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Bei seiner Lesung zeigt Thuram eine Weltkarte, die nicht eurozentristisch ist.

© dpa/ Gerald Matzka

Ex-Fußballprofi Lilian Thuram über Rassismus: „Weiß ist vor allem ein Denken, nicht die Realität“

Seit seinem Karriereende klärt Lilian Thuram über koloniale Kontinuitäten auf. Dabei kritisiert er auch Europas Flüchtlingspolitik und den Profifußball.

Als Lilian Thuram neben sich greift, zieht er ein großes Paper hervor. Darauf ist eine Weltkarte abgebildet, die der ehemalige französische Fußball-Nationalspieler ausbreitet und in die Höhe hält. „Was sehen Sie?“ fragt er und schaut erwartungsvoll ins Publikum. „Eine Weltkarte“, sagt jemand zögernd.

Als niemand etwas hinzufügt, macht Thuram selbst weiter. „Wenn ich die Karte in Schulen zeige, sagen die meisten ich solle sie umdrehen, weil sie falsch herum ist.“ Normalerweise liegt Europa nämlich in der Mitte und wird übergroß dargestellt, wohingegen der afrikanische Kontinent kleiner als Russland zu sein scheint – ein Überbleibsel westlicher imperialer Denkweisen. Aber weil die Erde rund wie ein Fußball sei, werde oft vergessen, dass es eigentlich kein richtig oder falsch herum gebe, sagt Thuram.

Um einen Perspektivwechsel geht es auch in seinem Buch „Das weiße Denken“, das im vergangenen Jahr erschien und das Thuram auf seiner aktuellen Lesereise durch Deutschland vorstellt. Darin zeigt er auf, wie europäische Länder die Kategorien weiß und Schwarz konstruiert haben, um Kolonialismus und Ausbeutung zu rechtfertigen und wie diese Machtverhältnisse bis heute aufrechterhalten werden.

Das weiße Denken sei keine Frage der Pigmentierung, schreibt der Weltmeister von 1998, der seit seinem Karriereende in der antirassistischen Bildungsarbeit aktiv ist und dessen Sohn Marcus Thuram bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag steht. Vielmehr sei es – spätestens seit den Kreuzzügen – eine Art auf der Welt zu sein. „Ich wollte dahinter gehen, um den kulturellen Ursprung und die Geschichte hinter Identitäten zu verstehen.“ Ist die Hautfarbe weißer Menschen tatsächlich weiß? So weiß wie Papier?

„Nein natürlich nicht“, beantwortet Thuram die Frage selbst. „Weiß ist vor allem ein Denken. Es ist nicht die Realität, sondern die Art, wie man die Welt sieht.“ Und weil es sich eben nicht um reelle Hautfarben handelt, sondern um politische Konstruktionen, ist weiß kursiv gedruckt und Schwarz als Eigenbezeichnung großgeschrieben.

„Um Europa gibt es Mauern wie um eine Festung“

Auf knapp dreihundert Seiten legt Thuram dar, wie weißes Denken historisch geformt wurde und gibt einen Überblick über postkoloniale wissenschaftliche Diskurse.

Thuram nimmt Bezug auf kapitalistische Wirtschaftsstrukturen, die Rassismus nicht nur aufrechterhalten, sondern reproduzieren und stellt dabei die entscheidende Frage, wer am Ende profitiert.

Auch bei seiner Lesung im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz fordert er das Publikum auf, Privilegien anzuerkennen, denn: „Es ist wichtig, sich die Realität bewusst zu machen und diese nicht zu verneinen.“

Denn koloniale Kontinuitäten beobachtet Thuram bis heute, vor allem in Bezug auf die europäische Flüchtlingspolitik: „Um Europa gibt es Mauern wie um eine Festung. Menschen, die nichts getan haben, werden in Gefängnisse gesteckt; sie dürfen nicht das Mittelmeer überqueren.“ Er selbst hat mehrere Flüchtlingslager besucht. „In 50 Jahren werden wir uns fragen: Wie konnten wir das damals zulassen?“

Seit seinem Karriereende ist Thuram aktiv in der antirassistischen Bildungsarbeit.
Seit seinem Karriereende ist Thuram aktiv in der antirassistischen Bildungsarbeit.

© Imago

Das große Potenzial des Buches liegt in Thurams Bekanntheit als Fußballstar, mit der er eine breite Masse erreicht. Manchmal werde er aufgrund seiner Karriere nicht ernst genommen, erzählt Thuram. „Weil Körper und Geist stark voneinander getrennt werden in der Welt, in der wir leben.“

Nach dem WM-Titel 1998 beobachtete Thuram einen Wandel

Bereits während seiner Zeit als Spieler sei ihm eingeredet worden, dass er Fußball spielen und nicht über Rassismus reden solle. Dabei hätte er das Buch ohne den Sport gar nicht geschrieben. „Das Leben, das ich als Kind hatte, hätte mich nicht hierhergebracht, wenn ich nicht Profifußballer geworden wäre“, sagt er.

Er schildert persönliche Erfahrungen mit Rassismus, erzählt von Zuschauenden, die während der Spiele Affengeräusche imitierten und Mitspielern, die ihn verspotteten, weil seine Partnerin nicht weiß war. Der Vorwurf: „Wer Geld hat, hat ein großes Haus, ein dickes Auto, eine goldene Uhr und heiratet eine weiße Frau!“

Gleichzeitig beobachtet Thuram „einen Wandel in der französischen Gesellschaft“, nachdem die französische Nationalmannschaft 1998 den WM-Titel gewann. „Das war ein Moment, in dem wir gesellschaftliche Fragen stellen konnten“, sagt er über die Zeit, als der Slogan „Black-Blanc-Beur“ zum Ausdruck eines multikulturellen Frankreichs avancierte.
Er erinnert aber auch an die „Quoten-Affäre“ von 2011, als der französische Verband mithilfe einer inoffiziellen Quote die Anzahl nordafrikanischer und Schwarzer Nationalspieler begrenzen wollte, und weist auf rassistische Stereotype hin („weißen Spielern sagt man nach, die besseren Strategen zu sein“), die bis heute fortbestehen.

Insgesamt spricht Thuram dem Sport aber eine große Bedeutung im Kampf gegen Rassismus zu und plädiert dafür, sein Potenzial gänzlich auszuschöpfen. Er will Athlet*innen ermutigen, sich ihrer Vorbildfunktion bewusst zu werden und an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen. Denn: „Wenn wir über Rassismus in Fußballstadien sprechen, dann sollten auch weiße Spieler Kritik üben. Diese Frage geht uns alle etwas an.“

Insofern ist sein Plädoyer eines, das Hoffnung macht – aber auch Mut erfordert. Mut, sich Fragen nach kollektiver Verantwortung zu stellen; Mut die eigenen Privilegien und daraus entstehenden Vorteile anzuerkennen. Ganz „so wie Spitzensportler*innen sich regelmäßig Kritik stellen und mit ihr auseinandersetzen müssen“, wenn sie ein Topniveau erreichen wollen.

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