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Beim Länderspiel der Niederlande gegen England wurde um das verstorbene Fußball-Idol Johan Cruyff getrauert.

© REUTERS

Die Leere nach dem Tod des Fußball-Idols: Johan Cruyff machte uns Spaß, Holländer zu sein

Der Tod von Johan Cruyff hinterlässt eine große Lücke in den Niederlanden. Unser Gastautor, ein holländischer Historiker, erklärt wie wichtig er für das Nationalgefühl des Landes war.

Die Deutschen, immer wieder die Deutschen. Die sind immer wieder als Sieger vom Platz gegangen. Den Holländern bereitete das lange Frust, wobei man sich auch gerne gegenüber den Deutschen profilierte. Denn die beiden Länder sind einander schon nah, und der Fußballplatz war der geeignete Platz sich zu unterscheiden. Das mag kindisch scheinen, und ist es wohl, aber hatte auch mit einer Art Kriegsbewältigung zu tun. Denn die „Babyboomer“, zu den Johan Cruyff mit dem Jahrgang 1947 gehörte, glaubten Widerstandskämpfer zu sein. Nicht im Krieg, sondern im Alltag, der freier und abenteuerlicher sein sollte als das Leben der Eltern.

Dabei schmerzt die Niederlage im WM-Finale 1974 in den Niederlanden immer noch. Die Holländer glauben, sie seien damals in München die bessere Mannschaft gewesen. Jeder, der das Spiel an diesem 7. Juli gesehen hat, weiß, dass die Deutschen an diesem Tag die abgeklärtere Elf waren. Aber hier geht’s nicht um Fakten, sondern den Mythos. Es war der unnachahmliche Philosoph Cruyff, der selbst gesagt hat, dass es für den Ruhm und Ruf des holländischen Fußballs besser war, dass dieses Finale 1974 verloren wurde.

Es machte Spaß, Holländer zu sein

Cruyff stand für eine neue Lebensart, obwohl er in seinem Privatleben eher ein klassischer Familienvater war und kleinbürgerlich wirkte, sein eigener Vater war gestorben, als Johan 14 Jahre alt war. Mit seiner Jugend und langen Haare passte er aber genau ins Bild des rebellischen Amsterdam der sechziger und siebziger Jahre. Cruyff war bestimmt nicht der einzige Star: Es gab mehrere Spieler, die gut waren, die aber nicht seine Persönlichkeit hatten. Mit ihrem revolutionären und überheblichen Spielstil – die englische Presse sprach vom „Total Football“ – verkörperten die siegreichen Fußballspieler einen Nationalstolz bei einem Volk, dass sich als tolerant und weltoffen verstand. Wir waren die Kleinen, aber unsere Taten waren großartig und besonders. Cruyff wurde oft mit Rembrandt verglichen, als ob er ein Künstler war. So trug der Fußball – und vor allem der himmlische Cruyff - auch zur Emanzipation der Massen und Demokratisierung der Gesellschaft bei. Es machte Spaß, Holländer zu sein. Jeder Ausländer kannte Cruyff, also uns, und die ganze Welt schien Sympathie für uns fliegende Holländer zu haben. Immer, wenn man angab aus Holland zu kommen, empfing uns ein Lächeln, und Worte wie „Cruyff“, „Ajax“ oder später, vor allem in Italien, „Gullit“ und „Van Basten“ oder „San Marco“.

Ich muss gestehen, dass ich das irgendwie selbstverständlich fand, was auch auf eine gewisse Arroganz hindeutet. Denn so sympathisch sind wir Holländer nun auch wieder nicht. Als wir auf der Verliererstraße waren, besonders gegen deutsche Mannschaften, haben manche Akteure die Disziplin verloren und sich unsportlich verhalten. Auch Johan Cruyff, der immer mit dem Schiedsrichter ins Gefecht ging und keine Autorität akzeptierte. Ironischerweise war Cruyff als Person kein Beispiel für Freiheit und Demokratie, sondern ein Diktator. Obwohl er ein sozialer Mensch war, und mit seinen Stiftungen viel für arme, junge Leuten und Behinderte auf den Sportplatz getan hat, war er eine absolute Führungspersönlichkeit. Wer ihm nicht zustimmte, konnte gehen und wurde von seinen „Bewunderern“ verpönt. Der Fußball war ja auch Krieg, wie sein Trainer und „General“ Rinus Michels  mal gesagt hat.

Die totale Offensive war die Philosophie des Johan Cruyffs

Die Deutschen werden aber verstehen, dass der Fußball wichtiger ist als nur die wichtigste Nebensache der Welt. Der Torschrei von 1954 klingt immer noch nach, als die Deutschen zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wieder stolz sein konnten. Sie holen sich mittlerweile die Siege auf dem Sportplatz, nicht auf dem Schlachtfeld, wo es fast nur Verlierer gibt. Für ein kleines stolzes Volk wie die Niederländer war das immer schon unmöglich. Für Holländer geht es nicht nur um Siege auf dem Sportplatz, denn jedes Land hatte seine Erfolge - auch die Dänen und die Griechen sind mal Europameister gewesen. Vor allem geht es um die Art und Weise, wie man gewinnt. Das soll mutig geschehen, mit totaler Überzahl im Angriff. Das feige Konterspiel war immer den Deutschen zugedacht. Die totale Offensive, als ob es überhaupt keinen Gegner gab, war die Spielart und Philosophie des Johan Cruyffs.

Diese holländische Spielart ist eigentlich schon tot, denn bei den letzten Weltmeisterschaften in Südafrika und Brasilien war „Oranje“ erfolgreich mit deutschem Konterspiel, während die Deutschen ihre Spiele mit schönem Angriffsfußball gewannen und sogar Weltmeister wurden. Die Deutschen haben jetzt ihr neues Sommermärchen. Genießen Sie es, denn es währt nicht für die Ewigkeit.

„Holland, Holland, alles ist vorbei!“, sangen die deutschen Schlachtenbummler als „Oranje“ sich 2002 nicht für die WM qualifizierte, so wie auch die nächste EM in Frankreich ohne die Niederlande stattfinden wird. Das wird ein Sommerloch. Aber die größte Leere hinterlässt der Tod von Johan Cruyff, denn ohne Johan ist Holland ein normales Land wie jedes andere. Das passt uns Holländern ganz und gar nicht.

Dirk-Jan van Baar ist Historiker in den Niederlanden und Gastautor des Tagesspiegels.

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