bevölkerung. Wie heikel die kommenden Wahlen für Suga werden könnten, wurde bereits im Juli bei den Regionalwahlen in Tokio deutlich, bei denen seine Liberaldemokratische Partei zwar stärkste Kraft wurde, aber dennoch das historisch zweitschlechteste Ergebnis einfuhr. Das Verhältnis zwischen Regierung und Gesellschaft ist kurz vor den Spielen unterkühlt.

Die Spiele kosten Geld, das anderswo im Land fehlt

Dabei hatte den Spielen eigentlich eine historische, ja identitätsstiftende Rolle zukommen sollen, ähnlich wie es 1964 bereits einmal der Fall war. Damals fanden in Tokio die Spiele der Nichtbehinderten und die der Behinderten zum ersten Mal leicht zeitversetzt an einem Ort statt und wurden zum Erfolg. Kein Wunder, dass Shinzo Abe, der Großneffe des seinerzeit während der Spiele gewählten Premierministers und späteren Friedensnobelpreisträgers Eisaku Sato, die Spiele zu seinem Prestigeprojekt machte. Nach der Vergabe an die japanische Hauptstadt etablierte sich bald der Begriff der „Wiederaufbauspiele“.

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Im Kontext des internationalen Schocks rund um das Erdbeben, den Tsunami und die Reaktorkatastrophe in Fukushima waren große Hoffnungen damit verbunden, die Welt zu Gast zu haben. Japans Wirtschaft sollte wachsen, Tokio wieder das politische Zentrum Ostasiens werden, so, wie es nach 1964 ausgesehen hatte. Aus heutiger Perspektive zeichnet sich jedoch ab: So richtig funktionieren wird das nicht. Die angesetzten Gesamtkosten für die Spiele, ursprünglich 7,3 Milliarden US-Dollar, haben sich seit Start der Planungen mindestens verdoppelt, eine Budgetkommission warnte sogar vor einer Vervierfachung. Geld, das anderswo im Land fehlt.

Die Leipziger Japanologin Steffi Richter sieht anstelle von Wiederaufbauspielen daher eher „Umbauspiele, würde ich mal sagen. Es gibt in Japan einen Gap zwischen dem Großraum Tokio mit seinen knapp 30 Millionen Einwohnern und anderen Regionen, die abgehängt werden, wo Infrastruktur verfällt. Das sind Probleme, die durch die Spiele nicht gelöst werden, wodurch also auch kein Wiederaufbau stattfindet, schon gar nicht – wie großartig verkündet – in der Katastrophenregion von 2011.“

Unvergessen bleibt der Mord an 19 Menschen mit Behinderung

Ähnliches berichtet Kathrin Erdmann aus Japan. Die Korrespondentin im ARD-Studio Tokio beobachtet die Entwicklung der Spiele und die Reaktionen der Bevölkerung schon lange. „Der Tenor der Leute war tatsächlich: Die Vergabe der Spiele war sogar negativ für uns. Die ganzen Bauarbeiten sind hier nicht vorangekommen, weil die großen Firmen in Tokio gebraucht wurden. Es gab an vielen Stellen die Wahrnehmung, dass man vergessen worden ist.“ Das galt in Japan lange Zeit auch für Menschen mit Behinderung. In einer nach Konformität strebenden Gesellschaft wurden diese lange unsichtbar gehalten – im Kopf blieben vor allem negative Schlagzeilen: 2018 manipulierte die Regierung Angaben zu Beamtinnen und Beamten mit Behinderung, um eine gesetzliche Quote auszuhebeln. Unvergessen bleibt auch der Mord an 19 Menschen in einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung in Sagamihara 2016.

Immerhin: Seit klar ist, dass die Paralympics in Tokio stattfinden, wird vermehrt über Para-Sport und Menschen mit Behinderung in den Medien berichtet – etwa im öffentlich-rechtlichen Sender NHK. Der vielleicht bekannteste Para-Athlet des Landes, der Rollstuhl-Tennisspieler Shingo Kunieda, schafft es mit seinen Erfolgen häufig in die Nachrichten. Auch die Bronzemedaille des japanischen Rollstuhlrugby-Teams bei den vergangenen Paralympics vor fünf Jahren in Rio de Janeiro wurde groß gefeiert. Und: Das olympische Feuer wurde bei seiner Ankunft auch von einer Frau im Rollstuhl empfangen – ein Zeichen, dass mittlerweile doch ein Stück öffentliches Bewusstsein geschaffen wurde, findet Japanologin Richter. „Aber die Realisierung einer gleichberechtigten Teilhabe von behinderten Menschen, und damit einhergehend auch einer sozialen und ökonomischen Gleichstellung – davon ist die japanische Gesellschaft mindestens so weit weg, wie sie es bei uns auch ist.“

In Fukushima ist die Situation noch nicht unter Kontrolle

Die Olympischen Spiele und die Paralympics stehen politisch unter einem schwierigen Stern. Die Spiele sollten Japan zusammenschweißen – fragwürdige Prioritäten, strukturelle Gefälle und ausbleibende Maßnahmen zu deren Behebung haben Regierung und Gesellschaft aber eher noch weiter voneinander entfernt. Dass die Regierung trotz der Corona-Pandemie an dem internationalen Aufeinandertreffen festhielt, sorgte – angesichts des eh schon negativ bewerteten Corona-Managements – in der japanischen Bevölkerung für Unmut und zog öffentlichen Protest nach sich.

Das Motto der Spiele „Moving forward“ sollte ursprünglich einen Aufbruch symbolisieren, im Moment sieht es aber eher danach aus, als ob sie für Regierungschef Suga zu einem Abstellgleis werden könnten. Vor allem hat die Erzählung von den „Wiederaufbauspielen“ Vertrauen zerstört. 2013, in der Bewerbungspräsentation von Tokio vor dem Internationalen Olympischen Komitee, hatte Abe behauptet, die Situation in Fukushima nach der Nuklearkatastrophe zwei Jahre zuvor sei „under control“ – unter Kontrolle. Diese Aussage ist bis heute unwahr. So sagen es Forscherinnen und Forscher. So sagen es Bewohnerinnen und Bewohner in Fukushima, die auf materielle Hilfe warten. So sieht es auch Jun’ichiro Koizumi, ein Amtsvorgänger von Abe. „The situation is under control“ – bis heute wird dieser Satz „Abe-Lüge“ genannt.

Abe selbst hat sich aus dem politischen Tagesgeschehen zurückgezogen. Unter Kontrolle ist bei den verschobenen Spielen in diesem Jahr kaum etwas, auch nicht unter Abes Nachfolger Suga. Nicht die Lage im Land, nicht die Situation der Japanerinnen und Japaner, nicht die Coronavirus-Pandemie. Wie das die Bevölkerung bewertet, werden die Ergebnisse der im Herbst anstehenden Unterhauswahlen zeigen. Vielen Menschen vor Ort, so erzählt es ein Gesprächspartner aus Japan, bleibt bis dahin nur eins: Frust.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Max Fluder, Lennart Glaser

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