zum Hauptinhalt
Sane kommt für Havertz. Auch ein möglicher Wechsel für das Spiel gegen Portugal?

© IMAGO / Moritz Müller

Das große Problem der deutschen Nationalmannschaft: Ziellos vor dem Tor

Gegen Frankreich zeigte sich, dass die deutsche Nationalmannschaft vor allem ein Offensivproblem hat. Es fehlt die Entschlossenheit im Spiel in die Tiefe.

Die Einwechslung von Timo Werner machte sich umgehend bezahlt. Der Stürmer des FC Chelsea war erst wenige Sekunden auf dem Feld, als er auf der linken deutschen Angriffsseite den französischen Rechtsverteidiger Benjamin Pavard in ein Sprintduell verwickelte. Werner zog an seinem Gegner vorbei, und er schaffte es sogar, den Ball noch vor der Torauslinie aus vollem Lauf in den französischen Strafraum zu flanken.

In diesem Moment durfte sich vor allem Bundestrainer Joachim Löw bestätigt fühlen. Sein Plan ging auf: mit dem flinken Werner für die Schlussphase mehr Tempo und neuen Schwung in das Offensivspiel zu bringen; und die massive Defensive der Franzosen im Zentrum vor allem über die Außenpositionen zu umgehen.

Das Problem dabei ist: Das Tor steht in der Mitte, irgendwann muss der Ball also von außen ins Zentrum, und dann muss sich dort jemand finden, der den dreckigen Job als Vollstrecker erledigt. Dafür fiel die Strafraumbesetzung der Deutschen nach Werners Flanke ein wenig dürftig aus. Um ehrlich zu sein: Es befand sich kein einziger Spieler in Weiß im französischen Sechzehner. Leroy Sané, ebenfalls eingewechselt, kam dem gegnerischen Tor noch am nächsten. Er stand gleich jenseits der Strafraumlinie. „Es stimmt schon, dass unsere Besetzung in der Box nicht hundertprozentig war“, sagte Linksverteidiger Robin Gosens.

Dem EM-Auftakt gegen Frankreich, den mutmaßlich größten Favoriten auf den kontinentalen Titel, hatte die deutsche Nationalmannschaft mit einigem Respekt entgegengesehen – vor allem angesichts der überragenden Qualität des Weltmeisters in der Offensive. Damit kamen die Deutschen überraschend gut zurecht, auch wenn die Nachbetrachtung der 0:1-Niederlage gegen Frankreich eine Spur zu wohlwollend ausfiel. „Auf jeden Fall auf Augenhöhe“ hatte Robin Gosens seine Mannschaft gesehen. Ilkay Gündogan fand, „dass wir dem Weltmeister ebenbürtig waren“ und dass dieses Spiel „keinen Sieger verdient“ gehabt hätte.

Kaum Chancen gegen Frankreich

Die Verteidigung der französischen Angriffe war tatsächlich nicht das entscheidende Problem für die deutsche Mannschaft gewesen. „Ich finde, dass wir vieles relativ gut kontrolliert haben“, sagte Toni Kroos, der als defensiver Part der Doppelsechs ganz neue Qualitäten als überzeugter und überzeugender Zweikämpfer entdeckt hatte. Das größere Problem hatten die Deutschen in der Offensive gegen die französische Defensive, deren Klasse generell ein bisschen unterschätzt wird – aber nur weil sich die ganze Welt vor allem an der Brillanz ihres Angriffs ergötzt.

„Die Franzosen sind auch Weltmeister im Verteidigen“, sagte Bundestrainer Löw. Hinzu kam, dass seine Mannschaft in der aktuellen Verfassung nicht gerade ein Weltmeister im Angreifen ist. Das Bedrohungspotenzial der Deutschen blieb über 90 Minuten überschaubar. „Insgesamt war es leider etwas zu wenig nach vorne“, sagte Gündogan.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Als das Spiel nach fast 100 Minuten abgepfiffen wurde, bewegte sich Löw fast in Zeitlupe. Er hielt dem vierten Offiziellen die Faust hin, wartete noch kurz, um sich von dem geschätzten französischen Kollegen Didier Deschamps zu verabschieden und begab sich dann umgehend ins Kellergeschoss der Münchner Arena. Löw wirkte erschlafft und von der Niederlage hart angegangen. Das Vorhaben, seine 15 Jahre währende Amtszeit als Bundestrainer zu einem erfolgreichen und versöhnlichen Ende zu bringen, könnte sich als weit schwerer erweisen als erhofft.

Von der Entschlossenheit, die in den Tagen zuvor immer wieder wortreich beschworen worden war, schien in den ersten Momenten nach dem Spiel nur noch wenig geblieben. Stattdessen meldeten sich die Zweifel zurück, die den Bundestrainer ohnehin seit dem Debakel bei der WM 2018 begleiten.

Auch Löw hatte im Anlauf auf sein letztes Turnier den Eindruck erwecken wollen, dass alles nach einem stringenten Plan läuft; dass er jetzt wieder im Tunnel ist, sich nicht ablenken lässt und mit Lust an den Details feilt. Im Trainingslager in Seefeld sei es um die Basics gegangen, um Defensivverhalten, Standards, Zweikämpfe, berichtete er. Erst für die zweite Hälfte der Vorbereitung im Basiscamp in Herzogenaurach stand dann laut Löw das Offensivspiel auf dem Lehrplan.

Zuschauen darf man der Nationalmannschaft dabei nicht mehr, insofern lässt sich die Arbeit Löws nur von ihrem Ergebnis her beurteilen – und das war nicht gut. Er müsse zugeben, „dass wir nicht tausend klare Chancen herausgespielt haben“, sagte Robin Gosens, „aber zwei, drei waren es schon.“ Streng genommen war es eher eine: als Serge Gnabry nach Gosens’ Flanke am zweiten Pfosten zum Schuss kam, den Ball aber über die Latte setzte. Löw widersprach dem Vorwurf, dass die Schwierigkeiten im Spiel nach vorne systemisch bedingt gewesen seien. Es seien – trotz Dreierkette – genügend Offensivkräfte auf dem Platz gewesen, selbst die beiden Sechser Kroos und Gündogan seien schließlich offensiv ausgerichtet.

Havertz, Müller Gnabry - wer muss weichen?

Das Problem lag tatsächlich in der Besetzung der Dreierreihe im Angriff. Dass sie beim 7:1 gegen Lettland mit Spielfreude überzeugt hatte, erwies sich für das Duell mit dem Weltmeister, nicht ganz überraschend, als wenig aussagekräftig. Thomas Müller, Kai Havertz und Serge Gnabry besitzen in Löws Plänen alle Freiheiten. Sie sind nicht an eine bestimmte Position gefesselt, sondern sollen möglichst flexibel unterwegs sein. Wenn es funktioniert, kann dies den Gegner verwirren. Am Dienstag verwirrten die Deutschen sich vor allem selbst. Ihr Offensivspiel wirkte plan- und ziellos.

Die Reaktivierung von Thomas Müller könnte sich eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung erweisen. Angesichts des öffentlichen Drucks und der beeindruckenden Bilanz Müllers bei den Bayern blieb Löw kaum etwas anderes übrig, als den Münchner wieder in die Nationalmannschaft aufzunehmen. Aber zur ganzen Wahrheit gehört eben auch, dass Müller im Verein nur so gut sein konnte, weil er dort Robert Lewandowski an seiner Seite hatte. Nur: In der Nationalmannschaft gibt es keinen Lewandowski. Es gibt auch keinen Stürmer vergleichbaren Typs, dem Müller mit seinen Laufwegen zuvor verschlossene Räume öffnet.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass den Deutschen ein klar erkennbarer Zielspieler im Sturm fehlt. In einem System mit zwei offensiv ausgerichteten Außenverteidigern macht sich dieser Mangel aber ganz besonders bemerkbar. Auch deshalb wird die Debatte um die taktische Grundordnung und die personelle Besetzung der Offensive vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Portugal am Samstag noch einmal an Fahrt aufnehmen. Nach dem Auftritt gegen Frankreich kann sich eigentlich keiner der drei Offensiven seines Platzes allzu sicher sein. Zittern muss aber wohl vor allem Kai Havertz.

[Fußball-Europameisterschaft: Wissen, wer wann gegen wen spielt. Mit unserem EM-Spielplan 2021 als PDF zum Ausdrucken.]

Ilkay Gündogan sprach sich nach der Niederlage gegen die Franzosen explizit für Leroy Sané aus, seinen früheren Teamkollegen bei Manchester City. Sané durfte beim EM-Auftakt nur für die letzten 20 Minuten aufs Feld; ein begnadeter Joker, der sich schnell in ein Spiel einfindet, ist er eher nicht. „Leroy ist ein Spieler, der Rhythmus braucht, der das Gefühl braucht, ständig den Unterschied machen zu können“, sagte Gündogan. „Bei Manchester City hat er dieses Gefühl gehabt, da ging kein Weg an ihm vorbei.“

Joachim Löw wird sich in nun viele gut gemeinte Vorschläge anhören müssen, was er gegen die Portugiesen anders und besser machen sollte: Sané rein. Werner rein. Kimmich zurück ins Zentrum. Dass Löw von seinem 3-4-3-System abgehen wird, ist eher nicht zu erwarten. Zumindest in der Vergangenheit hat der Bundestrainer stets eine nicht zu unterschätzende Widerstandskraft gegen Einflüsterungen von außen aufgebracht und sich so lange gewehrt, bis es eigentlich nicht mehr anders ging. „Ich weiß nicht, was im Kopf des Trainers vorgehen wird, ob sich formationstechnisch etwas ändern wird oder nicht“, sagte Ilkay Gündogan. „Aber ich erhoffe mir, dass wir gegen Portugal mehr nach vorne spielen und mehr Chancen kreieren. Weil wir es können. Weil wir eine Mannschaft sind, die auch offensiv denken sollte.“

Zur Startseite