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Der dritte Gruppengegner der Deutschen: Der Fußball in Ungarn ist politisch geworden

Ungarische Regierungsanhänger sehen eine Blüte des Fußballs; die Opposition eher glückliche Zufälle. Die Erwartung an das Team ist auch eine politische Frage.

Als der ungarische Fußball sein zweites großes Trauma erlebte, da saß Peter Esterhazy allein zu Hause vor dem Fernseher. Fußball war für den Schriftsteller, der 2016 verstorben ist, „keine gesellschaftliche Angelegenheit, um mich mit Freunden zu amüsieren“. Er wollte sich auf das Spiel konzentrieren, erst recht im Juni 1986, als sein jüngerer Bruder Marton im fernen Mexiko im ersten Gruppenspiel der WM für Ungarns Nationalmannschaft auflief. Gegen die Sowjetunion. „Schrecklich, schrecklich“, hat Peter Esterhazy 20 Jahre später über dieses Spiel gesagt. „Sowohl sportlich als auch politisch.“

0:6 unterlagen die Ungarn dem großen sozialistischen Bruder, und nach einer weiteren Niederlage gegen Frankreich war die Weltmeisterschaft für sie schon nach der Vorrunde beendet. Exakt 30 Jahre, bis zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich, dauerte es anschließend, bis sich das Land erstmals wieder für ein großes Turnier qualifizieren konnten.

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Im ungarischen Fußball hat die Vergangenheit immer eine große Rolle gespielt. All die schmerzlichen Erinnerungen an das ungarische Wunderteam von 1954 und dessen unerklärliche Niederlage gegen den Deutschen im Finale von Bern. Oder an die zumindest silberne Generation aus den Achtzigern, mit unter anderem Lajos Detari.

„Diese Last war lange da“, sagt Pal Dardai, der ungarische Trainer von Hertha BSC. Aber die Vergangenheit verblasst immer mehr, je besser die Gegenwart wird. Zum zweiten Mal nacheinander hat sich Ungarn für die EM-Endrunde qualifiziert. „Der Druck ist jetzt nicht mehr so groß wie früher“, sagt Dardai. „Ganz Großes soll man nicht erwarten. Europameister werden wir bestimmt nicht. Aber eine Mini-Überraschung können wir schaffen.“

Bei der EM vor fünf Jahren erreichte Ungarn als Gruppensieger vor Österreich, Island und dem späteren Europameister Portugal das Achtelfinale. Sollte das Team auch diesmal wieder so weit kommen, wäre das weit mehr als eine Mini-Überraschung. Es wäre eine Sensation.

Fußball als nationale Angelegenheit

In der Vorrunde trifft Ungarn – erneut – auf Portugal, auf Frankreich und Deutschland. „Einerseits freuen sich die Ungarn auf diese Spiele“, sagt Lothar Matthäus, der das Nationalteam früher mal trainiert hat und seit 17 Jahren in Ungarn lebt. „Andererseits ist die Mannschaft krasser Außenseiter.“

Die Erwartung an das Team ist auch eine Frage des politischen Standorts. Anhänger des nationalkonservativen Regierungschefs Viktor Orban sehen bereits eine neue Blüte des ungarischen Fußballs heraufziehen; die Opposition hingegen verweist vor allem glückliche Zufälle, der die Mannschaft die EM-Teilnahme verdankt.

Für Orban ist die Entwicklung des Fußballs eine nationale Angelegenheit. Entsprechend viel Geld ist dafür zur Verfügung gestellt worden. „Orban ist ein riesiger Fußballfan“, sagt Matthäus. „Der Fußball ist eine heilige Kuh. Das ist sein Baby.“ Aber dadurch ist der Fußball auch politisch geworden.

Investitionen in den Sport können steuerlich abgesetzt werden, und nicht selten landen staatliche Zuwendungen am Ende bei Freunden oder Unterstützern Orbans. Das Stadion des Puskas Akademia FC in Felcsut zum Beispiel ist auf diese Weise zu einem echten Politikum geworden.

Es verfügt über 4000 Plätze, obwohl im Ort selbst nur 1800 Menschen leben. Aber einer dieser Einwohner ist eben Viktor Orban. Und dank der Unterstützung von ganz oben zählt der Puskas Akademia FC inzwischen zu den Topklubs der Ersten Liga.

Rossi setzt auf eine Achse aus der Bundesliga, unter anderem mit Torhüter Peter Gulacsi,
Rossi setzt auf eine Achse aus der Bundesliga, unter anderem mit Torhüter Peter Gulacsi,

© imago/Pius Koller

Dass Orbans Regierung mehr Geld in den Sport als in Bildung oder das Gesundheitswesen investiert, ist im Land durchaus umstritten. Die liberale Wochenzeitschrift HVG hat herausgefunden, dass zwischen 2011 und 2018 umgerechnet 2,3 Milliarden Euro allein in den Fußball geflossen sind, davon ein Fünftel in Akademien.

„Überall haben sie modernisiert“, sagt Herthas Trainer Dardai. Er selbst hat in seiner Jugend noch auf schwarzer Asche trainiert; ein Paar Socken, eine Hose und ein T-Shirt mussten damals nach seiner Aussage für eine ganze Woche reichen. Das ist jetzt anders: „Jede Stadt hat ein schönes Fußballstadion. Mit Akademie“, erzählt Dardai. „Ich glaube, Osteuropa beneidet uns. Aber das müssen wir auch ausnutzen.“

Dardai sieht aber auch, dass der Druck durch die massiven Investitionen noch größer geworden ist, dass im Land immer wieder die Frage gestellt wird: „Warum gibt der Ministerpräsident das Geld, und wir haben trotzdem keinen Erfolg?“

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In der EM-Qualifikation landete Ungarn in seiner Gruppe hinter Kroatien, Wales und der Slowakei nur auf Platz vier. Und die Teilnahme an den Play-offs für die Europameisterschaft hatte das Team vor allem dem etwas komplizierten Modus der Nations League zu verdanken.

Das entscheidende Spiel gegen Island bescherte dem Land dann aber einen magischen Fußballmoment. Nach 87 Minuten führte Island noch 1:0. Dem späten Ausgleich folgte in der Nachspielzeit das 2:1 durch ein Tor des erst 20 Jahre alten Dominik Szoboszlai. „Das war pure Leidenschaft“, sagt Dardai. „Dadurch wächst du zusammen.“

Disziplin statt spielerischer Klasse

Doch das neue ungarische Wunderkind Szoboszlai, das Anfang des Jahres zu Rasenballsport Leipzig gewechselt ist, steht Ungarns italienischem Nationaltrainer Marco Rossi wegen einer Verletzung für die EM nicht zur Verfügung. Auch sein potenzieller Vertreter für die Rolle des Spielmachers, Kalmar Zsolt vom slowakischen Vizemeister Dunajska Streda, fehlt.

Trotzdem ist Rossis Team zuletzt elf Mal ungeschlagen geblieben. Der Trainer, der in der Saison 1996/97 für Eintracht Frankfurt 14-Mal in der Zweiten Liga aufgelaufen ist, kompensiert die fehlende individuelle Klasse durch mannschaftliche Geschlossenheit. Er legt viel Wert auf Disziplin und klare Regeln für alle.

Rossi, 2017 Ungarischer Meister mit Honved Budapest, setzt auf eine Achse aus der Bundesliga: mit Torhüter Peter Gulacsi, Innenverteidiger Willi Orban (beide Leipzig), dem Freiburger Roland Sallai und Routinier Adam Szalai von Mainz 05. „Adam Szalai vorne ist ein Bär“, sagt Pal Dardai. „Er ist ein sehr unangenehmer Spieler, sehr diszipliniert und hammerintelligent.“

Überhaupt erwartet er, dass Ungarns Gegner bei der EM wenig Spaß haben werden. „Man kann eine junge, bissige Mannschaft erwarten“, sagt Dardai über sein Heimatland. „Junge Mannschaften gehen läuferisch sehr gerne ans Limit. International mag man das nicht.“

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