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Hoffen und Bangen: HSV-Fans Fußball

© picture alliance /dpa/Axel Heimken

Hamburger SV: Wenn nicht einmal mehr höhere Mächte helfen können

Der HSV war einst eine Weltmacht. Davon ist nicht mehr viel übrig. Beim Spiel gegen Wolfsburg droht die dritte Relegation. In der Stadt hat man sich daran gewöhnt.

„Relegation ist scheiße“, sagt Lotto King Karl. „Aber immer noch besser als Abstieg.“

Lotto King Karl ist als Musiker und Stadionsprecher beim Hamburger SV eine lokale Größe. Geboren ist er als Gerrit Heesemann, aber das ist 50 Jahre her, fast so lange, wie der HSV schon in der Bundesliga spielt. Auf einem Kran vor der Nordtribüne des Volksparkstadions spielt er vor jedem Heimspiel seine Hymne „Hamburg meine Perle“ und rührt damit auch die ganz harten Jungs.

Markus Gisdol ist eher ein Kopfmensch und formuliert seine Befindlichkeit ein wenig feuilletonistischer. „Wir haben uns mit Bescheidenheit, Demut und Dankbarkeit aus einer aussichtlosen Situation befreit“, spricht der Hamburger Trainer. „Und eigentlich ist Fußball doch ein tolles Spiel, auf das sich jeder freuen sollte“, auch oder gerade weil die Zukunft auf dem Spiel steht.

Ist alles nicht ganz einfach in diesen Tagen in Hamburg. Der HSV, einziges noch ununterbrochen verbliebenes Gründungsmitglied der Bundesliga, hat mal wieder Angst, nach unten durchgereicht zu werden. Zum Saisonfinale am Samstag muss ein Sieg gegen den VfL Wolfsburg her, sonst erfährt die Hamburger Saison eine unfreiwillige Verlängerung. Für den HSV ist es das Spiel der Saison, aber auch für die Wolfsburger, denn wenn sie verlieren sollten, geht es für sie in die ungeliebte Relegation gegen den Dritten der Zweiten Liga. Den Hamburgern hilft nur noch ein Sieg, aber sie wähnen sich im psychologischen Vorteil, denn eigentlich war vor einer Woche schon alles vorbei. Ganz spät hat der HSV noch einmal den Fuß aus dem Abgrund gezogen, was er selbst als verdienten Lohn harter Arbeit bezeichnet und die Konkurrenz als unverschämtes Glück.

Gibt es eine höhere Macht, die den HSV in der Erste Liga hält? Na klar, sagt Lotto King Karl, den sie beim HSV und überall sonst in Hamburg der Einfachheit Lotto nennen. „Unsere höhere Macht ist Pml10maschine-seine- mudda-ihr-sohn!“

Pml ist das Kürzel von Pierre Michel Lasogga, er trägt beim HSV die Nummer 10, seine Mutter Kerstin vermarktet ihn via Twitter gern unter dem Hashtag „Pml10maschine“. Da die gute Frau nicht nur Mutter, sondern auch Managerin ist, also mit nicht ganz unbedeutendem Einfluss gesegnet, trägt die Hamburger Hoffnung bei Lotto und seiner Band diesen etwas sperrigen Namen.

Lasogga hat den HSV vor drei Jahren mit einem Tor in Fürth schon einmal vor dem Abstieg bewahrt und am vergangenen Samstag vor der vorzeitigen Qualifikation für die Relegation. Es lief schon die Nachspielzeit beim letzten Auswärtsspiel auf Schalke. Der HSV lag 0:1 zurück, was gleichbedeutend war mit dem unweigerlichen Verweilen auf dem Relegationsplatz 16. Aber dann kam Pml10maschine-seine-mudda-ihr-sohn. Kaum beachtet in dieser Spielzeit und dann doch kurz vor Schluss eingewechselt. Der Ball sprang wie eine Flipperkugel durch den Schalker Strafraum und vor die Füße von Lasogga, der ihn sich mit dem rechten an den linken Fuß schoss und irgendwie ins Tor. 1:1, die Hoffnung lebt. Wieder mal.

Lotto King Karl hat das dramatische Finale im Hamburger Stadtpark erlebt, nicht zu verwechseln mit dem Volkspark, wo der HSV im vielleicht schönsten Stadion der Bundesliga seine Heimspiele ausrichtet. Mit seinen Barmbek Dream Boys durfte er am vergangenen Samstag die Freiluft-Konzertsaison eröffnen, und nach dem Soundcheck saßen sie alle backstage vor dem Fernseher. Als dann Lasogga kam, hat er gewusst: „Da geht noch was.“ Als dann wirklich noch was ging, hüpften sie wie wild um ihre Instrumente. „Die letzten fünf Minuten waren unsere“, hat Lotto später ins Publikum gebrüllt. „Nächstes Wochenende machen wir Wolfsburg fertig, das schwöre ich euch.“ Wenn es nach ihm geht, hätte Lasogga im Relegations-Verhinderungs-Gipfel gegen Wolfsburg gern erst mal auf der Bank sitzen dürfen. Aber dann, zack!, „kommt er rein, um kurz vor Schluss das entscheidende Tor zu schießen“, und das wäre doch ein schönes Ende einer nicht ganz so schönen Saison.

Pml10maschine fällt aus. Wer soll den HSV jetzt gegen Wolfsburg noch retten?

Da hat Lotto noch nicht gewusst, dass die Maschine nicht ganz rund läuft. Am Mittwoch, das Training war schon fast vorbei, griff sich Lasogga an den Oberschenkel und humpelte vom Platz. „Die Adduktoren“, knurrte er. Am Tag darauf hatte der HSV Gewissheit. „Pierre fällt für das Spiel aus“, sagte Trainer Gisdol.

Was soll nun werden ohne höhere Macht? Lotto King Karl hat die unheilvolle Botschaft fern der Heimat vernommen. Der Stadionsprecher ist auf Tour. Montag Frankfurt, Dienstag Düsseldorf, Mittwoch Dortmund, alles Fußballstädte, aber ohne die Sorgen, wie sie den HSV gerade plagen. Hamburg leidet Qualen, die doch längst überwunden sein sollten. Nach den zwei gerade noch so in der Relegation verhinderten Abstiegen 2014 und 2015.

Was ist nur geworden aus diesem Klub, der vor noch nicht ganz so langer Zeit eine Macht in Deutschland war und davor sogar eine Weltmacht. Als Franz Beckenbauer 1980 aus dem New Yorker Exil nach Deutschland zurückkehrte, ging er nicht zu Bayern München, sondern nach Hamburg. In „Hamburg meine Perle“ singt Lotto King Karl von Juve, Turin und Athen, gar nicht so versteckte Anspielungen auf den 25. Mai 1983, als der HSV im Finale von Athen gegen Juventus Turin den Europapokal der Landesmeister gewann, den Vorläufer der Champions League. Nach Athen oder Turin fahren die Hamburger Fans seit ein paar Jahren nur noch im Urlaub.

Sänger und HSV-Stadionsprecher: Lotto King Karl
Sänger und HSV-Stadionsprecher: Lotto King Karl

© dpa

Ganz weit vorn ist der Hamburger SV nur noch beim Geldausgeben. Es ist das Geld des milliardenschweren Unternehmers Klaus Michael Kühne, ohne den der Klub längst in die Zweitklassigkeit hinabgetaucht wäre. Jahr für Jahr pumpt der Mann Millionen in den HSV, erst in der Winterpause hat er zwei neue Innenverteidiger aus der Bundesliga und einen brasilianischen Mittelfeldspieler spendiert. Dass sich das nicht ganz mit der im Fall Leipzig-Hoffenheim-Wolfsburg gern monierten Wettbewerbsverzerrung verträgt, wird in Hamburg generös übersehen.

Jetzt also Wolfsburg. Eine letzte, allerletzte Chance. Was würde Hamburg im Falle eines Abstiegs fehlen? „Na, zuerst mal die Bundesliga“, sagt Lotto, darüberhinaus hält er nicht viel von interdisziplinären Vergleichen. Fußball ist Fußball und doch nur Fußball, die Elb-Philharmonie ist auch ohne Zutun des HSV fertig geworden.

Zum Erkunden der Hamburger Fußballseele empfiehlt Lotto King Karl den Sportpub Tankstelle, das Hauptquartier der mächtigen HSV-Supporters. Eine Kneipe mitten auf dem Kiez, gar nicht so weit vom Einzugsgebiet des Ortsrivalen FC St. Pauli entfernt. Der Weg dorthin führt vom Hauptbahnhof über die Hotspots des mondänen Hamburg, über den Jungfernstieg, entlang der Alster, vorbei am Rathaus, an der Kunsthalle und dem Michel Richtung Hafen. Es gibt ein paar Transparente gegen den G-20-Gipfel im Juli und allerlei Plakate für das Konzert der Rolling Stones im September. Keine HSV-Fahne, nirgends. Hamburg nimmt die Krise seines Fußballvereins hanseatisch kühl zur Kenntnis, aber es laufen ja auch keine Bataillone in blau-weiß-gestreiften Hemden über Kudamm, nur weil sich Hertha BSC am Samstag für den Europapokal qualifizieren kann.

Der Sportpub Tankstelle wird flankiert von geschäftstüchtigen jungen Damen, die nicht nur wegen des schönen Frühlingswetters sehr luftig gekleidet sind. Drinnen vertreiben sich zwei, drei ihrer Beschützer die Zeit und eine Handvoll Kneipengänger. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, von dem sie hier alle hoffen, dass es ein Jubelsturm wird. Auf den Fernsehschirmen läuft Sheffield Wednesday gegen Huddersfield Town, es geht um den Aufstieg in die Premier League. Parallel dazu wären auch Real Madrid, Manchester United und das italienische Pokalfinale im Angebot, aber das passt irgendwie nicht zur aktuellen Situation. Kaum einer der wenigen Gäste schaut zu. „Gib mal die Bild-Zeitung her“, ruft einer über den Tresen. Er studiert die dem HSV gewidmete Seite und legt sie nach ein paar Minuten zur Seite, „stehen ja nur alte Kamellen drin“. Noch ein Bier, wird schon werden am Samstag gegen Wolfsburg, auch ohne eine höhere Macht namens Pml10maschine-seine- mudda-ihr-sohn.

Später in der Nacht kommt Lotto King Karl vom Konzert in Dortmund zurück nach Hamburg. Ehrensache, „ich bin doch der Stadionsprecher!“, zur Not hätte er wohl auch den Tourplan kurzfristig umgestellt, und selbstverständlich steht er auch für eine mögliche Verlängerung der Saison gegen Brauschweig zur Verfügung.

Relegation ist scheiße, aber immer noch besser als Abstieg. 

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