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Sport: Ich habe einen Filmriss*

Mein WM-Moment (1) Ein Elfmeterschütze war nicht abgesprochen, deshalb schnappte sich Paul Breitner einfach den Ball. Seinen Strafstoß zum 1:1 gegen die Niederlande im Finale 1974 erlebte er wie in Trance

Der Elfmeter im WM-Finale 1974, das Tor zum 1:1 gegen Holland, hat in ganz erheblichem Maß mein Leben und auch das Leben meiner Familie beeinflusst. Ohne dieses Tor wären wir nicht Weltmeister geworden, und ohne dieses Tor hätte Real Madrid mich 1974 vermutlich nicht verpflichtet. Dieses Tor hat meiner Karriere also einen gewissen Drive gegeben. Das Paradoxe ist: An den Moment selbst habe ich keine eigene Erinnerung mehr. Was damals passiert ist, kann ich nur nachvollziehen durch das, was ich später im Fernsehen gesehen habe. Ich habe einen Filmriss.

Mir fehlen aus dem Finale in München zwei Minuten: vom Pfiff des Schiedsrichters bis zu dem Moment, in dem das Spiel nach dem 1:1 mit dem Anstoß für die Holländer weiterging. Ich kann mir das nur so erklären: Ich war so konzentriert, dass es um mich nichts gab. In solchen Augenblicken darfst du nicht überlegen, was du tust, sonst läufst du an und fällst vor lauter Angst über deine eigenen Beine. Wenn man sich den Elfmeter von Johan Neeskens zum 1:0 für die Holländer einmal genau anschaut, sieht man, was ich meine. Neeskens hat mit dem Fuß in den Boden gehauen, weil er auf den Elfmeter nach nur einer Spielminute gar nicht vorbereitet war. Bei mir war es anders. Ich war wie in Trance, die Ausführung des Elfmeters war wie eine unbewusste Handlung.

Es heißt immer, dass eigentlich Gerd Müller als Schütze eingeteilt war, aber das stimmt nicht. Es war niemand eingeteilt, das ist ja das Schlimme. Vor jedem Spiel hat Bundestrainer Helmut Schön uns Spieler gefragt: „Wer schießt?“ Aber keiner wollte so richtig. Ich hatte sogar das Gefühl, dass einige bei uns gedacht haben: Hoffentlich kriegen wir erst gar keinen Elfmeter. So ein Schmarrn! Ich hätte am liebsten in jedem Spiel fünf Strafstöße bekommen – weil ich gewinnen wollte.

Das Ganze hatte eine Vorgeschichte: Gerd Müller hatte im Frühjahr zwei oder drei Elfmeter für den FC Bayern München verschossen. Danach hat er gesagt: „Ich schieße nie mehr in meinem Leben Elfmeter.“ Insgeheim haben wohl alle gehofft, dass der Gerd sich den Ball schon nehmen würde, wenn es drauf ankommt. Später hat er einmal gesagt, ich hätte nach dem Foul der Holländer an Bernd Hölzenbein so stechend böse geguckt, dass überhaupt kein Zweifel bestehen konnte, wer jetzt schießt. Böse war ich nicht, aber ich hatte einen unglaublichen Frust, weil wir immer wieder darüber diskutiert hatten, wer die Elfmeter schießen sollte, aber nie zu einer Lösung gekommen sind. Wenn keiner will, mach ich es eben selbst. Ich bin raus zur Eckfahne, hab’ mir den Ball genommen und bin sofort zielgerichtet zum Elfmeterpunkt gegangen. Wolfgang Overath hat mir später einmal erzählt, dass er auf mich zukam und mich gefragt hat: „Paul, willst du jetzt schießen?“ Darauf muss ich dann wohl gesagt haben: „Schleich dich, ich hau den jetzt rein!“

Aber das kann ich, wie gesagt, nur aus dem rekonstruieren, was ich später im Fernsehen gesehen habe. Das war am nächsten Morgen. Gegen acht Uhr war ich mit meiner Frau von den diversen Titelfeierlichkeiten nach Hause gekommen. Um auszunüchtern, hatte ich mich auf die Couch gelegt und den Fernseher eingeschaltet. Im österreichischen Fernsehen wurde das Finale um zehn Uhr noch einmal wiederholt. Plötzlich sehe ich, wie ich aus dem Bild rausgehe, kurz darauf von links wieder auftauche und Richtung Elfmeterpunkt gehe. Ich war fix und fertig, innerhalb von Sekunden war ich nass geschwitzt, und mir wurde schlecht. „Das ist ja ein Wahnsinn“, habe ich zu meiner Frau gesagt. Eine Stunde lang saß ich da und habe intensiv über den Irrsinn nachgedacht, den ich da veranstaltet hatte – und was hätte passieren können, wenn ich nicht getroffen hätte.

Ich war 1974 beim WM-Finale nicht einmal 23 Jahre alt; dass ich den Elfmeter trotzdem geschossen habe, zeigt mir, dass ich damals schon so erwachsen war, wie ich es heute bin. Für mich war das eine ganz logische Sache, der Ausdruck meiner Stärke, meiner Sicherheit und meines Selbstbewusstseins. Ich hatte eine klasse WM gespielt, beim Auftakt gegen Chile und gegen Jugoslawien in der Zwischenrunde zwei wichtige und schöne Tore erzielt. Man sollte Verantwortung übernehmen, wenn man zur Verantwortung fähig ist. Aber ich war nicht darauf aus, im Finale der große Held zu werden. Wer das in einer solchen Situation will, der wird am Ende nur der große Verlierer sein.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns. Nächste Folge: Didier Six über das Halbfinale 1982.

* WM 1974, Paul Breitner

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