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Hände hoch. Die Helden der Hertha im vollen Stadion ohne Dach (fünfter von rechts: Michael Preetz).

© Imago/Oliver Behrendt

Ein volles Olympiastadion gegen Kaiserslautern: Als Hertha BSC neu geboren wurde

Am 7. April 1997 empfängt Hertha BSC in der Zweiten Liga den 1. FC Kaiserslautern im Olympiastadion. Es ist ein Spiel, das vieles verändert.

An diesem Mittwoch (20.45 Uhr, live bei Sky) trifft Hertha BSC im Viertelfinale des DFB-Pokals auf den Ligakonkurrenten 1. FC Kaiserslautern. Das Olympiastadion ist ausverkauft. Genau wie am 7. April 1997, als sich beide Klubs im Spitzenspiel der Zweiten Liga gegenüberstanden.

An jenem Montagabend begann eine neue Zeitrechnung bei Hertha BSC. Dieser Text erinnert noch einmal an einen besonderen Abend. Er ist 2013 im Tagesspiegel erschienen, damals anlässlich eines Bundesligaspiels von Hertha BSC gegen den 1. FC Kaiserslautern.

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Als sich Axel Kruse beim Warmmachen umschaut, ist er ehrlich begeistert. „Toll“, denkt er. 50 000 Zuschauer dürften das locker sein. Vor so vielen Menschen haben er und seine Kollegen von Hertha BSC im Olympiastadion noch nie gespielt. Doch als Kruse zehn Minuten später beim Anstoß im Mittelkreis steht, ist alles anders.

An diesem Tag wollte der liebe Gott, dass wir gewinnen.

Axel Kruse, Stürmer von Hertha BSC, über das Spiel gegen Lautern im April 1997

Der Kapitän des Berliner Fußball-Zweitligisten lässt seinen Blick durch das weite Rund schweifen – und versteht die Welt nicht mehr. „Plötzlich war alles brechend voll.“ Es ist ein Kulturschock, den Kruse und Hertha an diesem 7. April 1997 erleben.

Dieter Hoeneß hat sein Auto zwei Stunden vor dem Spiel am Stadion geparkt. Dass dieser Montagabend ein besonderer werden würde, ist da bereits zu spüren. Das Interesse für das Spiel gegen den Tabellenführer Kaiserslautern ist überraschend groß. 40.000 Tickets sind im Vorverkauf weggegangen, insgeheim rechnet Hoeneß mit 55.000 Zuschauern. Aber selbst diese Kalkulation soll sich im Nachhinein als viel zu defensiv erweisen. 75.000 werden es am Ende.

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Zum ersten Mal seit 18 Jahren, seit dem Uefa- Cup-Halbfinale gegen Roter Stern Belgrad, ist ein Heimspiel von Hertha BSC im Olympiastadion ausverkauft. Knapp 250 Anhänger müssen draußen bleiben, weil es keine Karten mehr gibt. Vor den Kassen kommt es sogar zu leichten Handgreiflichkeiten.

Hoeneß, seit einem Monat Manager bei Hertha BSC, ist wie immer vor dem Spiel bei der Mannschaft, doch weil er neugierig ist, begibt er sich kurz vor dem Anpfiff noch einmal nach oben auf die Tribüne. Der Andrang ist so groß, dass immer neue Blöcke für die Zuschauer geöffnet werden. „Innerhalb von ein, zwei Minuten waren die Blöcke komplett gefüllt“, erzählt Hoeneß. „Das war unfassbar.“ Wenn er an das Spiel denkt, läuft ihm noch heute ein Schauer über den Rücken.

Die Menschen strömten in die Blöcke, es hörte nicht auf. Und plötzlich war das Stadion: voll. Ausverkauft.
Die Menschen strömten in die Blöcke, es hörte nicht auf. Und plötzlich war das Stadion: voll. Ausverkauft.

© Imago/Camera4

Ein paar Monate zuvor wäre an so etwas nicht zu denken gewesen. Hoeneß hat die Geschichte oft erzählt, wie er im November 1996, damals noch als Vizepräsident, zu seiner ersten Präsidiumssitzung nach Berlin eingeflogen ist. Im Taxi sagte er, er wolle zur Hertha-Geschäftsstelle. „Kenn ick nicht“, antwortete der Fahrer. Als er schließlich mitbekam, wer bei ihm im Wagen saß, fragte er Hoeneß: „Warum tun Sie sich das an?“

Dieter Hoeneß hat sich das bei seinem ersten Heimspiel im Olympiastadion auch gefragt. Über der grauen Schüssel gingen Graupelschauer nieder, 8700 Zuschauer wollten Hertha gegen Jena sehen. „O je“, dachte Hoeneß. „Das wird eine langwierige Geschichte.“

Jürgen Röber, der damals Trainer war, hat Ähnliches erlebt. Wenn er erzählte, dass er mit Hertha in die Bundesliga aufsteigen wolle, wurde er mitleidig angeschaut. Mit Hertha aufsteigen, das hatten vor ihm schon viele erzählt. Wieder so ein Bekloppter!

Da ist mir klar geworden, dass wir es schaffen können.

Dieter Hoeneß, ehemaliger Manager von Hertha BSC, über das Spiel gegen Lautern im April 1997

Jürgen Röber hat in jener Zeit einmal gesagt: „Hertha hat eigentlich keine Heimspiele.“ Von Euphorie war in Berlin in der Saison 1996/97 lange nichts zu spüren, obwohl Hertha mit der Ufa jetzt einen finanzkräftigen Partner an der Seite hatte und im Sommer sogar vergleichsweise namhafte Spieler verpflichten konnte.

Michael Preetz zum Beispiel. Oder Axel Kruse, der vom VfB Stuttgart gekommen war und sogar Angebote der Bundesligisten 1. FC Köln und Schalke 04 ausgeschlagen hatte. „Bist du bekloppt? Das kannst du doch nicht machen“, haben sie ihm in Stuttgart gesagt. „Aber ich habe irgendwie an Hertha geglaubt.“

Doch selbst Kruses Optimismus wurde zwischenzeitlich auf eine harte Probe gestellt. Hertha kam nur schwer in die Saison. Nach fünf Spieltagen lag die Mannschaft auf Platz 14. Das Zuschauerinteresse fiel entsprechend aus. Von den acht Heimspielen in der Vorrunde hatten fünf eine vierstellige Zuschauerzahl; der beste Besuch – vor dem Spiel gegen Kaiserslautern – wurde gegen Fortuna Köln registriert: 20 800 Zuschauer.

Am 7. April 1997 sollte alles anders sein. „Da ist mir klar geworden, dass wir es schaffen können“, sagt Dieter Hoeneß.

Die Geburtsstunde der modernen Hertha

Der 7. April 1997 ist so etwas wie die Geburtsstunde der modernen Hertha, und der 1. FC Kaiserslautern der perfekte Gegner für Herthas Wiedergeburt. Die Lauterer haben ihre Mannschaft nach dem Abstieg im Jahr zuvor nahezu komplett zusammengehalten, dazu mit Otto Rehhagel einen prominenten Trainer verpflichtet.

Kein Verein in der Zweiten Liga verfügt über einen höheren Etat als die Pfälzer – und trotzdem scheint es an diesem Montagabend im April keinen Zweifel zu geben, wer den Platz als Sieger verlassen würde. „An diesem Tag wollte der liebe Gott, dass wir gewinnen“, sagt Kruse.

Das war wie eine Massenhypnose. Ich war dem Wahnsinn nahe.

Axel Kruse über seinen Führungstreffer gegen den 1. FC Kaiserslautern

Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass er in einem vollen Stadion spielt. Und doch fühlt es sich anders an als sonst. „Ich kann das gar nicht beschreiben“, sagt er. „Nie war die Stimmung so emotional, so freudig wie an diesem Tag.“ Erst recht, als Kruse Hertha in der 25. Minute 1:0 in Führung bringt.

Lauterns Torhüter Gerald Ehrmann stürzt etwas unmotiviert aus seinem Tor, Frank Greiner kommt zu spät, so dass Kruse den Ball nur noch ins leere Tor schießen muss. Das ganze Stadion ruft seinen Namen, und wenn die Zuschauer in diesem Moment gefordert hätten, er solle seinen Gegenspieler vierteilen, „hätte ich das wahrscheinlich gemacht“, sagt er. „Das war wie eine Massenhypnose. Ich war dem Wahnsinn nahe.“

14.600
Zuschauer sind es bei Herthas nächstem Heimspiel. Gegen den VfB Lübeck.

Anders kann sich Kruse nicht erklären, was ein paar Minuten später passiert. „Völlig durchgeknallt“ stürzt er sich in einen Zweikampf mit Frank Greiner und wird von dessen Knie am Oberschenkel getroffen. Herthas Kapitän zieht sich den schlimmsten Pferdekuss seines Lebens zu, trotzdem will er weiterspielen – aber es geht nicht mehr. Kruse muss raus.

Von außen sieht er, wie Ehrmann zehn Minuten nach der Pause seinem Verteidiger Axel Roos den Ball an die Hacke boxt – und wie er von dort zum 2:0-Endstand ins Tor rollt. „Natürlich bist du erstmal frustriert, wenn du bei so einem Spiel nicht mehr mitspielen kannst“, sagt Kruse. „Aber dann merkst du, dass gerade etwas Besonderes passiert.“

Einmalig.

Otto Rehhagel, der Trainer des 1. FC Kaiserslautern, über die Kulisse im Olympiastadion

Zwei Tore feiern die Hertha-Fans an diesem Abend, ein drittes Mal braust der Jubel durch das baufällige Stadion, als auf der Anzeigetafel die Zahl 75.000 aufleuchtet. „Einmalig“, sagt selbst Lauterns Trainer Otto Rehhagel über die Kulisse. „Hertha BSC löst neue Fußball-Euphorie in Berlin aus“, titelt am nächsten Tag der Tagesspiegel, der „noch nie seit der Mauer-Öffnung am 9. November 1989 so viele glückliche Berliner“ gesehen haben will.

Das Berliner Publikum gilt als besonders schwierig, und Axel Kruse hat es oft erlebt, dass die Zuschauer nicht wegen Hertha ins Olympiastadion gekommen sind, sondern wegen des Gegners: wegen Bayern, Dortmund oder Schalke. Am 7. April 1997 „ist keiner wegen Kaiserslautern gekommen“, sagt Kruse. „Da sind alle wegen Hertha gekommen.“ Dieses Spiel war für ihn „der Schulterschluss zwischen Berlin und der Hertha“.

Auf der Tribüne jubelt der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen. „Diese Mannschaft passt zu Berlin“, sagt er. „Sie ist jung, frisch und dynamisch.“ Über dieses Urteil lässt sich fachlich streiten, aber Diepgen steht in diesem Moment stellvertretend für die Stadt: Sie gibt gerade ihre Ablehnung gegen Hertha auf.

„Hertha stürmt die Bundesliga“, frohlockt die „Bild“-Zeitung. Durch den Sieg gegen Kaiserslautern rücken die Berliner wieder an die Tabellenspitze, die sie in der Woche zuvor durch eine 1:2-Niederlage beim Tabellenletzten Rot-Weiss Essen verloren hatten. Für Dieter Hoeneß ist das Spiel gegen den FCK ein erster Hinweis, „wie sich die Erste Liga anfühlt“.

Bis dahin aber muss Hertha noch zehnmal in der Zweiten Liga ran. Das nächste Heimspiel findet wieder an einem Montagabend statt: vor 14.600 Zuschauern gegen den VfB Lübeck. „Die Leute haben nach dem Sieg gegen Kaiserslautern gedacht, jetzt sind wir in der Ersten Liga“, sagt Axel Kruse. „Und wenn es so weit ist, gehen wir auch wieder hin.“

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