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Sifan Hassan (l.) und Konstanze Klosterhalfen treten am Samstag gegeneinander an.

© imago images / Chai v.d. Laage

Extrem dünne Athletinnen: „Das geht in Richtung Anorexia athletica“

Läuferinnen wie Konstanze Klosterhalfen werden immer dünner. Die gesundheitlichen Risiken sind groß. Ein Sportmediziner will nicht länger schweigen.

Auch der Sportmediziner Wilhelm Bloch wird sich am vergangenen Samstag das Rennen der Frauen über 10.000 Meter angesehen haben. Sportlich war es einer der Höhepunkte bei den Olympischen Spielen in Tokio. Sifan Hassan lief vor Kalkidan Gezahegne und Letesenbet Gidey ins Ziel, alle drei sind in Äthiopien geboren. Hassan und Gidey waren erst im Juni Weltrekord gelaufen.

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Die aktuell schnellste je gelaufene Zeit über die Distanz hält Gidey mit 29:06,82 Minuten. „Es ist einfach der Wahnsinn, was an der Spitze gerade abgeht“, sagt Marathontrainer Tono Kirschbaum.

Und weil das so ist, hatte es die bislang beste deutsche Mittel- und Langstreckenläuferin – Konstanze Klosterhalfen – im Finale schwer. Die 24-Jährige hatte in den vergangenen Monaten mit Beckenproblemen zu kämpfen. Um mit den Allerbesten mitzuhalten, fehlte die Kraft. Am Ende sprang Platz acht für sie heraus.

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Für Freunde der Leichtathletik, wie auch Bloch einer ist, ist es ohnehin eine Freude, Klosterhalfen zuzusehen. Sie hat den formschönsten Laufstil im Feld. Manchmal wirkt es, als könnte Klosterhalfen geradezu über die Tartanbahn fliegen.

Doch da ist noch eine andere Sache, über die bei all dem Talent und all der Eleganz oft hinweggesehen wird. „Es ist ein schwieriges Thema“, sagt Bloch. Der Wissenschaftler von der Deutschen Sporthochschule Köln will trotzdem darüber reden. „Es darf nicht erst gehandelt werden, wenn etwas passiert ist“, findet er. Es geht darum, dass Klosterhalfen und viele ihrer Mitstreiterinnen dünn sind, extrem dünn. Wenn er Bilder von Klosterhalfen sehe, würde das in ihm schon eine gewisse Besorgnis auslösen. „Sie ist sehr dünn, und ich erkenne auch eine flaumartige, feine Körperbehaarung“, sagt Bloch. „Das geht in Richtung des Krankheitsbildes Anorexia athletica.“

Unter dem Begriff versteht man die Magersucht von Sportlerinnen und Sportlern. Das Thema begleitet den Leistungs- wie den Freizeitsport schon seit Jahren. Groß war die Debatte darüber in Deutschland in den frühen Nullerjahren, als private Bilder des magersüchtigen Skispringers Sven Hannawald aufgetaucht waren. Der Ski-Weltverband Fis führte ein paar Jahre später eine Body-Mass-Index-Regel ein. Sie besagt, vereinfacht formuliert: Je leichter der Springer, desto kürzer der Ski. Und je kürzer der Ski, desto schwieriger sind die Bedingungen.

"Jedes Gramm nicht aktive Masse ist Ballast und muss weg"

In anderen Sportarten vermisst man Regelungen zum Schutz der Athleten. Dabei gibt es speziell im Skilanglauf oder in der Leichtathletik einen ganz klaren Trend: Die Läuferinnen und Läufer werden immer dünner. „Jedes Gramm nicht aktive Masse ist Ballast und muss weg. Nur noch die arbeitende Muskulatur soll erhalten bleiben“, erklärt Bloch die dahinter stehende Trainingsphilosophie.

Das Problem ist, dass der Körper nicht darauf ausgerichtet ist. „Es kommt zu Funktionsstörungen. Das Knochenwachstum ist wegen des niedrigen Calciumhaushaltes eingeschränkt. Der Hormonhaushalt ist beeinträchtigt. Die Östrogenbereitstellung stockt. Bei vielen dieser Frauen bleibt die Monatsblutung aus“, zählt Bloch auf. Es sei einfach so, dass zehn bis zwölf Prozent Körperfett entscheidend und wichtig seien. „Wenn ich mir Läuferinnen wie Klosterhalfen ansehe, glaube ich nicht, dass sie zehn Prozent Körperfett haben. Sondern deutlich darunter.“

Wenn es die Regeln erlauben, kann der Leistungssport selbstzerstörerische Kräfte entfalten. Genau das passiert in der Leichtathletik. Die Formel: Je dünner die Athletinnen und Athleten, desto schneller sind ihre Zeiten. Dass das Leistungssportsystem häufig mit der körperlichen Ausbeutung seiner Protagonisten einhergeht, zeigte auch der Fall rund um das Nike Oregon Project, bei dem Konstanze Klosterhalfen 2019 anheuerte.

Die von dem Sportartikelriesen finanzierte Laufgruppe war von der US-amerikanischen Trainerkoryphäe Alberto Salazar geleitet worden. Nach und nach wurden die rabiaten Methoden von Salazar öffentlich. Mehrere Läuferinnen erzählten, wie sie von Salazar wegen ihres Gewichts gemobbt worden seien.

So schnell wie Konstanze Klosterhalfen war noch keine Frau aus Deutschland über die Mittel- und Langstrecke.
So schnell wie Konstanze Klosterhalfen war noch keine Frau aus Deutschland über die Mittel- und Langstrecke.

© Michael Kappeler/dpa

Die Folge: Während ihrer Zeit in der Laufgruppe habe sie drei Jahre lang keine Periode gehabt, erzählte die Mittelstreckenläuferin Mary Cain. „Ich habe in dieser Zeit an Selbstmord gedacht.“
Salazar wurde gesperrt und Nike stellte das Oregon Project ein. Aber die Laufgruppe mit Athletinnen wie Klosterhalfen oder Sifan Hassan existiert immer noch. Unter Trainer Pete Julian und mit dem Geld von Nike läuft alles so ab wie bisher – nur ohne Salazar. In ihrem Twitter-Account verlinkt Hassan sogar noch auf das Nike Oregon Project, obwohl es dies offiziell gar nicht mehr gibt.

Die Bedingungen der Gruppe sind ideal – wenn man es aus rein sportlicher Perspektive heraus betrachtet. „Es wird dort viel Wert auf Regeneration gelegt“, erzählt der deutsche Marathontrainer Kirschbaum. Physiotherapie sei das A und O, mit Kältekammern, Unterwasser-Laufbändern und vielem mehr. Dann könne man viel und engmaschig trainieren. „Und natürlich wird sehr stark auf die Ernährung geachtet. Die Frauen sind sehr schlank.“

Das ist euphemistisch formuliert. Überhaupt kommt der Eindruck auf, dass viele das Offensichtliche, dass die Läuferinnen besorgniserregend schlank sind, nicht sehen wollen. Bei Koko (Konstanze Klosterhalfen, d. Red.) sei das Veranlagung, genetisch bedingt, sagt Kirschbaum. „Auch die Mutter ist sehr schlank.“ Immerhin sieht er auch: „Aber klar, auch Koko muss aufpassen und darf kein Kilo zu viel verlieren. Sonst fehlt die Kraft.“

Höchst professionelle und gleichsam gesundheitlich höchst bedenkliche Trainingsgruppen wie jene, in der sich Klosterhalfen befindet, gibt es etliche. Wer vorne mitlaufen will, muss sich schinden – mit Haut und Knochen. „Das Gefährliche ist, dass wir die gesundheitlichen Langzeitfolgen von Anorexia athletica noch nicht abschätzen können“, sagt Sportmediziner Bloch. Zumal die Läuferinnen schon in der Adoleszenz extremen Sport betreiben würden.

Bloch kann das Schweigen über das Thema schwer ertragen. Er sagt: „Es muss etwas passieren, es müssen Regeln zum Schutz der Läuferinnen und Läufer her. Ein Schwellenwert des Body-Mass-Index zum Beispiel.“ Was er machen würde, wenn Konstanze Klosterhalfen einen Termin bei ihm hätte? „Ich würde ihr vermutlich zu einer Ernährungsumstellung raten.“

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