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Im Zeichen des Bären. Die laute Berliner Fankurve.

© dapd

Ein Engländer beim Eishockey: Fankultur “on ice”

Während der Fußballwinterpause gibt es eigentlich nur eines: Eine Jungfernfahrt zu einem Spiel der Eisbären. Die könnten das Gesicht des neuen Berlin sein, sagt Titus Chalk. Ein Besuch beim Berliner Eishockeyklub.

Für einen Engländer ist die deutsche Fußball-Winterpause eine seltsame und unglückliche Zeit – eine Aneinanderreihung freud- und bedeutungsloser Wochenenden, an denen man unbedacht die Sportschau einschaltet – nur, um dort mit rätselhaften Biathlon-Highlights konfrontiert zu werden. Dabei wird Fußball gerade in der dunkelsten Zeit des Jahres am meisten gebraucht, nicht nur, um die Stimmung zu heben, sondern auch als Entschuldigung dafür, sich mit ein paar Freunden in die Kneipe abzusetzen, wenn die festlichen Familienpflichten zu erdrückend werden. Diese Zeit in Berlin zu überleben, kann zur Leidensprobe werden.

Ein Freund versicherte mir einmal ein Freund, dass es für Berliner eine Alternative gegen eine sportlose Winterdepression gibt: Eishockey, ein Spektakel, von dem er mir versicherte, es habe viel gemeinsam mit einem Ausflug ins Fußballstadion. Wenige Tage vor Rückrundenstart befolgte ich schließlich seinen Rat und begab mich zum Heimspiel der Eisbären Berlin gegen Wolfsburg – mein erster Ausflug überhaupt in die Welt des fliegenden Pucks. In meiner Jugend hatte ich gelegentlich Eishockey im TV gesehen, hauptsächlich, weil meine Mutter darauf bestand, wenn die Winterolympiade lief – nur für den Fall, dass ein guter Faustkampf zu sehen war. Ansonsten schwebt für einen Engländer über dem Eis immer ein leichter Hauch von Kitsch. Der Bolero, den Jayne Torvill und Christopher Dean bei den Olympischen Spielen von 1984 in Sarajevo hinlegten, ist unser Referenzpunkt, eine Fantasie in sich bauschenden Synthetiktrikots, eine 6.0-Vision in lila und blond, made in Nottingham. Dass Torvill und Dean bei ihrem Comeback 1994 aller Glorie beraubt wurden – auch das schien all das zusammenzufassen, was ich glaubte, über Sport auf dem Eis wissen zu müssen: Wie alles andere war auch dies eine Sache, in der Briten grandios versagen konnten.

Dennoch: Der Rest der Welt scheint das Eis zu lieben und allein die Tatsache, dass etwas “on ice” ist, steht als Synonym für eine spezielle Art aufdringlichen Entertainments an der Grenze zum Absurden, das an die Urinstinkte des Menschen appelliert. Ich kann nicht genau sagen, warum. Vielleicht ja, weil Eis so elementar ist. Vielleicht auch, weil Eis eine Sphäre markiert, die unserem täglichen Leben als Fremdes gegenübersteht. Vielleicht aber auch, weil wir gerne Leute in albernen Kostümen sehen, die, um nach außen hin Ruhe zu beweisen, manisch grinsen, während sie – in Wahrheit völlig außer Kontrolle – unvermeidbaren Stürzen und möglichen Verletzungen entgegenrasen.

Pyroshow, AC/DC - und Frauen

Auch in Berlins o2 World, einem völlig unpassenden Schönheitsfleck auf dem pockennarbigen Gesicht des Stadtteils Friedrichshain, wird der Faktor Showbiz vor dem Spiel großgeschrieben. Eis! Feuer! Ein riesiger aufblasbarer Eisbärenkopf! Riesige Videoleinwände! AC/DC! All das sind Dinge, die einen sehr elementaren, unverbesserlichen Teil meiner Persönlichkeit ansprechen und mich dazu bringen, überteuertes Bier aus Plastikbechern zu trinken. Im Halbdunkel erwarte ich aufgeregt wie ein kleines Kind das erste Bully und wünsche mir, ich könnte mich selbst auf das Eis werfen und in Bambi-Manier freudig mit den Gliedmaßen rudern. 13.500 anderen Zuschauern geht es offenbar genau so, von Beginn an singen und klatschen sie ohrenbetäubend.

Zwei Dinge sollten zu Beginn über die Zuschauer gesagt werden, zumindest über jene, die mit mir in der Fankurve stehen. Erstens ist die frühere Identität des Klubs als SC, später EHC Dynamo Berlin noch allgegenwärtig. Immer wieder tauchen zwischen den riesigen, sponsorenübersäten Eisbärentrikots burgunderrote Dynamoschals und –shirts auf. Und wenn vor dem Anpfiff plötzlich ein markdurchdringender „Dynamo!“-Gesang erschallt und genau gleichzeitig eine (professionelle) Pyroshow abgebrannt wird, gelangt es an die Oberfläche, bricht hervor, schüttelt die Fesseln von Zeit und Raum ab, um übergroß ins Jetzt hineinzuragen, wie eine kollektive Halluzination oder ein Geist, den eine Séance materialisiert hat.

„Das sind die Wurzeln des Klubs und es ist extrem wichtig, dass sie Teil unserer Identität bleiben”, erklärt Micha, ein Fan mittleren Alters, der hinter mir steht. Zusammen mit seiner Frau Katrine kommt er seit 20 Jahren zu Eisbären-Spielen – seine Treue reicht aber sogar zurück bis in Vor-Wende-Zeiten. Den Stolz auf die 20 Meisterschaftstitel des Vorgängervereins merkt man ihm an – seine zärtlichsten Erinnerungen verbindet er aber eindeutig mit den Derbysiegen gegen die inzwischen in der Versenkung verschwundenen „Preussen“ (später „Capitals“), für lange Zeit West-Berlins erstes Eishockeyteam. Manche West-Berliner Hockeyfans suchten nach dem Lizenzentzug der Capitals im Jahr 2002 Zuflucht bei den Eisbären, laut Micha sind sie in der o2 World stets willkommen. Aber viel lieber sähe er ein Wiederaufleben der giftigen Atmosphäre der alten Derbys. Nach fünf Meisterschaften in den letzten sieben Spielzeiten sind die Eisbären indes ein würdiger Gegner für jeden Verein.

Das Zweite, was am Publikum der Eisbären überrascht, ist der hohe Frauenanteil, der dankenswerterweise nichts mit dem aufgemotzten Publikum der Fashion Week zu tun hat. Etwa ein Drittel der Zuschauer sind Frauen, ein höherer Anteil, als ich ihn je bei einem Fußballspiel gesehen habe. Katrine erklärt mir, dass Eishockey hier schon immer eine Familienangelegenheit gewesen sei. Wie meine liebe, runzelige Mutter mag auch sie es, wenn es auf dem Eis zur Sache geht. Währenddessen singen die beiden Mädchen vor mir (wenn sie nicht gerade wieder explodieren, weil ein Spieler der Heimmannschaft eine Zeitstrafe erhalten hat) unverdrossen: „Fußball ist doof!“

Warum die Eisbären eine seltene Spezies sind

Sandra (21) und Denise (22) verachten Fußball für seine hirnlosen Fans, seelenlose Klubs und geldscheffelnde Spieler. Die Eisbären dagegen, sagt Denise, böten massenhaft Dinge für Kinder an, die selbst mit dem Eishockeyspielen beginnen wollten. Und auch die Spieler seien zugänglich. „Sicher, die verdienen auch ordentlich Geld, aber die freuen sich richtig, wenn du sie in der Stadt triffst und mit ihnen reden willst.“ Sie ist also nicht nur hier wegen der großartigen Action und der wie führerlose Züge zusammenprallenden Spieler? „Natürlich nicht!“ sagt sie zaghaft mit einem beängstigenden Flackern in den Augen.

Vielleicht, weil sie beide mit dem Eislaufen groß geworden sind, sind die Ränge der O2-Arena (wer hätte gedacht, dass man beim Hockey stehen kann!) zu ihrem natürlichen Habitat geworden. Sie sind hingebungsvolle, aufmerksame und lautstarke Fans, die zu allem Überfluss auch noch alle komplizierten Klatschrhythmen beherrschen, die nachzuvollziehen ich bis zum Ende des Matches scheitere. Sie sind auch so selbstbewusst wie ihr Klub, der Wolfsburg in einem packenden 6:5-Krimi schlägt, in einem ausgeglichenen Match, das sich erst entscheidet, als auf der Riesenanzeigetafel über dem Spielfeld die letzten Sekunden herunterticken.

Die Eisbären sind wirklich eine seltene Spezies. Sie haben das Sieger-Gen nach Berlin gebracht, in eine Stadt, die nur zu oft ein Friedhof großer Ambitionen ist, im Sport oder sonst wo. Vielleicht repräsentieren sie damit aber auch die Zukunft Berlins – ohne Furcht, die Muskeln spielen zu lassen, zum Siegen verdammt und für Aufruhr sorgend, während zugleich die eigene Seele gewahrt bleibt. Dass sie zugleich ein Erbstück aus der DDR sind, sollte dabei niemandes Aufmerksamkeit entgehen. Viele Ost-Berliner haben das Gefühl, das zu wenig von dem wertgeschätzt wird, das aus dem Haus stammt, in das sie nie zurückkehren können.

Nur hier, zwischen Warschauer Straße und den trampelnden Füßen der internationalen Pillen werfenden Kids-Mafia, die blind durch Berlins nächtliches Utopia marschiert, findet sich Versicherung, Wiederaufleben und Beweis dafür, dass alle im vereinten Berlin etwas zu seinem zukünftigen Erfolg beitragen. Um es mit einem leicht abgewandelten Eisbären-Song zu sagen: Der Hauptstadtklub ist wieder da. Und dafür sollte die Hauptstadt wirklich sehr dankbar sein.

Aus dem Englischen übersetzt von Johannes Schneider.

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