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Ali Lacin aus Berlin gewann bei der EM Silber.

© imago/Beautiful Sports

EM der Para-Leichtathleten in Berlin: Voll normal

Den Europameisterschaften der Para-Leichtathleten in Berlin mangelte es an Zuschauern – inklusiv wirkten sie trotzdem.

Von Benjamin Apitius

Das kleine Mädchen mit den strahlend weißen Haaren hatte gerade den Innenraum des Friedrich-Ludwig-Jahnsportparks betreten, da rief es laut: „Mama, wo sind denn jetzt die Behinderten?“ Die Mutter hob schnell ihren Zeigefinger vor den Mund. „Ist das ein Behinderter? Oder der da?“, rief das Kind. Es war die Neugierde, die da aus dem kleinen Körper herausbrach. Es war allein falsche Scham, die die Mutter ihr entgegensetzen konnte. Einige Stunden später sah man das kleine Mädchen auf Höhe der Weitsprunggrube über die Tribünensitze turnen. Bei jedem Springer stieg sie fröhlich mit ein in das rhythmische Klatschen der übrigen Zuschauer. Führte wieder einer der vielen Wettläufe unten auf der Tartenbahn an ihr vorbei, schrie das Mädchen voller Inbrunst: „Schneller!“ Es jubelte, tanzte, löste sich auf in der fröhlichen Stimmung um sie herum.

Bei den Europameisterschaften der Para-Leichtathleten, die am Sonntag nach einer Woche voller Wettkämpfe in Berlin ihr Ende fanden, waren einige solcher Auflösungserscheinungen zu beobachten. Vor allem löste sich die unsichtbare Barriere auf zwischen Nichtbehinderten und Behinderten – „aber was heißt denn eigentlich behindert?“, fragte auch das Mädchen irgendwann. Der Geist im Friedrich-Ludwig-Jahnsportpark war jener: Hier hat der eine oder andere Athlet vielleicht ein Bein weniger als man selbst, hier ist die eine oder andere Athletin vielleicht auf beiden Augen blind – all das war in den vergangenen sieben Tagen aber völlig normal.

Berlin bewirbt sich für die Ausrichtung der Special Olympics

„Schade nur, dass so wenige Zuschauer da waren. Sie haben was verpasst“, sagte Friedhelm Julius Beucher zum Abschluss der Veranstaltung. Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) hatte vielleicht mehr Interesse erwartet – bei 30 000 Zuschauern über die gesamte Zeit blieb an jedem Tag ein Großteil der Sitzschalen frei –, doch der 72-Jährige freut sich seit jeher über jeden kleinen Schritt, den der Behindertensport in Deutschland vorankommt. Die Europameisterschaften kann man dabei nun durchaus als größeren Schritt bewerten. Viele der deutschen Goldmedaillen wurden abends in der Tagesschau vermeldet und schafften es zumindest auf diesem Wege in die deutschen Wohnzimmer. Die Berliner, die all die mitreißenden Entscheidungen und spannenden Duelle vor Ort verpassten, „die haben Pech gehabt“, so sah das eben Beucher.

Für die Stadt Berlin und ihre Bewohnerinnen und Bewohner wird es nicht die letzte Chance gewesen sein auf Behindertensport als Live-Event. Der Jahnsportpark soll in den nächsten fünf Jahren für 110 Millionen Euro zum ersten Inklusionsstadion Deutschlands ausgebaut werden und als Leuchtturm dienen für ganz Europa. Die Ausrichtung der EM kann man also durchaus als erste Anzahlung verstehen. Eine Bewerbung für die Special Olympics läuft bereits – die Weltspiele für geistig behinderte Menschen sollen 2023 nach Berlin kommen.

Der Besuch von 3500 Schülern könnte sich auszahlen

Dass bis dahin ein größerer Grundstock an interessierten Zuschauern zusammenkommt, darüber ist man sich beim Verband einig. Von den 30 000 vergebenen Tickets war ein Großteil über Sponsoren an etliche Schulen in Berlin weitergereicht worden, die an den Vormittagen mit bis zu 3500 Schülerinnen und Schüler die Wettkämpfe verfolgten. „Und das sind ja nun mal unsere Zuschauer von morgen“, sagte Thomas Urban, der Generalsekretär vom DBS: „Wenn jeder von ihnen seine Erlebnisse mit der Familie und seinen Freunden teilt, dann werden wir weiter wachsen.“

Auf diesen Prozess des Wachsens verwies auch Rita van Driel, Vorstandsmitglied beim Internationalen Paralympischen Komitee. Die Niederländerin berichtete am letzten Wettkampftag von den ersten Europameisterschaften der Behinderten, vor 15 Jahren in ihrem Heimatland in Assen. „Und was ist das für eine Entwicklung bis heute“, sagte van Driel mit weit aufgerissenen Augen. Die vielen Zuschauer, die vielen Übertragungswagen der Fernsehanstalten, das sportliche Niveau. Vielleicht ist das geringe Interesse also tatsächlich eine Frage der Perspektive. „Vor ein paar Jahren wären wir wohl insgesamt mit 3000 Zuschauern zufrieden gewesen“, sagte Thomas Urban.

Einige der Schülerinnen und Schüler werden also wiederkommen. Das kleine Mädchen sowieso. „Mama, kann ich auch nur einen Arm haben?“, fragte es am Ende.

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