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Die Hände zum Himmel. Alan Ruschel schaffte es zurück in das Team von Chapecoense.

© imago/Agencia EFE

Der Flugzeugabsturz von Chapecoense: Ein schmerzhaftes Wunder

Zum Start des Fußballfilmfestivals „11 mm“ läuft der Film „Nossa Chape“ – ein Doku-Drama über eine der größten Katastrophen der Sportgeschichte.

Am Mittwochabend hat Chapecoense daheim in der Arena Condá gegen Tubarão gespielt. 14. Spieltag der Staatsmeisterschaft von Santa Catarina, ganz im Süden Brasiliens, und Alan Ruschel saß wieder mal nur auf der Tribüne. Eine Wadenverletzung plagt ihn seit ein paar Wochen. Ärgerlich für den Kapitän und seine Kollegen, denn die Tabellenspitze ist nur drei Punkte entfernt, und einen offensiven Verteidiger wie Alan Ruschel könnten sie schon gut gebrauchen bei Chape.

Was für ein schönes Problem!

Vor zweieinhalb Jahren hätte Alan sich nichts sehnlicher gewünscht als eine Zerrung, für sich und alle seine Kollegen dazu. Im November 2016, als Spieler, Trainer und Funktionäre der Associação Chapecoense de Futebol sich auf den Weg nach Medellin machen, zum Endspiel um die Copa Sudamericana gegen den Kolumbianischen Meister Atlético Nacional. Mit ihren Handykameras dokumentieren die Spieler, wie sie ins Flugzeug steigen, wie sie lachen und singen und miteinander schwatzen, der Torwart Danilo sagt: „Im Finale werden wir unser Leben geben!“

Die Szene steht am Anfang der Dokumentation, die die US-amerikanischen Filmemacher Jeff und Michael Zimbalist über eine der größten Katastrophen der Sportgeschichte gedreht haben. Über das Auslöschen eines ganzen Klubs.

Alan Ruschel hat überlebt – als einer von drei Spielern

„Nossa Chape“ eröffnet am Donnerstag das internationale Berliner Fußballfilmfestival „11mm“. Chape, so nennen die 200 000 Einwohner des Städtchens Chapeco ihren Klub. Eine Mannschaft, die jenseits von Rio, Sao Paulo und Belo Horizonte nie so recht wahrgenommen worden ist. Bis Chape dann ins Finale der Copa Sudamericana einzieht. Bis zum Flug nach Medellin, der ein so furchtbares Ende in den Anden findet, mit 71 Todesopfern, unter ihnen 19 Fußballspieler. Der Torwart Danilo gibt sein Leben vor dem Finale, wie auch der Mittelfeldmann Ananias oder der Stürmer Bruno Rangel. Die Welt hält den Atem an. Es gibt Schweigeminuten in Leipzig, Barcelona, Liverpool und überall sonst, wo Fußball gespielt wird. Der Papst spricht ein Gebet.

Alan Ruschel hat die Katastrophe überlebt, als einer von drei Spielern, und dass er zweieinhalb Jahre später wieder zur Stammbesetzung zählt, darf als ein gar nicht so kleines Wunder gefeiert werden. Es war ein schmerzhaftes Wunder. Wegen der verlorenen Freunde, der im Kopf allgegenwärtigen Bilder. Und wegen des schwierigen Weges zurück in eine Normalität, die nie normal sein wird. Verein und Stadt sind beim Versuch der Bewältigung des Unglücks nicht immer so vorgegangen, wie es sich die Überlebenden und die Hinterbliebenen gewünscht hätten. Auch davon handelt der Film. „Nossa Chape“ ist mehr als ein Märchen mit vorhersehbarem Verlauf und klar besetzten Rollen.

Die Gebrüder Zimbalist haben sich einen Namen gemacht mit „The two Escobars“, einer brillanten Dokumentation über das Schicksal zweier Kolumbianer, die zufälligerweise denselben Namen trugen und beide gewaltsam zu Tode kamen. Hier der Drogenbaron Pablo, 1993 bei einer Razzia erschossen. Dort der Fußballprofi Andres, 1994 von einem Handlanger des Medellin-Kartells erschossen, nachdem ihm zuvor bei der WM in den USA ein Eigentor unterlaufen war. Für „Nossa Chape“ hatten sie nur einen vierwöchigen Aufenthalt in Brasilien geplant. Sie blieben ein halbes Jahr. Stumme Chronisten einer Tragödie, an deren Anfang der Absturz am 28. November 2016 steht. Und doch noch lange nicht zu Ende ist.

Der Film endet – ganz amerikanisch – mit einem Happy End

Die Kamera begleitet den Klub beim verzweifelten Versuch der Wiederauferstehung. Chape braucht eine neue Mannschaft, einen neuen Trainerstab, eine neue Vereinsführung. Irgendwie gelingt es, in den zwei Monaten bis zum Beginn der Meisterschaft alles auf den Rasen zu bringen. Die Wunden beginnen zu heilen, allerdings nicht bei jedem und nicht überall gleich schnell. Die Trauer der Fans weicht schnell einer Ungeduld, wie sie im Profifußball alltäglich ist, wenn Erfolge ausbleiben. Die ersten Niederlagen stecken sie noch ungerührt weg, aber dann wird der Trainer ausgepfiffen und bald auch die Mannschaft. Die neuen Spieler sind die Bemitleidung leid, sie wollen einen Neuanfang ohne Trauerflor. Die Vereinsführung erkennt, wie schön sich das Schicksal vermarkten lässt. Ein Funktionär merkt stolz an, „dass wir bei den sozialen Medien der sechstbeliebteste Klub in ganz Brasilien sind“. Für Chapes Twitterkanal wird ein neuer Hashtag entworfen: #prasemprechape, für immer Chape.

Alan Ruschel und die beiden anderen überlebenden Spieler registrieren es sichtbar irritiert, dass sie als Helden für das neue Trikot posieren sollen, ohne dass jemand gefragt hätte. Sie mahnen Gedenken an, eine Würdigung ihrer toten Freunde, „es gibt in der Stadt immer noch kein Denkmal“. Alan Ruschel bricht ein erstes Training nach der körperlichen Genesung ab, weil immer wieder die alten Bilder hochkommen. Ältere Spieler, die den Todesflug nicht angetreten hatten, beschweren sich über die abgekühlte Stimmung im Team. Es kommt zu lauten Streitigkeiten in der Kabine. Die Frauen und Freundinnen der Todesopfer beschweren sich über ausbleibende Hilfe seitens des Vereins. Als es auch nach Monaten keine angemessene finanzielle Entschädigung für den „Arbeitsunfall unserer Männer“ gibt, ziehen sie vor Gericht.

Die Brüder Zimbalist sind Amerikaner genug, als dass sie ihrem Film ein Happy End vorenthalten würden. Die Frauen ziehen ihre Klage zurück und einigen sich außergerichtlich. Stadt und Klub planen gemeinsam ein Monument für die Opfer vom November 2016. Alan Ruschel schafft es zurück ins Team und wird bei einem Benefizspiel in Barcelona geherzt. Die Kamera fängt ihn ein, wie er auf die Knie sinkt, die Arme zum Himmel richtet und ein Gebet spricht.

„Nossa Chape“ eröffnet am Donnerstag um 19.30 Uhr im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz das bis zum kommenden Montag laufende Fußballfilmfestival „11mm“.

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