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Er kam, traf und jubelte. Hans-Jörg Criens feiert sein zweites Jokertor zum 5:4-Endstand im Pokal-Halbfinale gegen Werder Bremen.

© imago/Laci Perenyi

Evergreens des Fußballs (10): Tränen, Spannung und der Auftritt des Jokers

Borussia Mönchengladbach liegt im DFB-Pokal-Halbfinale 1984 nach einer 3:1-Führung 3:4 gegen Werder Bremen zurück - dann betritt Hans-Jörg Criens die große Bühne.

Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Genügend Zeit also für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: DFB-Pokal, Halbfinale 1984, Borussia Mönchengladbach – Werder Bremen.

Als mein Großvater 1964 sein 25-jähriges Betriebsjubiläum bei einer Mönchengladbacher Textilfabrik feierte, erschien in der Hauszeitschrift seines Arbeitgebers ein kurzes Porträt über ihn. Darin findet sich ein Satz, der mich heute noch berührt: „Daß er im Übrigen Anteil an den Siegen und Niederlagen der Borussia nimmt, versteht sich für einen alten Gladbacher fast von selbst.“

Ich war sechs, als ich Fan von Borussia Mönchengladbach wurde. Mein Vater nahm mich mit ins Stadion, und wenn wir meine Großeltern besuchten, fragte mich mein Opa, ob ich beim Sport gewesen sei. Oder besser: beim Spocht, wie man am Niederrhein sagt. Sport war Fußball, und Fußball war in Mönchengladbach Borussia.

Ob mein Opa früher regelmäßig ins Stadion gegangen ist, weiß ich nicht. Zu meiner Zeit jedenfalls tat er das nicht mehr. Mit einer Ausnahme. Das war am 1. Mai 1984.

An diesem Tag empfing Borussia Mönchengladbach auf dem Bökelberg den SV Werder Bremen zum Halbfinale im DFB-Pokal. Mein Vater hatte vier Karten besorgt, für sich, seinen Vater, seinen Onkel Paul und Onkel Willi, der auch irgendwie mit uns verwandt war und mich immer ein bisschen an Heinz Erhard erinnert hat. Es waren keine Stehplatzkarten wie sonst immer, sondern teure Sitzplätze für die Tribüne.

Tränengas wabert durchs Stadion

Eine der vier Karten besitze ich heute noch. Block 4, Reihe 25, Platz 12. Für 33,00 DM inklusive 14 Prozent Mehrwertsteuer, 2,00 DM für die Amateur-Rahmenveranstaltung und dem Sportgroschen für die Sporthilfe. Während ich das Spiel zu Hause am Fernseher verfolgen musste, saß mein Vater also mit drei älteren Herrschaften unter dem Tribünendach – und fürchtete vermutlich zwischendurch ernsthaft um ihre Gesundheit.

Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein Pokal-Halbfinale live im Fernsehen übertragen wird. „Noch kein großes Spiel“, sagt Heribert Faßbender als Reporter der ARD kurz vor Ende der ersten Halbzeit – aber dann überschlagen sich die Ereignisse: 1:0 durch Lothar Matthäus in der 40. Minute, im Gegenzug der Ausgleich durch Norbert Meier, ehe Norbert Ringels die Gladbacher noch vor der Pause erneut in Führung bringt.

"Hier droht der Abbruch. Das ist ein Skandal!", sagt ARD-Reporter Heribert Faßbender, nachdem Gladbachs Torhüter Uli Sude eine Tränengasbombe aus seinem Strafraum entfernt hat.
"Hier droht der Abbruch. Das ist ein Skandal!", sagt ARD-Reporter Heribert Faßbender, nachdem Gladbachs Torhüter Uli Sude eine Tränengasbombe aus seinem Strafraum entfernt hat.

© imago sportfotodienst

Nach einer Stunde fliegt aus der Werder-Kurve eine Rauchbombe in den Gladbacher Strafraum. Torhüter Uli Sude wirft sie hinters Tor. Weiter geht’s. Aber plötzlich liegen zwei Spieler auf dem Boden und halten sich die Hände vors Gesicht. „Ich will nicht hoffen, dass das irgendein Gas ist, das hier runtergekommen ist“, sagt Faßbender. Doch, ist es. Tränengasschwaden wabern durchs Stadion. „Hier droht der Abbruch“, sagt Faßbender. „Das ist ein Skandal!“

Nach ein paar Minuten pfeift Schiedsrichter Hontheim aus Trier die Partie wieder an, und eine Viertelstunde vor Schluss schießt Gladbach das nächste Tor. „Das ist mehr als eine Vorentscheidung“, verkündet Faßbender. Aber zehn Minuten später hat Werder aus dem 1:3 ein 4:3 gemacht – und den Borussen fällt nicht mehr viel ein. Die reguläre Spielzeit ist vorüber, noch einmal segelt eine Flanke in den Bremer Strafraum. Wilfried Hannes lenkt den Ball mit einem Ausfallschritt über die Linie. Der Ausgleich. Aber das Tor zählt nicht, weil der Linienrichter eine Abseitsstellung gesehen hat, die es nicht gegeben hat.

"Ein sagenhaftes Pokalspiel", sagt Heribert Faßbender

Ob mein Opa in diesem Moment von seiner Sitzschale aufgesprungen ist? Ob er in Erwartung des Schlusspfiffs gleich stehen geblieben ist? Hans-Günther Bruns tritt zur vermutlich letzten Ecke an, Ringels verlängert den Ball – und Hans-Jörg Criens fliegt durch den Fünfmeterraum, trifft per Kopf zum 4:4. „So, meine Damen und Herren, jetzt steh‘ ich auch mal auf“, sagt Heribert Faßbender. „Ein sagenhaftes Pokalspiel.“

Criens, gerade 23 Jahre alt, ist Mitte der zweiten Hälfte eingewechselt worden. Wie so oft in dieser Zeit. Später hat es ihn immer ein bisschen gestört, dass er nur auf seine Rolle als Joker reduziert worden ist, obwohl er fast ein Jahrzehnt Stammspieler bei den Gladbachern war und nur Jupp Heynckes und Herbert Laumen häufiger für den Klub getroffen haben.

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Natürlich hängt sein Ruf als Joker vor allem mit dem Pokalspiel gegen Werder zusammen. In der Verlängerung, gleich zu Beginn der zweiten Hälfte, schlägt der ebenfalls eingewechselte Uli Borowka aus dem Halbfeld eine Flanke in den Bremer Strafraum. Criens nimmt den Ball mit der Spitze seines rechten Fußes aus der Luft. Er bekommt ihn gegen seinen Kopf, tippt ihn noch einmal mit der Stirn an. Der Ball landet auf dem Rasen, springt auf, ehe Criens mit links zum 5:4-Endstand trifft.

Im vergangenen Jahr ist Hans-Jörg Criens gestorben, am zweiten Weihnachtstag, acht Tage nach seinem 59. Geburtstag. Aber dieses Spiel gegen Werder hat ihn unsterblich gemacht. Für meinen Opa ist es das letzte, das er im Stadion sieht. Ein Jahr später ist er gestorben. An einem Samstag im Mai, an dem Borussia Mönchengladbach gegen Waldhof Mannheim spielte. Hans-Jörg Criens erzielte zwei Tore.

Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln , DFB-Pokalfinale 1993 Hertha BSC Amateure - Bayer 04 Leverkusen , WM-Finale 1974, Bundesrepublik Deutschland - Niederlande , Uefa-Cup-Finale 2001, FC Liverpool - Deportivo Alaves , DFB-Pokalfinale 1998, MSV Duisburg - Bayern München , Champions-League-Finale 1997, Borussia Dortmund - Juventus Turin , Europapokal der Pokalsieger 1985/86, Viertelfinale, Bayer Uerdingen - Dynamo Dresden , WM-Halbfinale 2006, Deutschland - Italien , Bundesliga 2008/09 Hertha BSC - Bayern München .

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