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Löws Vermächtnis. Dass der Coach dem DFB noch erhalten bleibt, liegt auch an Musiala.

© imago images/Matthias Koch

Jamal Musiala trifft auf seine zweite Heimat: Sie nennen ihn Bambi

Was der 18-jährige Jamal Musiala vom FC Bayern München macht, kann man nicht lernen. Dass er für Deutschland spielt, ist vor allem Joachim Löw zu verdanken.

Jamal Musiala ist ein Experte für komplizierte Fälle. Wenn es knirscht und hakt, kommt er ins Spiel. Ihm bereiten solche Situationen keine Probleme. Im Gegenteil. Er folgt einfach seiner Intuition. Nur manchmal funktioniert das leider nicht.

Mitte Mai war das so, als Musiala mit dem FC Bayern München kurz vor dem Saisonende im  obligatorischen Quarantäne-Trainingslager weilte. Sein Trainer Hansi Flick nahm ihn zur Seite, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen, dass er tatsächlich im Kader der deutschen Fußball-Nationalmannschaft für die Europameisterschaft stehen würde. Und Musiala? War mit dieser Situation komplett überfordert. „Ich wusste auch nicht genau, was ich zu fühlen hatte – weil es so groß ist“, hat er vor kurzem erzählt. „Seit der Kindheit träumt man von so einer Chance.“

Die Kindheit liegt bei Jamal Musiala noch nicht allzu lange zurück. Erst im Februar ist er volljährig geworden. Bambi nennen sie ihn, bei den Bayern genauso wie in der Nationalmannschaft. „Er ist einfach ein lieber süßer Kerl“, sagt sein Teamkollege Serge Gnabry. Aber der Spitzname spielt nicht nur auf sein jugendliches Alter an, sondern auch auf seine Fähigkeiten als Fußballer. „Man kann da einen Zusammenhang mit seinen Bewegungen erkennen, die ja sehr flüssig sind“, sagt Gnabry. „Er kommt immer an seinen Gegenspielern vorbei.“ Jamal Musiala mit legalen Mitteln auf dem Fußballplatz zu stoppen, ist ungefähr so leicht, wie ein Rehkitz mit bloßen Händen zu fangen.

Großer Moment gegen Ungarn

„Er ist ein Riesenfußballer. Er hat diese besondere Leichtigkeit und kann uns in Situationen helfen, wo wir ein bisschen Druck ausüben müssen“, hat Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, schon zu Beginn der EM-Vorbereitung gesagt. Und der Moment, in dem Musiala dem Team helfen musste, kam schneller als erhofft.

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Am vergangenen Mittwoch, im letzten Vorrundenspiel gegen Ungarn, wurde er wenige Minuten vor Schluss eingewechselt. Den Deutschen drohte zu diesem Zeitpunkt eine Niederlage gegen den krassen Außenseiter und damit das vorzeitige EM-Aus. Dass es nicht dazu kam, lag in erster Linie an Leon Goretzka und seinem Tor zum 2:2-Endstand. Es lag aber mindestens in zweiter Linie an Jamal Musiala, der diesen Treffer von der linken Seite in Auftrag gab. Der Teenager zog drei Ungarn auf sich, ließ sie mit einem abrupten Richtungswechsel ins Leere tapsen und spielte dann einen überlegten Pass in den Rückraum zu Goretzka.

„Seine Qualitäten sind echt außergewöhnlich“, sagt Serge Gnabry. Selbst wenn man sich Musialas Dribbling vor Goretzkas Tor wieder und wieder anschaut, fällt es schwer, seine Bewegungen wirklich zu greifen. Was Musiala macht, kann man nicht lernen. Seine Klasse erschließt sich hingegen auf den ersten Blick. „Er macht viele Dinge, die gut sind, die sehr gut sind“, sagt Bundestrainer Joachim Löw, der den Münchner gegen Ungarn erstmals in den Spieltagskader aufnahm, nachdem er bei den beiden Spielen zuvor auf der Tribüne saß.

Irgendwann in den nächsten Tagen wird Löws Zeit als Bundestrainer endgültig vorbei sein. Aber dass er dem deutschen Fußball noch ein bisschen erhalten bleibt, das liegt vor allem an Jamal Musiala. Er ist sozusagen Löws letztes Vermächtnis. „Ich bin komplett überzeugt von ihm. Seine Zeit wird kommen, egal wann“, sagt Serge Gnabry über seinen Mitspieler. „Er kann einer Mannschaft extrem weiterhelfen: mit seinen Dribblings, mit seiner Motivation, immer anzugreifen, das Eins-zu-eins zu suchen.“ Es gibt bereits Stimmen, die sich für Musialas Startelfeinsatz am Dienstag im EM-Achtelfinale gegen England aussprechen. Die von Deutschlands Rekordnationalspieler Lothar Matthäus zum Beispiel.

Im November spielte Musiala noch auf der Gegenseite

Theoretisch hätte es auch ganz anders laufen können: Dann stünde Musiala am Dienstag im Wembleystadion nicht für das deutsche Team auf dem Platz, sondern für die Gegenseite. Noch im November ist der Bayern-Profi für die englische U-21-Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation gegen Andorra aufgelaufen. Dass er nun für Deutschland spielt, ist vor allem dem heldenhaften Einsatz von Joachim Löw zu verdanken, der Musiala im Januar für die Nationalmannschaft gewonnen hat. Und spätestens seit dessen Einwechslung in der WM-Qualifikation gegen Island gibt es kein Zurück mehr.

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Musiala ist in Stuttgart geboren, als Sohn einer Deutschen und eines Nigerianers. Fußballerisch sozialisiert aber wurde er in England. Als er sieben war, ging seine Mutter zum Studium nach Southampton. Die Familie kam mit. Musiala ist im Nachwuchs des FC Chelsea ausgebildet worden, er hat fast ausschließlich für die englischen U-Nationalteams gespielt. Nur in der U 16 ist er zweimal für Deutschland zum Einsatz gekommen. Angeblich hat es ihm da nicht besonders gut gefallen.

Seit Februar 2018 besitzt Jamal Musiala neben der deutschen auch die englische Staatsbürgerschaft. Das Achtelfinale am Dienstag bezeichnet er als ein Spiel „gegen meine zweite Heimat“; mit einigen der englischen Spieler, dem Dortmunder Jude Bellingham zum Beispiel, ist Musiala sogar befreundet. „Es wird ein cooles Spiel“, sagt er.

Wenn Jamal Musiala spricht, hört man seinen starken britischen Akzent. Manchmal übersetzt er die Sätze vom Englischen direkt ins Deutsche, und gelegentlich fließen englische Begriffe in seine Rede. Erst vor zwei Jahren ist die Familie aus Großbritannien nach Deutschland zurückgekehrt. Dafür waren vor allem private Gründen ausschlaggebend. Aber auch der Brexit, die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen.

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