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Gerd Müller (2.v. r) traf natürlich auch im Jahrhundertspiel gegen Italien.

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Dramatischstes Spiel der WM-Geschichte: „Sie fragten: 'Warum haste ihn nicht einfach umgehauen?'“

Vor 50 Jahren unterlag Deutschland im „Jahrhundertspiel“ Italien. Willi Schulz erinnert sich an eine epische Begegnung und einen folgenschweren Zweikampf.

Willi Schulz, 81, war einer der härtesten und auch besten deutschen Abwehrspieler seiner Zeit. Schulz spielte für Schalke 04 und den HSV. Für die deutsche Nationalmannschaft nahm er an drei Weltmeisterschaften teil, unter anderem 1970 in Mexiko, wo er mit seiner Mannschaft im Halbfinale auf Italien traf. Das Spiel, das fast genau vor 50 Jahren stattfand, gilt als das dramatischste Spiel der WM-Geschichte. Schulz erzählt im Interview, wie er es erlebte.

Herr Schulz, Sie haben mal gesagt: „Große, herausragende Spiele vergisst ein Fußballer nie, mögen sie auch Jahrzehnte her sein.“ Wie oft denken Sie nach einem halben Jahrhundert noch an das WM-Halbfinale von 1970 gegen Italien?
Um ehrlich zu sein, eher selten. Die Verdrängung hat bei mir eigentlich ganz gut funktioniert. Aber leider kitzeln ja Leute wie Sie die Erinnerung in regelmäßigen Abständen wieder wach.

Es ging damals gar nicht gut los. Schon nach acht Minuten lagen Sie 0:1 hinten.
Ja, leider. Wir waren eigentlich ziemlich gut vorbereitet. Vor allem unsere „Italiener“ im Team, Helmut Haller, der damals für Juventus spielte, und Carlo Schnellinger vom AC Mailand, hatten uns viel über unsere Gegenspieler erzählt. Italien hatte die drei Spiele der Vorrunde mit einem Torverhältnis von 1:0 absolviert. Wir wussten: Gegen sie in Rückstand zu geraten, war im Prinzip tödlich. Doch genau das passierte.

Torschütze war „ausgerechnet“ Ihr direkter Gegenspieler: Roberto Boninsegna.
Ein kreuzgefährlicher Mann. Und vor allem ein richtig guter Fußballer. Neben Pelé vielleicht der beste, gegen den ich in meiner Laufbahn gespielt habe.

Pelé, mit dem Sie dreimal die Klingen kreuzten, sagte über Sie: „Das Leben könnte so schön sein, wenn es diesen säbelbeinigen Schulz nicht gäbe.“ Ein vergleichbares Zitat von Boninsegna sucht man vergebens.
Das ist dann wohl so. Damit kann ich leben. Boninsegna fackelte nicht lange, nutzte jede Gelegenheit für einen Abschluss. Bei seinem Treffer wollte er eigentlich Doppelpass mit Luigi Riva spielen. Rivas Bewacher Berti Vogts ging dazwischen, legte Boninsegna dadurch den Ball aber unfreiwillig perfekt vor. Franz Beckenbauer und ich kamen beide zu spät. Ein trockener Linksschuss unten links ins Eck – und wir hatten den Schlamassel. 

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Die Italiener riegelten ab. Der berühmt-berüchtigte Catenaccio. Ein Fest für Taktikfans und Freunde des gepflegten Defensivfußballs. Ein Graus für alle anderen. Ihr damaliger DFB-Co-Trainer Jupp Derwall verpasste Ihnen den treffenden Spitznamen „Null-zu-Null-Willi“. Wie haben Sie das Spiel des Gegners wahrgenommen?
Mich hat es natürlich genervt. Aber auch begeistert. Im Nachhinein wird immer gesagt: Die Italiener hätten damals nur geholzt, theatralisch geschauspielert, Zeit geschunden und das Spiel zerstört. Das trifft es aber nicht. Das waren alles hervorragende Techniker. Die plötzlichen Tempowechsel, die schnellen Vorstöße von Facchetti oder Domenghini. Großartig! Meisterhaftes Umschaltspiel würde man heute dazu wohl sagen. Wir hatten hinten richtig zu tun, das können Sie mir glauben.

In den Anfangsminuten gehen Sie noch ein paar Mal mit über die Mittellinie. Später gar nicht mehr. Hat es Sie mit zunehmender Spieldauer, als Sie merkten, die Kugel will einfach nicht reingehen, nicht auch mal in den Füßen gejuckt, sich mit nach vorne einzuschalten?
Nein. Ich hatte ja eine ganz klare taktische Vorgabe. Und die hieß: Boninsegna decken. Ich hatte ja schmerzhaft zu spüren bekommen,
was passiert, wenn man dem auch nur etwas Platz lässt. Da war ich also durchaus lernfähig. Berti turnte dafür ab und an vorne rum und dann natürlich später unser Libero Carlo Schnellinger.

Selbst nach dessen erlösendem Ausgleich in der Schlussminute der regulären Spielzeit blieb die gegnerische Hälfte für Sie Tabuzone. Sie sind auf keinem der vielen Jubel-Fotos zu sehen. Anders als ihr Torwart, der einen 100-Meter-Sprint hinlegte, um dem Torschützen zu gratulieren.
Sepp hatte ja noch Luft, der ist ja zuvor nur in seinem Strafraum rumspaziert. Ich hab bewusst darauf verzichtet und mir die Körner gespart. Ich wusste ja: Da kommt jetzt noch was auf uns zu.

In der Tat. Da Sie sich so gut erinnern, müssen wir jetzt leider auch nochmal über die 111. Minute sprechen.
Ich hab’s befürchtet. Na gut, es nützt ja nix. Was wollen Sie hören? Ich sehe mich mit Boninsegna noch immer zur Torauslinie laufen. Er hatte den Ball, doch Gefahr bestand unmittelbar nicht.

Im Video kann man erkennen, dass Sie zum Tackling ansetzen wollen, dann aber kurz zögern. Gerd Müllers Motto war ja: „Wenn’s denkst, ist eh zu spät“ …
Stimmt. Vielleicht hätte ich das besser verinnerlichen sollen. Später in der Kabine hieß es denn auch, unter anderem vom Gerd: „Mensch, das ganze Spiel polierst Du dem die Knochen! Warum haste ihn nicht
einfach umgehauen?“

Was haben Sie denn gedacht? Warum kamen die berühmten Schulz‘schen Säbelbeine in diesem Moment nicht zum Einsatz?
Das lag an diesem Schiedsrichter. Yamasaki. Wo kam der nochmal her?

Er war ein in Lima geborener Peruaner mit japanischen Wurzeln. Bei den Weltmeisterschaften 1962 in Chile und 1966 in England hat er den peruanischen Fußballverband vertreten, danach ist er nach Mexiko ausgewandert und hat beim Turnier von 1970 unter der Flagge seiner neuen Wahlheimat gepfiffen.
Sehen Sie! Ein ziemliches Durcheinander … Und so hat der auch gepfiffen. Ich war mir sicher, er würde hier sofort Elfmeter geben. Außerdem dachte ich, ich hätte die Situation unter Kontrolle, aber Boninsegna hat mich überlistet. Er zog den Ball plötzlich im Winkel von 90 Grad in die Mitte. Dort stand Gianni Rivera ganz allein und schoss ihn ins Tor. 3:4, wir hatten endgültig verloren, Italien war im Endspiel.

War Ihnen das in diesem Moment klar? Immerhin waren da noch neun Minuten zu spielen. Und in dieser verrückten Verlängerung schien doch alles möglich …
Für mich war klar: Das war’s jetzt. Ich war fertig. Gerade hatten wir uns wieder rangekämpft, und dann dieser erneute Nackenschlag. Das war zu viel. Wir waren mit unseren Kräften und der Konzentration am Ende. Die Torflut in der Verlängerung resultierte aus der zunehmenden Müdigkeit aller Spieler. Wie ich in der Szene vor dem 3:4 haben wir alle die Situationen nur noch mit Verzögerung wahrgenommen. Fast wie in Zeitlupe.

Eine Torflut, die einen Defensivstrategen wie Sie natürlich mächtig geärgert hat, die Zuschauer im Stadion und an den Fernsehschirmen aber verzauberte.
Als Mitwirkender hat man kaum ein Gespür für die Qualität des Spiels. Man ist auf seine Aufgabe fixiert, nimmt die Zuschauermassen als schwarze Wand wahr. Dass wir trotz der Niederlage Großes geleistet hatten, sagten uns erst die begeisterten deutschen Fans, als wir mit hängenden Köpfen das Aztekenstadion verließen.

Willi Schulz, 81, nahm an drei Weltmeisterschaften teil. Sein größter Erfolg war die Vizeweltmeisterschaft 1966.
Willi Schulz, 81, nahm an drei Weltmeisterschaften teil. Sein größter Erfolg war die Vizeweltmeisterschaft 1966.

© picture alliance/dpa

Es gibt eine Fotografie, die Sie und ihren Gegenspieler Roberto Boninsegna nach dem Schlusspfiff beim Trikottausch zeigt. Eines der beeindruckendsten Bilder rund um dieses Spiel: Sie tätscheln dem Italiener die Wange. Fast zärtlich. Dazu lächeln Sie freundlich und wirken sehr gelöst.
Am Ende waren wir alle leer. Und irgendwie auch froh, dass es vorbei war. Wir hatten vorher beinhart geknüppelt, uns mit allen erlaubten und manchmal auch unerlaubten Mittel beharkt. Boninsegna hat auch ganz gut ausgeteilt, müssen Sie wissen. Aber er konnte auch einstecken und hat – was man hinterher ja vielen seiner Mitspieler angekreidet hat – überhaupt kein Theater gemacht oder geschauspielert. Das hat mir imponiert. Wir hatten Respekt voreinander und haben uns sportlich verabschiedet.

Verspürten sie überhaupt keinen Groll? Einige ihrer Mitspieler haben sich nach dem Abpfiff noch mal hochgefahren und wollten der Schiedsrichter-Kabine einen Besuch abstatten.
Ach was. Sicherlich, auch ich war tief enttäuscht. Und natürlich, die Leistung des Schiedsrichters war – vorsichtig gesagt – nicht ganz so gut. Aber so ist der Sport, das gehört doch auch zum Spiel. Damit muss man fertig werden und versuchen, das Beste draus zu machen. Und ich denke, das haben wir gemacht. Vielleicht lag es auch daran, dass ich schon ein bisschen Erfahrung mit solch bitteren Niederlagen hatte.

Sie meinen das Finale von Wembley, 1966. Auch da waren Sie ganz dicht dran. Sie persönlich in der spielentscheidenden Szene, dem berühmten 2:3, am dichtesten von allen. Sie hätten den Schuss von Geoff Hurst fast geblockt, kamen nur Sekundenbruchteile zu spät.
Schön, dass Sie mich auch daran nochmal erinnern müssen! Auch in Wembley hatten wir ja bekanntlich ein bisschen Pech mit dem Unparteiischen. Helmut Schön sagte hinterher in der Kabine: „Jungens, seid stolz! Ein guter Zweiter ist besser als ein schlechter Erster.“ Und wissen Sie was? Der Trainer hatte absolut Recht. Wir haben Haltung bewiesen und dadurch vielleicht sogar noch mehr Sympathien erworben, als wenn wir den Titel geholt hätten. Wir waren ein großer Verlierer. Hadern? Solche Gedanken hatte ich nie. Das passt nicht zu mir. Bringt auch nix!

Mehr als ein Spiel: 100 Seiten über das dramatischste Spiel der WM-Geschichte. Das Heft ist seit dieser Woche erhältlich.
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© Fussballgold.de

Und in Mexiko?
Da war es im Prinzip ganz ähnlich. „Gewinnen wollen, verlieren können“, hat mein Kapitän und Freund Uwe Seeler immer so schön gesagt. Abgesehen davon: Nach den beiden kräftezehrenden Verlängerungen gegen England und Italien wären unsere Chancen im Endspiel gegen die Brasilianer wohl eher gering gewesen. Diese Mannschaft mit den vielen Weltklasseleuten wie Carlos Alberto, Clodoaldo, Gérson, Tostão, Jairzinho, Rivelinho und natürlich Pelé war die beste, die ich je bei einer WM gesehen habe. So sind wir in Mexiko eben ein sehr guter Dritter geworden. Fertig!

Noch nicht ganz! Eine Sache war da noch: Im Spiel um Platz 3 gegen Uruguay waren Sie nur Zuschauer. Es hieß, Sie hätten ihre Fußballschuhe mit Absicht im Mannschaftsquartier vergessen. Ersatz in ihrer Größe war auf die Schnelle nicht aufzutreiben. Helmut Schön soll darüber nicht sehr amüsiert gewesen sein.
Ja, ja. Noch so eine alte Geschichte. Von der gibt es so einige Versionen. Sagen wir mal so: Absicht war es nicht. Ich schlug mich aber während des Turniers ständig mit einer Verletzung herum. Als ich zurück nach Hamburg kam, musste ich mich erst einmal am Meniskus operieren lassen. Und ob ich nun ein Länderspiel mehr auf dem Konto gehabt hätte oder nicht, wo ist da der Unterschied? Max Lorenz kam so auch noch zu seinem WM-Debüt. Er hatte es verdient.

Das „Jahrhundertspiel“ war somit Ihr 66. und letztes Länderspiel für Deutschland. Fiel der Abschied schwer?
Überhaupt nicht. Nicht vielen ist es vergönnt, mit so einem Spiel abzutreten. Für mich war es der ideale Zeitpunkt. Ich stand vor meinem 35. Geburtstag. Und wenn ich morgens nach einem Spiel aufstand, knackten die Knochen so laut, dass ich dachte, da läuft einer neben mir her. Ein untrügliches Zeichen für den Abschied.

Broder-Jürgen Trede

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