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Fixpunkt. An Christian Gentner (Mitte) sollen sich in dieser Saison die Spieler des 1. FC Union orientieren.

© Annegret Hilse/Reuters

Der Neue von Absteiger VfB Stuttgart: Christian Gentner soll das Spiel des 1. FC Union stabilisieren

Der zentrale Mittelfeldspieler wechselte ausgerechnet vom Relegationsgegner zu den Berlinern. Trainer Urs Fischer vertraut seiner großen Erfahrung.

Von David Joram

Mal ganz grundsätzlich gesehen üben Profifußballer einen schönen Beruf aus. Sie sind häufig an der frischen Luft, dürfen sich viel bewegen und werden, wenn sie eine halbwegs clevere Beraterfirma kennen, mit vernünftigen Gehältern vergütet. Ein paar hässliche Seiten bringt der schöne Job aber auch mit sich. Wenige werden das besser wissen als Christian Gentner, der mit dem VfB Stuttgart erst im vergangenen Mai den wohl traurigsten Moment seiner sportlichen Karriere erlebte. Mit den Schwaben ist „LeGente“, wie sie ihn in Stuttgart nennen, abgestiegen. Es war der Untergang eines sportlichen Dickschiffs.

Am 1. FC Union zerschellten die Stuttgarter in der Relegation, gegen einen standhaften wie gelassenen Trainer Urs Fischer, der am Freitag über Gentner sagte: „Er ist ein Spieler mit einer tollen Erfahrung. Ich glaube, gerade zu Beginn braucht’s dann eben auch Ruhe auf dem Feld. Spieler, die Verantwortung übernehmen.“ Und das soll bei den Köpenickern am besten schon im ersten Bundesliga- Spiel ihrer Geschichte am Sonntag gegen RB Leipzig (18 Uhr, Stadion An der Alten Försterei und live bei Sky) eben Christian Gentner, 34, sein. Ein Absteiger, unken die wenigen Skeptiker. Eine Stuttgarter Legende, finden die vielen Befürworter des Transfers.

Für die Legenden- Version spricht vermutlich mehr. 2007 gehörte Gentner jener stürmischen VfB-Elf an, die den fünften Meistertitel nach Stuttgart holte. 278 Erstligaspiele hat Gentner für den VfB gemacht. Er sei der vielleicht „letzte treue Husar der Liga“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“; einer, der sogar den VfB-Brustring trug, nachdem ein paar Tage zuvor sein Vater gestorben war. Das war im Dezember 2018. Auch als sich Gentner im September 2017 gegen Wolfsburg Augenhöhle, Oberkiefer und Nasenbein brach, kehrte er nur neun Wochen später wieder wie selbstverständlich auf den Platz zurück. Alles für den Klub – der jetzt Union heißt.

Mit seiner Vita ist Gentner der spannendste von stolzen elf Neuzugängen, die Union in diesem schönen Aufstiegssommer holte. Zweierlei lässt sich in diesen Wechsel hineininterpretieren. Zunächst, dass Manager Oliver Ruhnert nur nach einem Kriterium seine Spieler aussuchte: Bringen sie das aktuelle Team weiter oder nicht? Gentner, der 2009 mit Wolfsburg ebenfalls die Schale holte, hat seine beste Zeit und seine größten Erfolge schon hinter sich. Seine sportliche Perspektive ist zeitlich sehr begrenzt – und der VfB wollte ihn nicht mal mehr in der Zweiten Liga weiterbeschäftigen. Was Gentner, der bislang stattliche 377 Mal in der Bundesliga für Wolfsburg und Stuttgart auflief, also nicht ist: so angesagt wie Berlin. Was Gentner aber werden könnte: so wertvoll wie noch nie, jedenfalls in diesem Klub. „Man hat versucht, Spieler zu holen, die mehr Qualität als die bisher Vorhandenen haben“, sagt Michael Parensen, der seit über zehn Jahren bei Union spielt. Das dürfte mit Gentners Verpflichtung gelungen sein.

Absprache nur mit Michael Reschke

Zweitens weist der Transfer aber auch daraufhin, dass Unions sportliche Leitung seinen Aufstiegshelden die Erste Liga nur partiell zutraut. Gentners Position bekleidete in der vergangenen Runde Manuel Schmiedebach, ein ausgezeichneter Zweikämpfer und umsichtiger Stabilisator, sogar einer mit Erstligaerfahrung. Aber die Spieltage von Schmiedebach, neben dem Feld eher Leisetreter denn Lautsprecher, dürften wegen Gentner nun gezählt sein. Lediglich Torwart Rafal Gikiewicz, Innenverteidiger Marvin Friedrich, Kapitän und Rechtsverteidiger Christopher Trimmel und der zentrale Mittelfeldspieler Grischa Prömel scheinen gesetzt zu sein, auch wenn das Trainer Fischer zufolge für niemanden gilt, auch für Gentner nicht. „Gesetzt würde ich nicht sagen, schauen wir mal“, sagte Fischer. Allerdings auch, dass es Spieler brauche, „die helfen, die entsprechend kommunizieren“.

Was kommunikative Dinge betrifft, hat Gentner beim VfB einiges gelernt. Er hat immerhin 17 Jahre lang in einem Umfeld verbracht, das im Falle von Misserfolgen dazu neigt, besonders kräftig am Rad zu drehen. Im Mai war das wieder zu beobachten, als Gentners Stuttgarter gegen jene Unioner spielten, die jetzt Gentners Unioner sind. 2:2 endete das Hinspiel in Stuttgart. Hernach schlichen die VfB-Profis wie geprügelte Hunde in die heimische Fan-Kurve, die in Stuttgart „Cannstatter Kurve“ heißt. Was sie dort zu sehen und hören bekamen, waren Mittelfinger, vor Wut verzerrte Fratzen und wüste Pfiffe. Die Spieler, Gentner voran, stellten sich trotzdem. Um Verständnis zu werben schien aber zwecklos. Im Rückspiel, der VfB war nach einem 0:0 ab- und der 1. FC Union aufgestiegen, war es Gentner, der im Stadionbauch in die Mikrofone der Reporter sprach, die Stimme leise, der Blick leer. „Es ist aus der Emotion heraus der völlig falsche Zeitpunkt, irgendwelche Dinge rauszuhauen“, sagte er damals. Das war ein kluger Satz.

Weniger klug war es, dass Gentner seine Optionen beim VfB nicht auf Papier festhielt. Eine Absprache habe es wohl gegeben – aber nur mit VfB-Sportvorstand Michael Reschke, der am Saisonende nicht mehr Sportvorstand war. „Eine Lehre ist sicher, dass ich mich nicht mehr allein auf Gespräche verlassen sollte“, sagte Gentner der „Stuttgarter Zeitung“. „Der Fußball ist insgesamt so schnelllebig, dass ich Absprachen mit dem jetzigen Wissen schriftlich fixieren würde.“ Weil er das nicht hat, führt er seinen schönen Beruf nun in Berlin fort.

So könnte Union spielen: Gikiewicz – Trimmel, Friedrich, Schlotterbeck, Lenz – Prömel, Gentner – Becker, Ingvartsen, Bülter – Ujah.

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