zum Hauptinhalt
23 000 Fans besuchten das Spiel England gegen Schottland im Wembley. Kaum später stiegen die Coronazahlen bei schottischen Männern in die Höhe.

© IMAGO / PA Images

EM trotz Delta-Variante in London: Lasst den Quatsch mit den Spielen in Wembley!

Die Delta-Variante breitet sich in Großbritannien aus. Beim Deutschland-Spiel in London sollen trotzdem 45.000 Fans ins Stadion dürfen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Martin Einsiedler

Der Argwohn gegen die Briten hat tiefe Wurzeln. Das wusste auch schon die Komikergruppe Monty Python. „Ich pupse auf euch, ihr Schweinepriester. Wenn es nach mir geht, kommt ihr nicht in die europäische Gemeinschaft!“, ruft ein französischer Soldat der britischen Sagengestalt König Artus und seinem Gefolge in Monty Pythons „Der Ritter der Kokosnuss“ zu.

Artus ist darin auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Am Ende wird er aber nicht von den Franzosen gestoppt, sondern von der britischen Polizei, die aus der Zukunft angefahren kommt.

Ein paar Handlungsstränge des Films lassen sich durchaus auf die Europameisterschaft übertragen. Es gibt Abneigung gegen die Engländer, die seit anderthalb Jahren nicht mehr der Europäischen Union zugehören. Bei der „EURO2020“ rennen ihre besten Fußballer nicht wie üblich mit viel Verve ins Verderben.

[Fußball-Europameisterschaft: Wissen, wer wann gegen wen spielt. Mit unserem EM-Spielplan 2021 als PDF zum Ausdrucken.]

Nein, den Heiligen Gral des europäischen Fußballs wollen sie mit kontrolliertem, taktischem, für Gegner und Zuschauer geradezu quälendem Spiel gewinnen. Und nicht nur das: Die Engländer genießen von allen 24 teilnehmenden Nationen bei dieser vermeintlichen paneuropäischen Europameisterschaft den größten Heimvorteil.

Mal angenommen, sie kommen ins Endspiel: Von sieben Spielen hätten sie sechs in London bestritten. Der zweite große Titel für die Engländer im Weltfußball nach dem besonders aus deutscher Perspektive sehr skandalösen WM-Triumph 1966 würde sicher wüste Beschimpfungen so mancher Fußballanhänger nach sich ziehen.

Zahlreiche Corona-Fälle bei der EM

Helfen kann den Gerechtigkeitsfanatikern wohl nur noch wie im Film eine Polizeieskorte, die dem Treiben ein Ende bereitet. Und tatsächlich: Anlass dazu gäbe es! Liebe Leserinnen und Leser, Sie ahnen es vielleicht schon. Als Spielverderber der Engländer könnte das Coronavirus fungieren. Dieses verbreitet sich auf der Insel in den gemeinsten Varianten weiter.

Die derzeit fieseste hört auf den Namen Delta, und nach aktuellem Stand gehen 95 Prozent aller Covid-Erkrankungen in Großbritannien auf diese Variante zurück. Man muss kein Epidemiologe sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass es derzeit bessere Orte in Europa gibt, um Fußballspiele vor vielen Zuschauerinnen und Zuschauern auszutragen. Oder anders formuliert: Lasst den Quatsch mit den Spielen in Wembley!

[Lesen Sie auch: Ausbreitung von Delta – welche Urlaubsländer gerade wieder gefährlich werden (T+)]

Zumal es schon die ersten Schreckensmeldungen von dem Turnier gibt. So wurde bei fast 100 Anhängerinnen und Anhängern der finnischen Nationalmannschaft das Virus nach ihrer Rückkehr aus St. Petersburg nachgewiesen. Auch einige dänische Fans infizierten sich mutmaßlich beim Spiel gegen Belgien in der vergangenen Woche.

Und in Schottland kam es wenige Tage nach dem Spiel zwischen der englischen und schottischen Nationalmannschaft eben im Wembley-Stadion zu einem sprunghaften Anstieg von Neuinfektionen in der Gruppe der 15 bis 44 Jahre alten Männer.

Experten wie der britische Wissenschaftler Stephen Reicher sind sich sicher: Die Zahlen sind auf das Spiel mit knapp 23.000 grölenden und mitunter trinkfesten Fans in London zurückzuführen. Bedrohlich ist zudem, dass die Zahl an Corona-Toten in der EM-Stadt St. Petersburg mit über 100 pro Tag jüngst einen neuen Höchststand erreicht hat.

Von Uefa ist keine Empathie zu erwarten

Doch mit Vernunft, das zeigt die „EURO2020“, ist nicht zu rechnen. So hielt der europäische Fußballverband Uefa an dem Turniermodus mit den vielen Reisen und den mitunter vielen Fans trotz der Pandemie fest. Und als der Däne Christian Eriksen fast auf dem Platz gestorben wäre, reagierte die Uefa mit einem Ultimatum für die dänische Mannschaft. Spätestens am nächsten Tag sollte sie das Spiel fortsetzen (in einer Art Schockzustand entschied sie sich, das Spiel noch am selben Abend wieder aufzunehmen).

Als wäre das alles nicht schon peinlich genug, reagierte die Uefa feige, kleingeistig und heuchlerisch auf die Regenbogenfarben, in denen die Münchner ihr Stadion erleuchten lassen wollten. Die Fußballverbände, das beweisen sie immer wieder eindrücklich aufs Neue, reagieren auf Unvorhergesehenes entweder gar nicht und falls doch, tun sie das besonders empathielos.

[Lesen Sie hier alle wichtigen Entwicklungen der EM im Tagesspiegel-Liveblog]

„The games must go on“ ist zum geflügelten Sportverbandsdogma geworden. Nach außen soll damit vermittelt werden, dass sich der Sport von äußeren Missständen nicht unterkriegen lässt. Tatsächlich aber steckt keine positiv besetzte Sportlerethik dahinter. Sondern lediglich der Drang, möglichst schnell weiterzumachen mit dem Geldverdienen. Weil das so ist, ist nicht zu erwarten, dass die Uefa die restlichen Spiele in der englischen Hauptstadt von sich aus verlegen wird. Änderungen im Fahrplan sind nicht vorgesehen und kosten zudem Geld.

Am Dienstag keine deutschen Fans im Wembley

Was heißt das nun für die Titelchancen Englands? Sie sind ausgezeichnet. Nicht nur, dass die „Three Lions“ bis auf eine Ausnahme wohl weiter im Wembley-Stadion spielen dürfen. Nein, sie dürfen es mutmaßlich fast ohne gegnerische Fans. Das Achtelfinale am Dienstag gegen Deutschland können deutsche Fans nur live im Wembley-Stadion sehen, wenn sie in Großbritannien, Irland oder auf den Inseln Isle of Man, Guernsey und Jersey wohnen.

Das wiederum macht aus epidemiologischer Sicht viel Sinn, auch wenn es noch sinnvoller wäre, das Spiel mit – nach aktuellem Stand – 45 000 Zuschauerinnen und Zuschauern gar nicht erst auszutragen. So der so: Es mehren sich die Stimmen, die den Engländern in diesem Turnier nur das Allerschlechteste wünschen.

Dabei sind sie nun wirklich nicht die Schweinepriester, als die sie in „Der Ritter der Kokosnuss“ verspottet werden. Diese sind eher auf der Verbandsebene auszumachen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false