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Sport: Der kleine Mann des deutschen Fußballs

Trotz großer Erfolge als Spieler und Trainer musste Berti Vogts immer um Anerkennung kämpfen / Eine Würdigung zum 60. Geburtstag

Einsam und verlassen sitzt Berti Vogts im kurzärmeligen weißen Hemd an einem für zehn Personen eingedeckten runden Tisch. Der linke Arm ruht scheinbar lässig auf der Rücklehne des leeren Stuhls neben ihm. Die rechte Hand liegt schlaff auf der blauen Tischdecke. Der Kopf ist gesenkt. Ein Bild des Jammers.

Es ist der Abend des 10. Juli 1994. Am Nachmittag hat Deutschland im Giants- Stadium von New York das Viertelfinalspiel der Weltmeisterschaft gegen Bulgarien 1:2 verloren. Der Titelverteidiger ist draußen. Der Schuldige am Debakel? Natürlich der Bundestrainer. Die „Bild“-Redaktion formuliert ein Kündigungsschreiben und donnert: „Unterschreiben Sie hier!“ Berti Vogts reagiert mehr tapfer als trotzig: „Ich lag schon so oft am Boden, ich bin immer wieder aufgestanden. Ich sage mir: Verdammt, jetzt geh dagegen noch mal an.“

Zwei Jahre später. „Berti, Berti“, intoniert der deutsche Fanblock im Wembley-Stadion von London. Vogts hat noch die „Berti-raus“-Rufe im Ohr. Nun also ist er der Volksheld Vogts. Da steht der Bundestrainer im dunklen Anzug und mit Krawatte nun ganz allein vor der schwarz-rot-goldenen Tribüne, beugt den Kopf runter bis zum Knie und reißt die Arme hoch. Dreimal hintereinander. Ein Bild des Triumphes am Abend des 30. Juni 1996. Deutschland ist gerade durch das Golden Goal Oliver Bierhoffs zum 2:1 gegen Tschechien Europameister geworden.

Jürgen Klinsmann, der deutsche Kapitän, sagt anschließend: „Vielleicht fangen die Leute jetzt an zu begreifen, dass Vogts ein Top-Mann ist. Der Titel ist sein Verdienst.“ Seine „Welle“ sei „Danksagung“ gewesen, erzählt Vogts später. „Ich habe für die Zuschauer La Ola gemacht. Denn in diesen vier Wochen der EM ist etwas Besonderes passiert: Es ist eine neue Bindung zwischen den Deutschen und dieser Mannschaft entstanden.“ Ein Sommermärchen gab es also schon vor zehn Jahren. 32,86 Millionen Deutsche sahen damals beim Finale zu. Und drei von Bertis Spielern von 1996 wurden die Regisseure von 2006: Bundestrainer Klinsmann, Manager Bierhoff und Torwarttrainer Andreas Köpke.

Wer nun erwartet, Hans-Hubert Vogts würde anlässlich seines 60. Geburtstages am Samstag die Szenen von 1994 und 1996 als den unglücklichsten und glücklichsten Moment seines Fußball-Lebens nennen, den belehrt er: „Ich sehe nur das Glück insgesamt, das ich gehabt habe und das ich jedem anderen Menschen wünsche.“ Im Zeitraffer zählt Vogts auf: „Ich hatte eine tolle Jugend in Büttgen. Ich wurde von einem guten Trainer Dettmar Cramer entdeckt. Ich hatte eine super Zeit bei Borussia Mönchengladbach und sehr schöne und erfolgreiche Jahre beim DFB.“ 96 Länderspiele als Spieler inklusive Weltmeistertitel 1974. In der Ergebnisstatistik – 102 Länderspiele, 66 Siege, 24 Unentschieden, nur 12 Niederlagen – ist der Bundestrainer Vogts seinen Vorgängern und Nachfolgern voraus.

Der oft Gedemütigte hat gelernt, mit Demut und Duldung zu leben. Er sagt: „Im Sport gibt es nun einmal Sieger und Verlierer.“ Zählt er sich zu den Siegern? „Sieger, das klingt zu hochtrabend. Ich finde, ich habe es ganz gut hinbekommen. Ich musste immer den harten Weg gehen. Darauf bin ich stolz. Ich würde nichts anders machen, würde wieder so leben wollen, wie es der Herrgott mir vorgegeben hat.“

Auch im Schatten des Kaisers Franz Beckenbauer. „Franz hat diese Gabe, die ich nicht habe. Wo er auftaucht, ist schönes Wetter. Ich bin halt der Berti.“ So fügte sich der aufrechte, akribische und prinzipientreue Fachmann in sein Schicksal, als die Lichtgestalt ihn bei der Amtsübergabe 1990 mit der Hypothek belastete, Deutschland werde auf Jahre unschlagbar sein. Vogts wusste, was auf ihn zukam, und sagte damals fatalistisch: „Ich kann Druck aushalten. Aber wenn sie ein Opfer haben wollen, dann kriegen sie ihr Opfer.“

Gegen Beckenbauers Aura von fußballerischer Kompetenz, Glamour und Geschäftssinn kam der biedere Jugendtrainer Vogts dem „Spiegel“ 1990 vor „wie ein Herbergsvater, der eine Schar Mercedes-geiler Yuppie-Millionäre zum Fahrradwandern durch das Sauerland überreden will“. Schon 1992, als Deutschland bei der Europameisterschaft das Finale gegen Dänemark 0:2 verlor, musste sich der Beckenbauer-Nachfolger vom „Spiegel“ prompt vorhalten lassen: „Der Mann ist ein großer Irrtum“. Also packte Vogts die Titelverteidigung bei der Weltmeisterschaft 1994 mit der ihm eigenen Ergebenheit an: „Entweder komme ich als Vaterlandsverräter oder als Volksheld zurück.“

Sechs Jahre lang musste Berti Vogts mit massiver Kritik leben. 1998, als er sich nach dem erneuten Scheitern im WM-Viertelfinale in Frankreich an den Neuaufbau machte, gab er auf. Angeblich machte ihm die „Bild“-Zeitung das Leben schwer. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erzählte er später einmal von einer Drohung seitens der „Bild“: „Solange Vogts Bundestrainer ist, schreiben wir nur noch negativ über die Nationalmannschaft.“ Vogts gab schließlich resigniert auf und trat als Bundestrainer zurück. Er wolle sich „einen letzten Rest von Menschenwürde bewahren“, sagte er damals.

Was danach für den Trainer Vogts kam, war von kurzer Dauer und wenig erfolgreich: Bayer Leverkusen, Kuwait und Schottland hießen die Stationen, Reizt ihn nach diesen Episoden der Beruf noch? „Einerseits spüre ich den Drang, noch einmal zu arbeiten“, sagt Vogts. „Andererseits weiß ich, dass ich ein sehr schwieriger Mensch bin, weil ich klare Vorstellungen im Fußball habe. Es müsste schon eine tolle Herausforderung sein. Sonst lasse ich es. Ich kann zweimal am Tag warm essen. Das reicht mir.“ Sechzig und ein bisschen weise. Den runden Geburtstag feiert der mittlerweile geschiedene Berti Vogts übrigens im kleinen Kreis in Thailand.

Hartmut Scherzer

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