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Senegals Trainer Aliou Cissé.

© Alexander Nemnow/AFPAliou Cissé

Fußball-WM 2018: Senegal will zurück in die Weltspitze

Als einzige afrikanische Mannschaft konnte Senegal sein Auftaktspiel gewinnen. Nun wollen die „Löwen von Teranga“ die Viertelfinal-Sensation von 2002 wiederholen.

Als Aliou Cissé das erste Mal in der Rolle des Trainers an der Seitenlinie eines Fußballfeldes stand, spielte er selbst noch auf höchstem Niveau. Der traurige Anlass für die Begegnung zwischen dem Senegal und Nigeria, für das er die senegalesische Mannschaft betreute, war für Cissé auch ein sehr persönlicher. In der Hauptstadt Dakar fand ein Benefizspiel für die Opfer der „Joola“-Katastrophe statt. Am 26. September 2002 war die Fähre vor der Küste des Nachbarlandes Gambia in einem Sturm gekentert und untergegangen. Von den fast 2000 Menschen, mit denen das Schiff massiv überladen war, überlebten nur 64. Unter den Toten waren auch mehrere Familienangehörige des Trainers. Die drittgrößte Katastrophe der zivilen Schifffahrt nach dem Zweiten Weltkrieg löste in Senegal eine Staatskrise aus, in deren Verlauf die gesamte Regierung zurücktrat.

Dabei hätte das Jahr 2002 für Cissé und das ganze Land ein durchweg positiv erinnertes sein können. Nur knapp drei Monate vor dem Untergang der „Joola“ war Senegal elektrisiert – im positiven Sinne. Zur Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea hatte sich die senegalesische Nationalmannschaft erstmals für eine WM-Endrunde qualifiziert. Gestartet ohne jegliche Erwartungen, aber mit einer riesigen Euphorie, besiegte das Team um Cissé als Kapitän mit Frankreich nicht nur den amtierenden Weltmeister, sondern auch den ehemaligen Kolonisator Senegals. Mit zwei Unentschieden in den weiteren Gruppenspielen gegen Dänemark und Uruguay qualifizierten sich die „Löwen von Teranga“ sensationell für das Achtelfinale – in dem sie Schweden mit 2:1 nach Verlängerung besiegten.

Erst im Viertelfinale musste sich die Mannschaft mit 0:1 der Türkei geschlagen geben und die Heimreise antreten. Was im ersten Moment verständlicherweise eine riesige Enttäuschung war, schlug bald darauf in Jubel um. Bei der ersten Teilnahme direkt ins Viertelfinale, als überhaupt erst zweites afrikanisches Team so weit gekommen – die sogenannte „Génération 2002“ war der Hoffnungsträger schlechthin in Senegal. Goldene Jahre bis Jahrzehnte wurden dem senegalesischen Fußball vorausgesagt, der Erfolg in Japan und Südkorea sollte den ganzen Kontinent auf die fußballerische Landkarte setzen.

Endlich zurück auf der großen Bühne

Doch auf die große Sensation folgte Stagnation, ja, Enttäuschung. Senegal verpasste nicht nur die Qualifikation für die nachfolgenden Weltmeisterschaften, sogar für den Afrika Cup reichte es in den folgenden Jahren manchmal nicht mehr. Statt eine Ära der senegalesischen Dominanz, des fußballerischen Aufbruchs und des sportlichen Ruhms einzuleiten, steht das Team von damals, die Mannschaft um Aliou Cissé, heute nur noch emblematisch für seinen eigenen Erfolg, für vergangenen Ruhm und für ein Versprechen auf eine große Zukunft, das nicht eingelöst wurde. Jetzt, 2018 in Russland, ist das Land endlich zurück auf der größten Bühne des internationalen Fußballs. Und mit ihm Aliou Cissé, angetreten, um den Erfolg von 2002 zu wiederholen und das Versprechen endlich einzulösen – für sich selbst, für sein Heimatland und für den ganzen afrikanischen Kontinent.

Den ersten Schritt hat er mit seiner jungen Mannschaft aus internationalen Stars schon gemacht. Wie 2002 hat Senegal sein erstes Gruppenspiel gewonnen. Mit schnellen Kombinationen und gutem Positionsspiel, intelligenten Laufwegen und einer organisierten Defensive. Das ist so wichtig zu betonen, weil afrikanische Mannschaften, gerade wenn sie nicht Ägypten, Marokko, Tunesien oder Algerien heißen, sonst immer nur für ihre Physis und Schnelligkeit gelobt werden. Spielerisch zu überzeugen oder gar zu dominieren, wie Senegal es gegen Polen tat, wird ihnen gemeinhin von Kommentatoren in Fußball-Europa nicht zugetraut. Man könnte Bullshit-Bingo spielen mit den weitverbreiteten Stereotypen, die zu jeder Weltmeisterschaft erneut aus der kolonialen Klischeekiste rausgekramt werden: „müssen über die Physis kommen“, „explosive Athletik“, „unerfahren, aber unglaublich glücklich, dabei sein zu dürfen.“

Zugrunde liegt diesen Einschätzungen immer das historisch-rassistische Bild des schwarzen Wilden, verpackt in Komplimente für die körperliche Stärke der Mannschaften. Ja, Senegal spielte gegen Polen körperlich. Die junge Mannschaft foulte fast doppelt so oft wie der Gegner. Sie gewann aber auch mehr Zweikämpfe. Ja, das Spiel endete auch mit 2:1, weil M’Baye Niang beim zweiten Tor für Senegal seine enorme Geschwindigkeit ausspielte. Aber dem Sieg lag eine disziplinierte Mannschaftsleistung zugrunde, die die gelungenen taktischen Vorgaben ihres Trainers gewissenhaft umsetzte. Ihres schwarzen, einheimischen Trainers.

Chronisch unterschätzt und belächelt

Denn was für Teams aus Afrika gilt, gilt umso mehr für Trainer vom zweitgrößten Kontinent der Erde: Sie werden chronisch unterschätzt und belächelt. Dass afrikanische Trainer keinen Kredit haben, liegt auch an der Einstellungspraxis der afrikanischen Fußballverbände. Von fünf Teams aus Afrika bei dieser Weltmeisterschaft haben nur zwei einen afrikanischen Trainer, neben Cissé in Senegal trainiert Nabil Maaloul Tunesien. Ägypten hat mit Hector Cuper einen argentinischen, Marokko in Hervé Renard einen französischen und Nigeria den deutschen Trainer Gernot Rohr. Beim Afrika Cup 2017 hatten von 16 Mannschaften gerade einmal vier, also 25 Prozent, einen afrikanischen Coach. Nicht einmal die eigenen Verbände trauen Übungsleitern aus ihrem Land erfolgreiche Arbeit zu. Doch kaum tritt ein schwarzer Coach aus dem Schatten auf die Weltbühne Fußball-WM, wird er als Highlight des Turniers gefeiert. Internationale Medien überschlugen sich nach dem Sieg gegen Polen mit ihren Preisungen des Exoten auf der Bank, der mit Dreadlocks und Goldbrille doch so ganz anders sei als alle anderen. Die Überraschung über ein erfolgreiches afrikanisches Team unter der Leitung eines schwarzen, afrikanischen Trainers schwang allenthalben mit in den Lobeshymnen.

So sehr der Erfolg ihn freut, so wenig ist Cissé verständlicherweise erbaut über die Stereotype, die in der Analyse seiner Leistung omnipräsent sind. „Fußball ist universell, die Hautfarbe ist nicht wichtig“, sah er sich vor Kurzem gezwungen klarzustellen. „Wir Afrikaner haben schlicht das Recht, zu den internationalen Top-Trainern gezählt zu werden.“ Dieses Recht will er einfordern, helfen sollen ihm dabei die Erfolge seiner Mannschaft als Ergebnis harter Arbeit. Um die zu erreichen, muss er neben Vorurteilen noch ganz andere Probleme überwinden.

Die Situation des Fußballs im Heimatland ist schwierig. Die Jahre der Misserfolge und fehlenden Entwicklung haben den Sport in Senegal seine Popularität gekostet. Mittlerweile ist traditionelles Ringen die Sportart Nummer eins in dem westafrikanischen Staat, die Athleten sind Volkshelden, Kämpfe füllen große Arenen im ganzen Land. Der Fußball hingegen hat an Bedeutung verloren. Die Klubs und die einheimische Liga selbst sind chronisch pleite, die Stadien bleiben leer. Die insolventen Klubs ersetzen Akademien, betrieben von europäischen Vereinen oder Sportartikelherstellern, die wie am Fließband Talente für die Ligen des benachbarten Kontinents ausbilden sollen. Junge senegalesische Männer versuchen zu Hunderten und Tausenden ihr Glück in den Ausbildungszentren.

Für einen ganzen Kontinent

Das Land ist immer noch von großer Armut geplagt, das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt 970 US-Dollar. Da liegt es nahe, die Hoffnung in eine Karriere als Profifußballer zu stecken. Und obwohl die Quote derer, die es nicht schaffen, hoch ist, gibt es immer noch genug, die es zu einem Klub nach Europa schaffen. Sadio Mané zum Beispiel, Stammspieler und Star bei Jürgen Klopps FC Liverpool, Kalidou Koulibaly vom SSC Neapel, oder auch Schalke-Neuzugang Salif Sané. Kein einziger Spieler aus dem 23er-Kader Senegals spielt in der Heimat.

Die desolate wirtschaftliche Situation des Landes spiegelt sich auch in den politischen Auseinandersetzungen, die Senegal in Atem halten. Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Misere bestimmen immer wieder die Schlagzeilen, im Mai starb ein Student bei einer der Demonstrationen durch Polizeischüsse. Vor der Präsidentschaftswahl nächstes Jahr sind die „Löwen von Teranga“ genau wie 2002 ein Lichtblick in dunklen Zeiten.

Doch die Teilnahme alleine reicht Cissé nicht. Der mit 42 Jahren jüngste Trainer des Turniers will den Erfolg von 2002 wiederholen. Er will es der Welt zeigen. Will beweisen, dass ein schwarzer, afrikanischer Trainer Erfolg haben kann. Dass Senegal im internationalen Fußball Beachtung verdient und Teams aus Afrika taktisch wert- und technisch anspruchsvollen Fußball spielen können. Und dass er erfolgreich sein kann.

Am ersten Spieltag der Weltmeisterschaft gelang das den afrikanischen Mannschaften nicht. Ägypten, Tunesien, Marokko und Nigeria enttäuschten, auch wenn Letztere ihr zweites Spiel gegen Island siegreich gestalten konnten. Senegal hingegen überzeugte. Auch deshalb sagt Aliou Cissé: „Senegal repräsentiert hier ganz Afrika. Und ganz Afrika steht hinter uns. Die Menschen glauben an uns.“ Die Mannschaft spielt nicht nur für ihren Trainer, die Bevölkerung im eigenen Land oder das verspätete Einlösen eines eigentlich schon gebrochenen Versprechens, nein. Aliou Cissé und sein Team spielen gegen Vorurteile – und für einen ganzen Kontinent.

Tobias Finger

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