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Hart zur Sache: Jürgen Klinsmann (rechts) wird von Frank Rijkaard im EM-Halbfinale 1988 unfair gebremst.

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EM-Qualifikation mit Vorgeschichte: Hamburg 88 oder wie Holland sich für 1974 rächte

In der EM-Qualifikation trifft die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Hamburg auf Holland. Dort, wo das Oranje-Team 1988 ein schweres Trauma besiegte.

Es geht schon auf Mitternacht zu, an diesem Dienstag, den 21. Juni 1988, als Franz Beckenbauer eine bemerkenswerte Entscheidung trifft. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft wartet im Bus auf ihren Teamchef. Beckenbauer ist schon an der Tür, macht dann aber noch einmal kehrt und geht hinüber zu den Holländern, die gerade lustige Lieder singen: „Lothar, Lothar, alles ist vorbei“ oder „Matthäus, du hast verloren“. Die Stimmung ist ausgelassen, doch als Beckenbauer plötzlich im Bus auftaucht, wird es mit einem Mal ruhig. Beckenbauer lächelt, es falle ihm schwer, sagt er, „aber ich finde, Holland hat verdient gewonnen. Viel Glück fürs Finale!“ Nach einem kurzen Moment der Stille bricht Applaus los.

An einem Abend der großen Triumphgefühle ist es diese kleine Geste, die sich ihren Zeugen geradezu ins Gedächtnis gefräst hat. Marco van Basten, der Stürmer der holländischen Nationalmannschaft, hält Beckenbauer seit diesem Moment für einen echten Gentleman. Für Ronald Koeman ist der Auftritt des Teamchefs sogar „die schönste Erinnerung an das Turnier“. Und an schönen Erinnerungen an die Europameisterschaft 1988 besteht bei den Holländern ganz sicher kein Mangel.

Wenn die Nationalmannschaft an diesem Freitag in Hamburg auf Holland trifft, ist das auch ein Spiel mit Geschichte. 1988 standen sich beide Länder im EM-Halbfinale gegenüber – am selben Ort, auch wenn es das alte Volksparkstadion nicht mehr gibt. „Hamburg 88“, dieses 2:1 gegen Deutschland auf deutschem Boden, hat für die Holländer eine ähnlich mythische Bedeutung wie „Bern 54“ für die Deutschen. „Es war für die Niederländer wahrscheinlich wichtiger als für uns“, sagt Eike Immel, der damals im Tor der Deutschen stand.

Duell der Strategen. Im EM-Halbfinale 88 trafen die Trainer Franz Beckenbauer (links) und Rinus Michels aufeinander.
Duell der Strategen. Im EM-Halbfinale 88 trafen die Trainer Franz Beckenbauer (links) und Rinus Michels aufeinander.

© Imago/Laci Perenyi

Das war es mit Sicherheit. 1988 brach aus den Holländern etwas heraus, was sich über Jahre angestaut hatte. Etwas, das die Deutschen völlig unvorbereitet traf und das Verhältnis im Fußball für lange Zeit vergiften sollte. „Sehr viel Häme, Hass möchte ich fast sagen“ hat Immel an diesem Juniabend erlebt. Ronald Koeman wischte sich mit dem Trikot, das er von Olaf Thon ertauscht hatte, symbolisch den Hintern ab, ein holländischer Radioreporter ließ auf der Pressetribüne seine Hose herunter und streckte den deutschen Kollegen sein blankes Hinterteil entgegen. Und während „Bild“ den formidablen Auftritt des Gegners entsprechend würdigte („Holland super“), titelte Hollands größte Tageszeitung „De Telegraaf“: „Endlich Rache!“

Aber Rache wofür? Für 1974? Für die Niederlage im Finale der Weltmeisterschaft? Oder Rache für 1940, den Überfall der Wehrmacht und die anschließende Besatzung? „Der Krieg hat für mich überhaupt keine Rolle gespielt“, sagt Hollands Torhüter Hans van Breukelen. Die WM 74 schon eher. Hamburg 88 ist nicht zu verstehen ohne München 74. Die Endspielniederlage gegen Deutschland war wie ein schleichendes Gift, das nun mit jahrelanger Verspätung seine Wirkung entfaltete. Die meisten Spieler der 88er-Mannschaft hatten das WM-Finale als Kinder oder Jugendliche am Fernseher verfolgt. „Es war eine Frustration, die raus musste“, sagt Ruud Gullit, der 1974 elf Jahre alt war. „Eine unterbewusste Frustration.“ Dabei hatten die Holländer den Einzug ins Finale anfangs noch als großen Erfolg verstanden, in der Heimat wurden sie wie Helden gefeiert. Von einem Trauma konnte keine Rede sein.

Rinus Michels: "Fußball ist Krieg"

Für Rinus Michels war das anders. Er hatte die Elftal 1974 trainiert – und er trainierte sie auch 1988 wieder. Michels war das Verbindungsstück, und er nutzte die Erfahrungen, die er 14 Jahre zuvor gemacht hatte. „Fußball ist Krieg“, hat Michels einmal gesagt. 1974 hatte er den Krieg verloren, weil, so glaubte er, die Deutschen ihn überlistet hatten. Das würde ihm nicht noch einmal passieren.

Als die Holländer am Morgen des 21. Juni ihren Mannschaftsbus besteigen, erzählt Michels den Journalisten, dass sie zu einem Spaziergang ins Grüne fahren. Doch das eigentliche Ziel liegt im Hamburger Hafen. In einer räudigen Kaschemme hält der Bondscoach seine Mannschaftssitzung ab. Die Spieler wundern sich, und genau das hat ihr Trainer bezweckt. Sie sollen ihre Sinne schärfen. Als Michels fertig ist, meldet sich Kapitän Ruud Gullit zu Wort und erzählt, was sich in der Nacht zuvor zugetragen hat. Um halb eins habe bei ihm auf dem Zimmer das Telefon geklingelt. Ein deutscher Anrufer meldete sich und wollte wissen, bei welchem Verein Gullit vor seinem Wechsel nach Mailand gespielt und wie viele Länderspiele er bisher bestritten habe.

Die Deutschen wieder, denken die Holländer. Alle Mittel sind ihnen recht, um uns fertig zu machen. Dabei ist deren Selbstvertrauen grenzenlos. Nach einem mühsamen 1:1 zum Auftakt gegen Italien haben sich die Deutschen in die EM hineingespielt und die Spiele gegen Dänemark und Spanien viel deutlicher dominiert, als es die 2:0-Siege vom Ergebnis her andeuten. Gegen Spanien schießt der zuvor kritisierte Rudi Völler beide Tore, und nicht nur Torhüter Immel glaubt: „Der Europameister konnte nur Deutschland heißen!“ Doch mit dem überbordenden Selbstbewusstsein ist es schon bei der Anfahrt zum Volksparkstadion vorbei. „Man konnte damals von der Autobahn ins Stadion reinschauen, und ich habe nur Orange gesehen“, erinnert sich Immel. „Also, einen Heimvorteil hatten wir nicht. Der Hamburger an sich ist ja nicht gerade heißblütig, und die Holländer haben einen Riesenlärm gemacht.“ Frank Mill wird später sagen: „Es wäre schön gewesen, wenn wir heute ein Heimspiel gehabt hätten.“

Der Dortmunder ist in letzter Sekunde in die Startelf gerutscht. In der offiziellen Aufstellung steht noch Pierre Littbarski, aber der hat sich angeblich den Magen verdorben. Noch so ein Psychotrick, denken die Holländer, die entsprechend wütend zu Werke gehen. In der ersten Hälfte bleibt Mill nach einem Zusammenprall mit van Breukelen auf dem Rasen liegen. Hollands Torhüter beugt sich über ihn, den Rücken durchgedrückt, die Arme dahinter verschränkt. Van Breukelen brüllt Mill nur ein Wort ins Ohr: „Scheiße!“

Ruud Gullit: "Wir fressen sie auf!"

Als van Breukelen, eigentlich ein umgänglicher und reflektierter Mensch, sich später im Fernsehen sieht, wundert er sich: „Bin ich das wirklich?“ Für die Holländer ist das Spiel eine emotionale Grenzerfahrung. Sie fühlen sich von den Deutschen provoziert, halten sie für Schauspieler, die bei jeder Gelegenheit versuchen, Elfmeter zu erschwindeln, Gelbe Karten herauszuholen oder einfach Zeit zu schinden, erst recht nachdem sie in der 55. Minute durch einen umstrittenen Foulelfmeter in Führung gegangen sind. Jürgen Klinsmann hat sich spektakulär über Frank Rijkaards Oberschenkel geworfen.

Es ist eine der seltsamen Volten des Fußballs, dass das EM-Halbfinale exakt den gleichen Verlauf nimmt wie das WM-Endspiel 14 Jahre zuvor – nur seitenverkehrt. Der Ausgleich fällt, wie 1974, durch einen Elfmeter, von dem sogar der holländischer Fernsehreporter Evert ten Napel sagt: „Ist auch kein Elfmeter, muss ich ehrlich sagen.“ Jürgen Kohler soll Marco van Basten gefoult haben, aber in der Zeitlupe ist deutlich zu sehen, dass er den Ball trifft. Es wird nicht der letzte folgenschwere Kontakt der beiden gewesen sein.

Ronald Koeman ist nervös. Er weiß, wenn er den Elfmeter verschießt, wird Holland das Spiel verlieren. „Normalerweise habe ich immer gewartet, bis der Torhüter sich für eine Ecke entscheidet, und den Ball dann in die andere geschoben“, sagt er. Bei diesem Elfmeter sucht er sich schon vorher die Ecke aus. Koeman schießt nach links, Immel fliegt nach rechts. Das Spiel fängt bei null an. Ruud Gullit treibt seine Mitspieler noch einmal an. „Wir fressen sie auf!“, ruft er ihnen zu.

Die Holländer sind zu jener Zeit das vermutlich beste Team der Welt. „Die Mannschaft war schon ein Kracher“, sagt Uli Borowka. „Die hatten richtig gute Spieler dabei, aber auch ein paar Holzböcke, die dazwischen gehauen haben. Das passte sensationell zusammen.“ Nach dem Ausgleich kommen die Deutschen kaum noch aus ihrer Hälfte heraus. Beckenbauer wechselt den angeblich magenkranken Dribbler Pierre Littbarski ein, aber das deutsche Spiel krankt nicht nur an der zaghaften Offensive. Nachdem Libero Matthias Herget verletzt ausgeschieden ist, wird die Abwehr vom hüftsteifen Wolfgang Rolff organisiert. Das kann gegen die ballsicheren Holländer nicht gut gehen.

Das Volksparkstadion gehört Oranje

Zwei Minuten vor Schluss treibt Koeman den Ball zum x-ten Mal durchs Mittelfeld, Gullit kommt ihm entgegen, und der Bremer Borowka tut das, was er seit 88 Minuten macht, weil es ihm so aufgetragen wurde. Er bleibt an Gullit dran. „Ich musste ihm immer auf den Füßen stehen“, erinnert er sich. „Das war eine Verfolgungsjagd übers komplette Feld.“

Es ist der entscheidende Fehler im System. Uli Borowka befindet sich im Mittelkreis, als Koeman den Ball zu Jan Wouters in die Spitze spielt. Vor ihm, auf der linken deutschen Abwehrseite, hat sich eine riesige Schneise aufgetan. Wouters leitet den Ball gleich weiter in den Lauf von Marco van Basten. Kohler ist an ihm dran, doch er hat noch den Elfmeter im Kopf und zögert mit dem Tackling. Diesen Moment nutzt der Holländer, um den Ball im Fallen vorbei an Immel ins linke Eck zu spitzeln. „Tausend Mal hab’ ich mich gefragt, ob ich den hätte halten müssen“, sagt Immel heute. „Am Ende bin ich zu der Einsicht gekommen, dass es einfach eine Weltklasseleistung eines Weltklassestürmers war.“

Ein Tick zu spät. Jürgen Kohler (r.) gegen Marco van Basten – das war das entscheidende Duell im Halbfinale 1988. Es endete mit einem Elfmeter und einem Tor für den Holländer.
Ein Tick zu spät. Jürgen Kohler (r.) gegen Marco van Basten – das war das entscheidende Duell im Halbfinale 1988. Es endete mit einem Elfmeter und einem Tor für den Holländer.

© picture-alliance / dpa

„Het Volksparkstadion is van Oranje!“, ruft Fernsehreporter ten Napel nach van Bastens Tor ins Mikrofon. Das Volksparkstadion gehört Oranje. Nach dem Abpfiff strömen die Menschen in Holland auf die Straßen: Auf den längsten Tag des Jahres folgt die längste Nacht. Es kommt zur angeblich größten Massenkundgebung seit der Befreiung von der deutschen Besatzung 1945. Im Volksparkstadion starten die holländischen Fußballer eine Polonäse, die zunächst durch den Kabinengang und schließlich noch einmal übers Feld führt. Zwei italienische Reporter kommen zu Marco van Basten, der beim AC Mailand in der abgelaufenen Saison wegen einer Verletzung so gut wie nie gespielt hat. In den Gazzettas und Corrieres gilt er vor der EM als Fehleinkauf. Jetzt rufen die Reporter: „Gratulazione Marco!“, sie klopfen ihm auf die Schultern und sagen, wie sehr sie sich auf ein Finale Italien gegen Holland freuen.

Ein paar Meter weiter öffnet sich die deutsche Kabine. Lothar Matthäus kommt, und er ist so geladen, dass er einem deutschen Reporter fast gegen den Kopf knallt. Sind Sie ein schlechter Verlierer, Herr Matthäus? „Nein, die Holländer haben verdient gewonnen, aber sie haben ja auch zu Hause gespielt. Oder haben Sie etwa das deutsche Publikum gehört?“ Es ist noch nicht die Zeit, in der an jeder Ecke Kameras stehen, und somit verhallen die Tiraden des deutschen Kapitäns gegen die deutschen Fans im Allgemeinen und die Hamburger im Besonderen im Nirvana der persönlichen Erinnerungen. „In München wäre das anders gelaufen“, ruft Matthäus, „aber hier sind die Leute sich offenbar zu fein, die eigene Mannschaft zu unterstützen!“ Dann will er nur noch weg. Später in der Nacht ertränken die Deutschen ihre Wut mit reichlich Alkohol.

Epilog: Vier Tage später bestreiten die Holländer das EM-Finale. Nicht gegen van Bastens italienische Freunde, sondern gegen die Sowjetunion. In München. Wieder München – wie 1974. Doch diesmal geht alles gut aus. Ruud Gullit bringt die Holländer in Führung, Marco van Basten erzielt mit einem Jahrhunderttor den 2:0-Endstand. Die Rückkehr des Europameisters nach Holland wird zum Triumphzug. Bei der Fahrt durch die Amsterdamer Grachten sind eine Million Menschen auf den Beinen. Irgendwo an der Strecke ist auch ein Transparent zu sehen, das alles sagt: „Das Finale war Dienstag.“

– Der Text erschien ursprünglich im November 2011, als die Nationalmannschaft, ebenfalls in Hamburg, ein Freundschaftsspiel gegen die holländische Nationalmannschaft bestritt.

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