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Sport: Die neue Großmacht

Von Martin Hägele Saitama. In der Tokioter Vorstadt Urawa, dem fußballverrücktesten Flecken von ganz Japan, ist es nur zwei Kreuzungen weg vom Quartier der Türken, wo es vor Jahren jedes Mal zu einem Volksauflauf gekommen, wenn Weltmeister Guido Buchwald von der Geschäftsstelle der Red Diamonds zur U-Bahn-Station spaziert ist.

Von Martin Hägele

Saitama. In der Tokioter Vorstadt Urawa, dem fußballverrücktesten Flecken von ganz Japan, ist es nur zwei Kreuzungen weg vom Quartier der Türken, wo es vor Jahren jedes Mal zu einem Volksauflauf gekommen, wenn Weltmeister Guido Buchwald von der Geschäftsstelle der Red Diamonds zur U-Bahn-Station spaziert ist. Am Sonntag will sich das türkische Team mit jenem Titel schmücken, den Buchwald 1990 aus Rom mitgebracht hatte.

Schon vor dem Halbfinale am Mittwoch gegen Brasilien bahnt sich Großes an im Hotel „Royal Pin“. Die letzten drei Minuten vor der Pressekonferenz des Trainers Senol Günes werden heruntergezählt, wie man das sonst nur von Cape Canaveral kennt. „The coach is coming“, schreit einer, bevor Günes in den Bankettsaal schreitet. Vor ihm der Presseoffizier, nach hinten sichert ein muskulöser Mann im Trainingsanzug ab. Der Gedanke an Astronauten lässt einen nicht los. Da sind Leute in eine Mission hineingeraten, die ein paar Nummern zu groß für sie ist. Und das zu einem Zeitpunkt, „wo es im Weltfußball keine Großen und keine Kleinen mehr gibt“. Das stammt aus dem Vortrag, den der 49-jährige Günes hält.

Er hat viel Pathos hineingeschrieben in diese Rede, die er für sein Volk hält, das 48 Jahre lang auf diesen Tag gewartet hat. Zum einzigen Mal war sein Land 1954 in der Schweiz bei einer WM dabei, bei jenem Turnier, das die Deutschen so sensationell gewonnen hatten. Nun wollen Günes und seine Leute eine ähnliche Geschichte schreiben. „Unsere Erinnerungen werden der Traum unserer Kinder sein“, sagt er. Kein Zweifel, er fühlt sich als Fußball-Messias, und kein Vergleich ist ihm groß genug: „Wir haben Pelé und Beckenbauer bewundert. Und jetzt stehen wir an der gleichen Stelle.“

Noch kommt es den Beobachtern ungewohnt vor, diese neue Großmacht auch in jenem Rahmen zu würdigen, wie es dieser Fußball-Muezzin verkündet. In Zukunft solle man die Copacabana und die Strände des Schwarzen Meeres in einem Atemzug nennen, wenn darüber gesprochen werde, wo die Wiegen der besten Fußballspieler stünden. Und irgendwie passt auch diese Botschaft, in der von Liebe und vom Frieden der Völker die Rede ist und auch davon, dass Revanche nur für Menschen mit niederen Instinkten zähle. Irgendwie passt fast alles, was Senol Günes erzählt, nicht zu jener Atmosphäre, die beim Halbfinale in Saitama ohne Zweifel herrschen wird. Ist dieser Trainer nicht doch nur ein Phantast, den ein Großteil der Journalisten seines Landes nicht ernst nimmt? Ein Provinzpascha, den man in Istanbul erst dank der Erfolge der vergangenen Wochen beachten muss? Wie ist zu bewerten, dass die Spieler praktisch das Gegenteil von dem behaupten, was ihr Chef sagt?

Etwa zu Rivaldo, dessen Schauspielerei beim verlorenen Gruppenspiel (1:2) den Türken eine Rote Karte eingebracht hat. Günes legt den Mantel barmherzigen Vergessens über diesen Vorfall. Der Abwehrspieler Alpay sagt: „Ich werde mich in den ersten zwanzig Minuten persönlich um Rivaldo kümmern, obwohl ich schon mit einer Verwarnung vorbelastet bin.“ Bei der EM 1996 in England hatte Alpay noch den Fairnesspreis erhalten, weil er einen durchgebrochenen Stürmer ein Tor erzielen ließ, anstatt ihn branchenüblich umzureißen und die Rote Karte zu kassieren. Die Fußballwelt ist aus den Fugen geraten. Und die Frage, auf wen oder was man sich hier noch verlassen kann, ist nach einem Besuch im türkischen Lager noch schwerer zu beantworten als zuvor.

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