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Nummer 141. Beim diesjährigen Draft entschieden sich die Seattle Seahawks für eine Verpflichtung von Defensivspezialist Shaquem Griffin.

© Tim Warner/AFP

Einhändiger NFL-Profi: Shaquem Griffin: Gegen alle Widerstände

Shaquem Griffin kam mit einer Fehlbildung zur Welt – nun ist er der erste einhändige Profi der US-amerikanischen National Football League.

Tangie Griffin wird den Anblick niemals vergessen, die Bilder haben sich tief ins Gedächtnis eingebrannt. Wie ihr Sohn Shaquem, damals ein Knirps von vier Jahren, schreiend auf dem Küchenboden sitzt, mit einem Fleischermesser hantiert und droht, sich die Finger der linken Hand abzuschneiden. Fast 20 Jahre ist die Anekdote mittlerweile alt, aber aus gegebenem Anlass hat sie Tangie Griffin dieser Tage der „Los Angeles Times“ erzählt. „Alles, was ich tun konnte, war ihm das Messer wegzunehmen“, sagt die zweifache Mutter, „dann habe ich einen Arzt angerufen.“

Shaquem Griffin, geboren in St. Petersburg im US-Bundesstaat Florida, ist mit dem Amniotisches-Band-Syndrom auf die Welt gekommen; seine linke Hand wies eine Fehlbildung auf, die bei jeder noch so kleinen Berührung höllische Schmerzen verursachte. Irgendwann mit vier Jahren hielt es der kleine Shaquem nicht mehr aus. „Er hat geschrien, dass ihm die Hand weh tut, immer und immer wieder“, erinnert sich Mutter Griffin. Am Tag nach dem Zwischenfall in der Küche entschieden sich die Eltern für eine medizinisch fachgerechte Amputation.

Umso bemerkenswerter ist, welchen Werdegang der heute 22-Jährige anschließend hinlegte. Griffin hat etwas geschafft, was ihm im Grunde niemand zutraute. Wenn im September die neue Saison in der National Football League (NFL) beginnt, wird der junge Mann der erste einhändige Profi der Liga sein. Bei der alljährlichen Talentwahl (Draft) entschieden sich die Seattle Seahawks kürzlich dafür, den Verteidiger mit einem Vertrag auszustatten und in den Profi-Kader aufzunehmen. „Das war der Anruf, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe“, sagte Griffin sichtlich ergriffen, nachdem er mit Seahawks-Manager John Schneider telefoniert hatte. „Danach bin ich buchstäblich zusammengebrochen.“

Griffin ging in der fünften Runde (Position 141) über den Ladentisch, relativ spät also, 140 Spieler kamen vor ihm an die Reihe – und trotzdem war er die Geschichte seines Jahrgangs. Normalerweise ist der Draft eine von unfassbaren kommerziellen Auswüchsen begleitete Veranstaltung, wie man sie sich hierzulande kaum vorstellen kann; vor zwei Wochen kamen 100 000 Menschen ins Football-Stadion von Dallas, um dem Zirkus live beizuwohnen. In den Einkaufszentren gibt es Zeitungsregale, die sich ausschließlich mit dem Draft beschäftigen. In diesem Jahr war fast ausnahmslos ein Spieler auf den Titelseiten zu sehen: Shaquem Griffin natürlich.

Als Linebacker liegt seine primäre Aufgabe darin, das Laufspiel des Gegners zu unterbinden

Vom Außenseiter mit Handicap, der sich gegen alle Widerstände durchsetzt, zum millionenschweren Football-Profi, der als Vorbild für körperlich eingeschränkte Menschen dient – solche Storys und Biografien lieben sie einfach in den USA. Griffin legt allerdings großen Wert darauf, „dass ich nicht der Typ sein will, der nur eine Wohlfühlgeschichte ist.“ Beim sogenannten „NFL Combine“, wo die Nachwuchsspieler auf Herz und Nieren geprüft werden und zahlreiche athletische Tests absolvieren müssen, hinterließ er nachhaltig Eindruck – ebenso in seinen ersten Einheiten bei den Profis der Seattle Seahawks. „Es sah sehr natürlich aus, er hat einen feinen Sinn für das Spiel“, sagt Trainer Pete Carroll, „mit ihm können wir sehr aggressiv sein und seine Geschwindigkeit nutzen.“ Die Einschätzung des Coaches deckt sich mit den Prognosen der meisten NFL-Experten: Griffin ist sehr wohl in der Lage, seinen neuen Arbeitgeber zu verstärken. Als Linebacker liegt seine primäre Aufgabe darin, das Laufspiel des Gegners zu unterbinden; das erfordert eine gewisse Grundschnelligkeit gepaart mit athletischen Fähigkeiten; Griffin bringt bei einer Körpergröße von 1,83 Meter gut 100 Kilogramm auf die Waage, damit muss er sich im direkten Vergleich mit anderen Defensivspezialisten nicht verstecken. Eine Position in der Offensive kam für ihn nicht in Frage in einer Sportart, in der es darum geht, Bälle zu werfen, zu fangen oder über das Feld zu tragen.

Auch deshalb musste sich der 22-Jährige im Laufe seines Lebens oft den Ratschlag anhören müssen, es doch lieber sein zu lassen mit einer Profi-Laufbahn. Ein gegnerischer Trainer wunderte sich sogar, dass Griffin überhaupt Football spielen durfte – weil das Spiel doch nur etwas für Spieler mit zwei Händen sei.

Shaquem Griffin hat auf all die vermeintlich gut gemeinten Tipps und Hinweise gepfiffen und ist eigene Wege gegangen, stets begleitet von seinem zwei Minuten älteren Zwillingsbruder Shaquill. Wie das unter Geschwistern so ist, machten sie ihre ersten sportlichen Schritte gemeinsam, spielten Football im Garten, gingen zur Leichtathletik – und später auch auf die selbe Hochschule, die University of Central Florida. Shaquill Griffin verzichtete sogar auf bessere Angebote anderer Universitäten, um weiter in einem Team mit seinem Bruder spielen zu können. „Darauf bin ich unendlich stolz“, sagt Mutter Griffin, „sie sind einfach unzertrennlich.“

Daran wird sich vorerst nichts ändern. Bevor die Seattle Seahawks im diesjährigen Draft Shaquem Griffin verpflichteten, hatte sich der Verein 2017 bereits die Rechte an einem anderen talentierten Nachwuchsspieler gesichert, von dem damals vergleichsweise wenige Leute Notiz nahmen. Sein Name: Shaquill Griffin.

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