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Nummer 2. Andrej Woronin trifft zum Sieg für Hertha und schießt das Team damit an die Tabellenspitze.

© imago sportfotodienst

Evergreens des Fußballs (9): Herthas kurzer und heftiger Traum vom Titel

Im Frühjahr 2009 verliebt sich Berlin in Hertha BSC. Die Mannschaft von Trainer Lucien Favre stürmt durch einen Sieg gegen Bayern München an die Tabellenspitze.

Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Genügend Zeit also für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: Bundesliga 2008/09, Hertha BSC – Bayern München.

Es gibt sie, diese Spiele, bei denen man als Fan sein Glück nicht begreifen kann. Auch Hertha BSC hat in den vergangenen Jahren zumindest ein paar von diesen freudentrunkenen Erinnerungen produzieren können. Eine der schönsten der jüngeren Vereinsgeschichte hat sich am 14. Februar 2009 abgespielt.

Es war die berüchtigte Fast-Meister-Saison unter Trainer Lucien Favre. Am 20. Spieltag begrüßte Hertha den FC Bayern München im Olympiastadion. Die Mannschaft war nicht ideal in die Rückserie gestartet, während die Bayern nach einem 3:1-Erfolg gegen Borussia Dortmund als Tabellenzweiter anreisten. Ihr Trainer war übrigens ein gewisser Jürgen Klinsmann.

Neben den zuvor tristen Leistungen drückte auch die Personallage bei den Berlinern auf die Stimmung. Mehrere Leistungsträger fehlten unter anderem Torjäger Marko Pantelic und Flügelspieler Cicero. In der Abwehr musste der Brasilianer Rodnei ran, der bis dahin nicht eine Bundesliga-Minute gesammelt hatte.

Hertha BSC spielte pragmatischen Minimalistenfußball

Trotzdem war es ein herausragender Rahmen für ein Fußballspiel: der Tabellendritte gegen den Zweiten im ausverkauften Olympiastadion, Hertha als Überraschungsteam und dennoch Underdog, die Bayern als strauchelnder Riese. Die Großspurigkeit der Münchener vor dem Spiel heizte die Atmosphäre zusätzlich an. In einem Interview mit dem Tagesspiegel hatte Bastian Schweinsteiger gesagt, dass es im Titelkampf zwar eine Überraschung geben könne, „aber durch Hertha? Ehrlich gesagt nein.“

Auf dem Feld war bereits in der ersten Halbzeit zu erkennen, dass das aus den Jahren zuvor bekannte Kräfteverhältnis keine Rolle spielen würde. Hertha agierte von der ersten Minute an abwartend, aber diszipliniert. Favres Mannschaft ließ den Gegner kommen, ohne größere Gefahr entstehen zu lassen. Die neu zusammengestellte Abwehr aus Arne Friedrich, Josip Simunic, Rodnei und Marc Stein präsentierte sich äußerst souverän.

Hinzu kam das engmaschige Mittelfeld, angeführt von Pal Dardai. Dieser berichtete Jahre später, dass er eigentlich auch nicht fit gewesen sei, aber von Trainer Favre dringlichst gebeten worden war, dennoch zu spielen. Es sollte sich auszahlen. In der 31. Minute hätte der Ungar Hertha nach einer Ecke beinahe in Führung gebracht. Doch Zé Roberto grätschte den Ball noch von der Linie.

Sieben Minuten später sollte es dann soweit sein. Nach einem im Mittelfeld abgefangenen Ball spielte Hertha seinen Angriff über Dardai und Patrick Ebert schnell aus. Ebert flankte aus dem rechten Halbfeld in den Strafraum. Torhüter Michael Rensing bewegte sich nicht von der Linie weg, Christian Lell verlor die Orientierung, so dass Andrej Woronin zum 1:0 einnicken konnte.

Das Stadion explodierte. Passierte das gerade wirklich? Könnte Hertha das erste Mal seit Dezember 2001 wieder gegen den FC Bayern gewinnen?

Kein gutes Pflaster. Jürgen Klinsmann kassiert mit den Bayern eine 1:2-Niederlage bei Hertha BSC. Wenige Wochen später verliert er seinen Job, nachdem er mit den Münchnern in der gesamten Spielzeit kein einziges Mal an der Tabellenspitze gestanden hat.
Kein gutes Pflaster. Jürgen Klinsmann kassiert mit den Bayern eine 1:2-Niederlage bei Hertha BSC. Wenige Wochen später verliert er seinen Job, nachdem er mit den Münchnern in der gesamten Spielzeit kein einziges Mal an der Tabellenspitze gestanden hat.

© imago images/MIS

Vor der Pause passierte nichts mehr. Herthas Abwehr hielt, Favres Konzept ging auf: Die Mannschaft lauerte auf Konter und ging kein unnötiges Risiko ein. Attraktivität sieht anders aus, aber Attraktivität ist bei Erfolg zunächst einmal sekundär. Bei 14 der 19 Saisonsiege gewann Hertha mit einem Tor Vorsprung. Es war pragmatischer Minimalistenfußball, den Lucien Favre spielen ließ.

Gegen die Bayern sah sich Hertha auch in der zweiten Halbzeit vor allem in der Defensive gefordert. Landon Donovan hätte in der 54. Minute beinahe den Ausgleich erzielt. Den Kopfball des US-Amerikaners konnte der überragende Jaroslav Drobny mit einer Glanzparade noch abwehren. So wie wenig später Lucios Versuch aus der Distanz und Schweinsteigers Nachschuss. Erst beim dritten Abschluss von Miroslav Klose musste sich der Tscheche geschlagen geben. Es sollte wohl doch nicht sein. Lange hatte Hertha gut mitgehalten, aber Bayern war schlicht zu dominant.

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Die Partie fand auch weiterhin vor allem in der Hälfte der Berliner statt, die sich bei ihrem starken Torhüter bedanken mussten, dass sie trotz klarer Unterlegenheit noch im Spiel waren. Während Herthas Abwehr kaum noch wusste, wie sie dem gegnerischen Druck standhalten sollte, war auf Drobny Verlass. Der Torhüter leitete auch den Konter ein, den Woronin mit seinem zweiten Treffer abschloss. In der 77. Minute schob der Ukrainer den Ball aus vollem Lauf an Rensing vorbei zum 2:1 ins Tor. Woronin rannte auf die blau-weiße Tartanbahn, Kapitän Friedrich sprang dem Ukrainer auf den Rücken, selbst der sonst so verhaltene Lucien Favre ließ seiner Freude freien Lauf. Bis heute sind diese Jubelszenen jedem Hertha-Fan im Kopf geblieben.

Hertha war erstmals seit 2006 wieder Tabellenführer

Zumal Bayerns Schlussoffensive brachte nichts mehr einbrachte. Kurz nach dem Schlusspfiff wurde auf den Stadionmonitoren die Blitztabelle gezeigt: Hertha hatte mit dem Sieg die TSG Hoffenheim von der Ligaspitze verdrängt und war erstmals seit 2006 wieder Tabellenführer. Während Uli Hoeneß auf der Bayern-Bank sichtlich verzweifelte, war bei Bruder Dieter auf der Tribüne ein selbstzufriedenes Grinsen zu erkennen.

Wer Meister werden will, muss die Bayern schlagen. Das ist Favres Mannschaft in der Saison 2008/09 gelungen, aber da Hertha wohl ein ewiges Sorgenkind bleiben wird, wurde der Sieg gegen den FC Bayern bekannterweise nicht mit dem Titel vergoldet. Nachdem Berlin zwischenzeitlich vier Spieltage lang Tabellenerster war, handelte man sich zwischen Spieltag 25 und 27 drei Niederlagen hintereinander ein. Am letzten Spieltag verlor Hertha beim Tabellenletzten Karlsruher SC mit 0:4 – ein Offenbarungseid, der den Klub sogar die Qualifikation für die Champions League kostete. Der Rest ist bekannt. Leistungsträger wie Pantelic, Simunic und Woronin konnten nicht gehalten werden, in der Folgesaison stieg die Mannschaft als Tabellenletzter ab.

Und dennoch bleibt der Sieg über Bayern im Februar 2009 eine der schönsten Erinnerungen der letzten Jahre. Es war der Höhepunkt einer überragenden Saison, die eine Generation zu Hertha-Fans gemacht hat, aber kein schönes Ende nahm. Eine Saison, in der Dieter Hoeneß und Lucien Favre im Spielerkreis tanzten, in der Joe Simunic den Fans per Mikrofon im Stadion versprach, die Schale zu holen, und in der „Hey, das geht ab“ von den Atzen zur Hymne wurde. Das 2:1 gegen die Bayern war die Klimax des ganzen Spektakels.

Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln , DFB-Pokalfinale 1993 Hertha BSC Amateure - Bayer 04 Leverkusen , WM-Finale 1974, Bundesrepublik Deutschland - Niederlande , Uefa-Cup-Finale 2001, FC Liverpool - Deportivo Alaves , DFB-Pokalfinale 1998, MSV Duisburg - Bayern München , Champions-League-Finale 1997, Borussia Dortmund - Juventus Turin , Europapokal der Pokalsieger 1985/86, Viertelfinale, Bayer Uerdingen - Dynamo Dresden , WM-Halbfinale 2006, Deutschland - Italien.

Marc Schwitzky

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