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Katy Pohl schöpft heute neue Kraft aus ihrer Arbeit beim Verein Doping-Opfer-Hilfe.

© Mike Wolff

Doping-Opfer im DDR-Leistungssport: „Sie hätten mir beinahe den Fuß abnehmen müssen“

Zum 20-jährigen Bestehen gibt es Zweifel an der Arbeit der Doping-Opfer-Hilfe. Katy Pohl versteht das nicht. Sie leidet schwer unter den Folgen des DDR-Sports.

Katy Pohl braucht eine kurze Pause. Das Gespräch ist anstrengend für sie. Sie blickt auf die Fotos, die vor ihr liegen und nimmt eines in die Hand. Die Qualität des Bildes ist schlecht. Darauf ist eine Läuferin mit einer Fackel in der Hand zu erkennen. Am Streckenrand stehen Kinder fein säuberlich aneinandergereiht. Sie beobachten das Mädchen gebannt. Die Läuferin ist Katy Pohl selbst. Es zeigt sie beim Eröffnungszeremoniell einer Spartakiade. Das Foto muss Ende der 1970er Jahre geschossen worden sein. Zu jener Zeit war es im Sportwunderland DDR eine große Auszeichnung, die Fackel bei der Spartakiade, den Sportwettkämpfen der Kinder und Jugendlichen, tragen zu dürfen. Doch Pohl erinnert sich nicht besonders gerne an jenen Tag.

Schon wieder muss sie durchschnaufen während dieses Termins in Berlin- Mitte. Die Reise in die Vergangenheit ist für sie eine Fahrt ins Dunkle. „Ich weiß noch, wie sich der Wind drehte und ich mir fast den Rücken verbrannt habe, als ich nach dem Entfachen der Flamme vor der Feuerschale stand“, erzählt sie. Dann streckt Pohl den Arm nach oben, als würde sie immer noch die Fackel in der Hand halten. „Ich wagte trotz der Schmerzen nicht, einen Schritt beiseite zu treten.“

Katy Pohl war ein Opfer des DDR-Sportwahns

Das Zeremoniell zu unterbrechen, diese Option gab es damals nicht für sie. Aufgeben galt generell nicht im DDR-Sport. Vielleicht war die DDR auch deshalb in Relation zur Einwohnerzahl das mit Abstand erfolgreichste Land bei Olympischen Spielen. Das ist die eine Seite des DDR-Sports. Die andere ist, dass das Land wegen dieser Härte und dieser bedingungslosen Hingabe, die es von seinen Sportlern einforderte, die Leben vieler junger Menschen zerstörte.

Ein Opfer des DDR-Sportwahns war Katy Pohl. Auch sie wird am Dienstag in Berlin dabei sein, wenn die Doping-Opfer-Hilfe (DOH) in den Räumen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ihr 20-jähriges Bestehen feiert. Aber ob es eine echte Feier wird, ist noch unklar. Denn es ist nicht besonders gut bestellt um den Verein.

Die DOH kämpft um ihr Fortbestehen. Einst war sie bewundert worden. Sie galt als Beleg dafür, dass es die Deutschen ernst meinen mit der Aufarbeitung der dopingverseuchten Vergangenheit im DDR-Sport. Die Doping-Opfer-Hilfe wurde gegründet, um auf das Leid der Geschädigten insbesondere des DDR-Sports aufmerksam zu machen und sie in Rehabilitierungsverfahren zu beraten. Konkret hilft die DOH den betroffenen Menschen dabei, medizinische Gutachten zu organisieren, auf Grundlage derer die Opfer eine einmalige Entschädigungszahlung in Höhe von derzeit 10 500 Euro ausgezahlt bekommen. Allein unter dem Vorsitz von Ines Geipel in den Jahren 2013 bis 2018 erkämpfte die DOH 13,65 Millionen Euro an Steuermitteln. Streit gibt es trotzdem.

Katy Pohl beim Volleyball in jungen Jahren. Das Trainings zu DDR-Zeiten war hart, gespielt wurde mitunter auf harten Schlackeplätzen.
Katy Pohl beim Volleyball in jungen Jahren. Das Trainings zu DDR-Zeiten war hart, gespielt wurde mitunter auf harten Schlackeplätzen.

© Privat

Frühere Gefolgsleute um den Molekularbiologen Werner Franke haben sich vom Verein losgesagt. Sie glauben, dass es die DOH übertreibt mit der Zahl der Opfer, beziehungsweise dass der Verein unter dem neuen Vorsitzenden Michael Lehner den Opferbegriff überstrapaziert. Denn die DOH setzt sich inzwischen sogar für die psychisch Leidtragenden der zweiten Generation ein, also für die Kinder von Geschädigten des DDR-Leistungssports. Vielen geht das zu weit.

So hält auch der emeritierte Potsdamer Sporthistoriker Hans Joachim Teichler dies für eine „sehr weite Auslegung“ des Opferbegriffs. Es ist eine höchst emotionale Debatte, die für manche Zweifel aufkommen lässt an der Arbeit der DOH und damit auch ein bisschen Zweifel an der Berechtigung bisher getätigter Entschädigungszahlungen. Das stimmt vor allem jene traurig, die bis heute schwer leiden an den Folgen des DDR-Sportwahns. Zu diesen Menschen zählt Katy Pohl.

Die 53-Jährige ist eines von aktuell rund 1200 anerkannten Dopingopfern. Für Pohl wie für viele andere gilt, dass die Summe von 10 500 Euro niemals eine Entschädigung dafür sein kann, was ihnen angetan worden ist. „Aber darum geht es nicht“, sagt Pohl. Es gehe ihr um den moralischen Wert, um die gesellschaftliche Anerkennung, dass ihr Leid zugefügt worden sei.

Pohl ist körperlich wie seelisch schwer angeschlagen. Ihre Krankenakte ist endlos. Sie leidet unter anderem an Epilepsie, Multiple Sklerose, Depressionen, schwerer Arthrose, Hautheilungsstörungen und einem Tumor im Knie. In ihrem Körper bilden sich zudem ständig irgendwo Zysten. Nun ist nicht jedes einzelne Leiden auf ihre sportliche Vergangenheit in der DDR zurückzuführen. Aber mehrere Fachärzte sind zu dem Schluss gekommen, dass der DDR-Leistungssport großen Einfluss auf ihre Gesundheit ausgeübt hat. Pohl ist nicht mehr arbeitsfähig.

Pohl arbeitet für die Doping-Opfer-Hilfe

Während sie das alles an einem kalten Novembertag in Berlin erzählt, sitzt sie in den Räumen der Beratungsstelle der Doping-Opfer-Hilfe. Sie arbeitet ehrenamtlich für den Verein und ist Mitglied des Vorstandes. Neben ihr brodelt der Kaffee, aber sie wird keinen trinken. „Ich bin jetzt schon ohne Koffein aufgeregt“, sagt sie. Die Erinnerungen bringen viel persönlichen Unrat an die Oberfläche. Ihren dicken Pullover hat sie ausgezogen, über ihrem T-Shirt ist eine Narbe sichtbar.

„Das kommt von einer Brust-OP“, sagt sie. Mit 25 Jahren bekam sie die Diagnose Vorstufe Brustkrebs, danach hatte sie zwei Fehlgeburten. Das Leben hielt verdammt viele Schicksalsschläge für die Frau bereit. Einer davon war der Sport in einem autoritären Land. „Dabei wollte ich damals nur das machen, was mir großen Spaß machte: Volleyball spielen“, sagt sie.

Sie zeigt ein weiteres Foto. Pohl ist darauf etwa zehn Jahre alt, sie baggert einen Ball auf einen Schlackeplatz. Auffallend sind ihre langen Beine. „Ich war groß, ich war perfekt für den Volleyball“, sagt sie. Das sahen auch die Scouts des DDR- Sports so. Kaum ein Talent entging ihnen im engmaschigen Netz des Leistungssports. Und so saß Ende der 1970er Jahre eine Trainerin des Sportclubs Traktor Schwerin im Wohnzimmer ihrer Eltern und verhandelte mit ihnen über ihre Zukunft. „Ich wollte nicht in den Sportclub“, erzählt Pohl. „Weil ich wusste, wie hart das Training sein würde.“ Aber was sie wollte, spielte nur bedingt eine Rolle.

Der Sport ging vor in der DDR. Zudem waren ihre Eltern nicht gerade vermögend. Es reichte zum Leben, aber Pohl hatte noch drei Geschwister. Große Sprünge konnte die Familie nicht machen. In den Spezialschulen für sportliche Talente, den sogenannten Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), wurde auf den ersten Blick ordentlich für Nachwuchstalente gesorgt. „Es gab dort für DDR-Verhältnisse gutes Essen“, erinnert sich Pohl. „Fleischgerichte mit Nachspeise. Das war für uns schon etwas Besonderes.“

Katy Pohl als Fackelträgerin bei der Spartakiade. Die heute 53-Jährige erinnert sich eher ungern an diesen Tag.
Katy Pohl als Fackelträgerin bei der Spartakiade. Die heute 53-Jährige erinnert sich eher ungern an diesen Tag.

© Privat

So nutzten die Entscheider des DDR-Sports sicher auch die Notlage vieler Familien aus. In der Rekrutierung junger Talente waren sie vor allem in sozial schwächer gestellten Haushalten erfolgreich. Aufgeklärte Eltern lehnten eher mal Anfragen der KJS-Vertreter oder der mit den KJS kooperierenden Sportclubs ab. In ihren Kreisen hatte es sich herumgesprochen, dass die DDR-Sportschulen nicht unbedingt zum Wohl der Kinder beitrugen. Sondern dass genau das Gegenteil der Fall war.

Pohls Eltern ließen sich überreden und überredeten folglich auch ihr Kind, es an der KJS zu versuchen. Mit Beginn der achten Klasse ging für die damals 13-Jährige die Knochenmühle los. Ihr Pensum an der Kinder- und Jugendsportschule in Schwerin betrug rund 30 Stunden Training in der Woche. „Wir wurden im Training hart rangenommen“, erzählt sie. Die Regeln waren streng. „Wir standen ständig unter Beobachtung und fühlten uns permanent unter Termindruck, entweder war Schule, Training oder Essenszeit“, sagt Pohl. Schlimmer als die Regeln an sich war aber die Züchtigung, wenn man diese nicht einhielt.

Pohl erinnert sich, wie sie und ihre Leidensgenossinnen einmal die Nachtruhe um 21 Uhr nicht beachteten und sich auf dem Flur befanden. Der Zeiger hatte die erlaubte Zeit um gerade mal fünf Minuten überschritten, als ein Trainer kam. „Wir sollten uns sofort unsere Trainingsklamotten anziehen.“ Bis spät in die Nacht mussten die Mädchen in der angrenzenden Sport- und Kongresshalle laufen und Strecksprünge machen. Pohls Knie waren danach dick geschwollen.

„Der Verschleiß war für mich zu hoch“

Was sie heute ziemlich sicher weiß: Sie litt schon früh unter einer Störung des Knochenstoffwechsels. Ihr Körper war schlicht nicht gemacht für die harten Anforderungen. „Der Verschleiß war für mich dort zu hoch. Ich hätte gar nicht trainieren dürfen“, sagt Pohl. Doch sie trainierte immer weiter. Ihr Aufenthalt wurde zur Tortur.

Wegen des Trainingspensums litt Pohl an Schwellungen speziell an den Hand- und Kniegelenken. Mit viel Überwindung schaffte sie es dennoch in den erweiterten Kaderkreis der Jugendnationalmannschaft. Pohl war sehr talentiert. Sie konnte auf mehreren Positionen spielen und hatte ein gutes Gefühl für die Spielsituation. Aber das Spiel gegen ihren kranken Körper konnte sie unter diesen Bedingungen nicht gewinnen.

Immer wieder bremsten sie Verletzungen. „Einmal hatte ich ein Abszess am Fuß“, erzählt sie. Der Trainer habe sie trotz ihrer Bedenken aufgefordert zu spielen. Pohl spielte und landete schließlich im evangelischen Krankenhaus in Leipzig. Der Turnierarzt hatte eine Notoperation angeordnet, die sie vor einer Blutvergiftung rettete. „Sie hätten mir beinahe den Fuß abnehmen müssen“, sagt Pohl. Eine Krankenschwester fragte sie anschließend, warum sie mit dem verletzten Fuß spielte. „Aber was sollte ich sagen? Meinen Trainer vor den Ärzten beschuldigen? Wir sind alle unterdrückt worden, waren sprachlos. Wir konnten uns nicht wehren“, sagt Pohl. „Das Zwangssystem war stärker als wir.“

Katy Pohl (vorne rechts) war eine talentierte Spielerin beim Sportclub Traktor Schwerin. Doch der Drill in den DDR-Sportzentren macht ihr zu schaffen.
Katy Pohl (vorne rechts) war eine talentierte Spielerin beim Sportclub Traktor Schwerin. Doch der Drill in den DDR-Sportzentren macht ihr zu schaffen.

© Privat

Auch das ist ein wichtiger Punkt in der aktuellen Debatte um die Dopingopfer: Inwiefern rutschten die Sportler in dieses System hinein? Wie wehrlos waren sie? Und hätten sie nicht irgendwann sagen können, dass sie genug haben vom Leistungssport? Manche haben genau das getan, viele aber haben wie Pohl geschwiegen – weil sie zum Schweigen erzogen worden waren und sicher auch, weil der Druck nicht nur von den Trainern kam, sondern mitunter von den eigenen Eltern. So erzählt der Sporthistoriker Teichler, dass die Eltern mitunter sogar so weit gegangen seien und leistungssteigernde Mittel für ihre Kinder eingefordert hätten.

Das taten die Eltern von Katy Pohl nicht. Dass sie aber Dopingmittel bekam, davon ist sie inzwischen überzeugt. Pohl erzählt, wie sie bei Traktor Schwerin jeden Tag eine Kiste angeblicher Vitamindrinks zum Training geschleppt hätten. „Von der Konsistenz her war das wie bei Smoothies“, sagt sie. Die Farbe sei gelb-rötlich gewesen und der Geschmack unnatürlich. „Aber niemand von uns vermutete, dass das Zeugs Doping war.“ Pohl versuchte später herauszufinden, was sie und ihre Mitspielerinnen damals zu sich nahmen. „Aber über die Zeit bei Traktor Schwerin sind keine Gesundheitsakten mehr auffindbar“, sagt Pohl. Dass es sich bei den Drinks wohl um Doping handelte, bestätigte ihr viele Jahre später ein medizinischer Gutachter.

Dieser hatte früher an der Universitätsklinik Rostock gearbeitet, die unter anderem für den Sportclub Traktor Schwerin zuständig war. Der Gutachter wusste Bescheid über die Geheimnisse von Traktor. „Er sagte zu mir, dass ich vielleicht glaube, nicht gedopt zu haben, aber dass ich gedopt worden sei.“ Pohl wurde von dem Mann auf Lebenszeit verrentet. Doch die Gewissheit, gedopt worden zu sein, machte sie monatelang zu einem Seelenbündel, wie sie sagt. Zumal ihre Geschichte im DDR-Leistungssport nur wenige helle Momente hatte.

Zu beeinträchtigt für eine Volleyball-Karriere

Pohl war körperlich und mental zu stark beeinträchtigt, als dass sie eine große Karriere im Volleyball hätte einschlagen können. Auf die Schinderei folgten nur wenige Belohnungen in Form sportlichen Erfolgs. Mit 16 Jahren flog sie schließlich aus dem Sportclub – mit einer fadenscheinigen Begründung. Von einem Tag auf den anderen war sie nicht mehr im sogenannten Westreisekader. Der Grund: Ihre Mutter wurde beschuldigt, sich unerlaubt im Westen aufgehalten zu haben.

„Dabei war sie dort nur kurz zu Besuch, angemeldet hatte sie das ebenfalls“, erzählt Pohl. So endete die kurze Karriere der Volleyballerin Katy Pohl in der DDR. Drei Jahre später stellte ein Orthopäde fest, dass der Zustand ihrer Knie dem einer 50-Jährigen gleichen würde. Es folgten die Brustoperationen, die Fehlgeburten und mit den Jahren viele weitere gesundheitliche Rückschläge.

Pohl hat viele Jahre nach einem neuen Sinn in ihrem Leben gesucht. In der Arbeit für die Doping-Opfer-Hilfe, sagt sie, habe sie ihn gefunden. „Ich habe Probleme mit mir als Person, aber ich kann für andere kämpfen. Ich war immer eine gute Teamplayerin.“ Katy Pohl hat jetzt genug erzählt, sie ist müde und steht auf zur Verabschiedung. Am frühen Morgen hatte sie ja schon einen anstrengenden Termin. Sie war bei der Physiotherapie.

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