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Sprint in den Feier-Abend. Deutschlands Nationalspieler nach dem entscheidenden Elfmeter von Jonas Hector.

© dpa

Das Elfmeter-Drama gegen Italien: Deutschland und der Nachthimmel von Bordeaux

Trotz dreier Fehlschüsse bleibt Deutschland im Elfmeterschießen unbesiegbar. Und das nicht nur, weil das Team den besten Torwart der Welt hat.

Die Feierlichkeiten vor den Fans sind bereits beendet, die meisten Nationalspieler schon im Kabinentrakt verschwunden, die blaue Kurve der Italiener hat sich komplett geleert: Da wird Jonas Hector noch einmal vom Taumel ergriffen. Er hat den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, das Gehen scheint ihm Mühe zu bereiten, weil die Beine weich werden wie Wackelpudding. Es wirkt fast so, als würde Jonas Hector erst in diesem Moment so richtig bewusst, was er gerade getan hat.

Es steht 5:5 im Elfmeterschießen zwischen Deutschland und Italien, als der Kölner ein paar Minuten vorher vom Mittelkreis aufgebrochen ist. Trifft er, hat die Fußball-Nationalmannschaft das Halbfinale der Europameisterschaft erreicht; trifft er nicht, geht dieses seltsame Shoot-out in seine nächste Runde. Immerhin, selbst wenn Hector verschießt, ist es für die Deutschen auf keinen Fall zu Ende. „Bewusst war mir das schon“, sagt Hector. „Nichtsdestotrotz wollte ich ihn reinmachen.“

Die Deutschen und das Elfmeterschießen. Das ist schon ein fast mystisches Verhältnis, obwohl diese Beziehung vor exakt 40 Jahren alles andere als erfolgreich begonnen hat. Im EM-Finale gegen die Tschechoslowakei gibt es 1976 das erste Elfmeterschießen überhaupt bei einer Europameisterschaft. Uli Hoeneß macht an diesem Abend den „Nachthimmel von Belgrad“ berühmt und lässt die Deutschen leiden. Doch seitdem hat die Nationalmannschaft kein offizielles Elfmeterschießen mehr verloren. Insgesamt sind 28 deutsche Spieler vom Punkt angetreten, nur ein einziger hat nach Hoeneß noch verschossen, Uli Stielike im WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich.

Mit dieser Gewissheit treten die Deutschen auch am Samstagabend in Bordeaux an. Aber als die erste Runde mit je fünf Schützen von beiden Teams durch ist, haben sie schon mehr Fehlversuche als in der kompletten Turniergeschichte des DFB zuvor. „Man kann sich nicht darauf verlassen, dass Deutschland automatisch weiter ist, wenn es bei einem Turnier zum Elfmeterschießen kommt“, sagt Torhüter Manuel Neuer.

Aber man kann sich darauf verlassen, dass die Deutschen erst besiegt sind, wenn der letzte Elfmeter geschossen ist.

Kurz bevor es losgeht, hat der Bundestrainer ein paar Spieler um sich versammelt. Sein Assistent Markus Sorg erledigt den Papierkram. Joachim Löw spricht ein paar ausgesuchte Worte und zum Abschluss tippt er sich noch einmal mit beiden Zeigefingern gegen seine Schläfe. Das ist jetzt Kopfsache, Jungs.

Schweinsteigers eigentümliche Wahl vor dem Elferschießen

„Irgendwie war relativ schnell klar, wer die ersten fünf sind“, sagt Löw. Mesut Özil und Thomas Müller melden sich freiwillig, der eingewechselte Julian Draxler erklärt sich ebenfalls sofort bereit. Bastian Schweinsteiger gewinnt die erste Wahl gegen Italiens Kapitän Gianluigi Buffon. Er entscheidet sich für das Tor vor der italienischen Kurve. Kurz darauf gewinnt Schweinsteiger auch die zweite Wahl und überlässt dem Gegner den ersten Schuss. Beides ist seltsam: Die Deutschen müssen gegen die lärmenden Tifosi anschießen. Zudem gilt es als wissenschaftlich erwiesen, dass die Erfolgschancen für die Mannschaft steigen, die im Elfmeterschießen beginnen darf. „Ich habe ein bisschen nachgedacht, wie es in der Vergangenheit war“, sagt Schweinsteiger. Er denkt noch einmal an das Endspiel in der Champions League 2012 – als er den entscheidenden Elfmeter vor der eigenen Kurve verschoss. „Und die italienischen Fans haben sich auch gefreut“, sagt Schweinsteiger.

Es geht auch gut los für sie: Lorenzo Insigne verwandelt. Toni Kroos gleicht aus. Von jetzt an wird der Vorteil verlässlich die Seiten wechseln. Simone Zaza ist erst zum Elfmeterschießen eingewechselt worden, vermutlich weil er ein sicherer Schütze ist. Doch er tanzt beim Anlauf so um den Ball herum, als habe er Angst, ihn überhaupt zu berühren. Der Ball fliegt Richtung Tribüne, in den Nachthimmel von Bordeaux. Thomas Müller kann die Deutschen in Führung bringen. Doch sein Schuss ist so unplatziert, dass Buffon ihn mühelos pariert. Müller dreht sich um und streckt die Zunge raus, wie jemand, der seit zwölf Stunden durch die Wüste gewandert ist und nach Wasser giert.

„Das Elfmeterschießen war unglaublich, wenn man sieht, wie viele verschießen“, sagt Deutschlands Innenverteidiger Jérôme Boateng. „Ich habe oft gedacht: Jetzt ist es vorbei. Zum Glück war es das nicht.“ Andrea Barzagli verwandelt, Özil verlädt den Torhüter, Buffon fliegt nach links, die ganze rechte Seite ist frei – der Ball landet am Pfosten. Torwarttrainer Andreas Köpke hockt an der Mittellinie und lässt sich wie ein Maikäfer nach hinten auf den Rücken fallen.

"So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Manuel Neuer

Sprint in den Feier-Abend. Deutschlands Nationalspieler nach dem entscheidenden Elfmeter von Jonas Hector.
Sprint in den Feier-Abend. Deutschlands Nationalspieler nach dem entscheidenden Elfmeter von Jonas Hector.

© dpa

An der Seitenlinie stehen die Ersatzspieler, Betreuer, Ärzte, Pressesprecher bis hin zum Mitarbeiter des DFB-Reisebüros. Sie bilden eine lange Reihe und haben sich die Arme um die Schultern gelegt. Joachim Löw ist in die zweite Linie zurückgetreten. Er steht für sich allein, zeigt kaum eine Regung. Mal hat er seine Hände in den Hosentaschen vergraben oder die Arme vor der Brust verschränkt. Löw jubelt nicht, wenn alle anderen um ihn herum schon aufs Feld sprinten. „Beim Elfmeterschießen kann man nicht viel tun“, sagt er. „Das ist gerade für die Spieler eine hohe Nervenbelastung.“ Graziano Pellè beruhigt die Nerven der Deutschen wieder. Er schießt den Ball am Tor vorbei. Julian Draxler gleicht zum 2:2 aus. Es geht wieder bei null los.

„Es war wirklich ein Drama. So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Neuer. Die Italiener haben schon zwei Elfmeter verschossen, aber Neuer hat noch keinen gehalten. Jetzt tritt Leonardo Bonucci an, der in der regulären Spielzeit den Strafstoß zum 1:1-Endstand verwandelt hat. Diesmal schießt er in die andere Ecke. Löw ist in die Knie gegangen. Als Neuer sich streckt und den Ball pariert, schießt der Bundestrainer wie ein Katapult nach oben.

„Es war natürlich ein Nervenkrieg“, sagt Neuer. Die Umstände, die Fehlschüsse der Kollegen – all das macht die Sache für ihn als Torhüter nicht leichter. „Trotzdem habe ich versucht, mich auf meine Sache zu konzentrieren und immer wieder aufs Neue versucht, den Schützen zu lesen.“ Neuer ist vorbereitet, er kennt die Lieblingsecken der Italiener, aber das nutzt ihm nichts. „Ich weiß nicht, ob ich es richtig im Gedächtnis habe, aber alle Schützen, die getroffen haben, haben es in der Mitte getan“, sagt er. „Auch die Italiener haben sich sehr gut vorbereitet und wussten, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe.“ Es ist ein bisschen wie beim Schnick-Schnack-Schnuck: Denkt der andere jetzt, dass ich denke, dass er denkt…?

Wenn Bastian Schweinsteiger trifft, muss niemand mehr denken. Dann sind die Deutschen im Halbfinale. Auf dem Weg zum Punkt begleiten ihn „Schweini! Schweini!“-Rufe. Was für eine Geschichte kann das werden – und was für ein Fehlschuss. Schweinsteiger löffelt den Ball über die Latte.

„Der Weg zum Elfmeterpunkt war nicht gerade kurz“, sagt Hector

„Geiles Spiel, im Nachhinein“, sagt Mats Hummels. Der Innenverteidiger ist der erste Deutsche, der in der Verlängerung des Elfmeterschießens ran muss, nachdem die Italiener wieder in Führung gegangen sind. Der Erste, der treffen muss, damit es weitergeht. „Im Mittelkreis wusste ich, wo ich hinschieße, das hat sich dann aber noch ein paar Mal geändert.“ Buffon ist fast dran, der Ball geht trotzdem über die Linie. Als nächster tritt Joshua Kimmich an, 21 Jahre alt. Vor sechs Wochen hat er im DFB-Pokalfinale verschossen, als ihm vor Aufregung fast die Beine weggeknickt sind und der Ball es nur mit Mühe überhaupt bis zur Torlinie geschafft hat. Diesmal trifft er sicher. De Sciglio verwandelt mit etwas Glück. Der Ball geht hart unter der Latte ins Tor. Boateng gleicht aus. „Wir haben heute eine Schlacht erlebt“, sagt er.

Bisher standen die Deutschen immer unter dem Druck, treffen zu müssen. Das ändert sich, nachdem Neuer den Schuss von Matteo Darmian pariert hat. „Es ist eben ein Vorteil, dass wir den besten Torhüter auf unserer Seite haben, den es auf der Welt gibt“, sagt Bastian Schweinsteiger. Der Torhüter auf der anderen Seite ist aber auch nicht der schlechteste. Das weiß auch Jonas Hector, als er sich von der Mittellinie auf den Weg macht. Der 26-Jährige hat seinen letzten Elfmeter irgendwann in der Jugend des SV Auersmacher geschossen.

„Der Weg zum Elfmeterpunkt war nicht gerade kurz“, sagt Hector. „Man macht sich so seine Gedanken und nimmt um einen herum nicht viel wahr. Man versucht, das auszublenden und sich auf den Schuss zu konzentrieren.“ Er überlegt sich, wo er hinschießen soll und pustet noch einmal durch. Später wird er gefragt, ob er auch so geschossen habe wie geplant. „So halb schon“, antwortet er. Die Ecke habe gestimmt, nur landet der Ball eigentlich ein bisschen zu sehr in der Mitte. „Im ersten Moment dachte ich, er hat ihn“, sagt Hector. „Aber war vielleicht ganz gut, dass er nicht ganz ins Eck ist. So konnte der Ball unter Buffon durchrutschen.“

Es ist vorbei. Hector läuft los, auf Neuer zu, die Kollegen starten von der Mittellinie. Toni Kroos trottet gemächlich hinterher. Er schüttelt nur den Kopf.

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