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Manuel Neuer schreit im Spiel gegen Österreich.

© Christian Charisius/dpa

Comeback vor dem WM-Start: Manuel Neuer – die höhere Gewalt

Eigentlich irre: 599 Tage hat Manuel Neuer kein Länderspiel absolviert – und wird bei der WM wohl doch die Nummer eins sein. Ein Versuch einer Erklärung.

Manuel Neuer wippt im Strafraum auf seinen Fußballen auf und ab, in seinen Händen, direkt vor seinem Bauch, hält er einen Ball. Die deutsche Nationalmannschaft hat Aufstellung genommen zu einer taktischen Übung: verschieben, rausrücken, passen. Aber vorher ist noch Zeit für ein privates Duell zwischen Neuer, dem Torhüter, und Ilkay Gündogan, dem Mittelfeldspieler. Gündogan schlägt aus dem Mittelkreis einen langen Pass in Richtung Strafraum. Der Ball surrt durch die Luft und würde sich vermutlich genau ins Tor senken. Manuel Neuer wartet, er schaut, er holt Schwung aus der Hüfte, löffelt seinen Ball mit beiden Händen senkrecht in die Höhe – und trifft Gündogans Ball.

Zweifelt wirklich noch jemand, dass Manuel Neuer sein Gespür für Raum und Zeit wiedergefunden hat?

Und gibt es noch irgendjemanden, der ernsthaft davon ausgeht, dass Neuer an diesem Montag von Bundestrainer Joachim Löw aus dem Kader für die Weltmeisterschaft gestrichen wird? Drei Feldspieler und einen Torhüter wird es erwischen. Doch wenn die Nationalmannschaft in den vergangenen anderthalb Wochen kein absurdes Theaterstück aufgeführt hat, kann es nur einen Schluss geben: Manuel Neuer, 32 Jahre alt, Stammtorhüter und Kapitän, wird in Russland dabei sein. Und natürlich wird er dann auch am Sonntag kommender Woche im ersten WM-Spiel des Titelverteidigers die Nummer eins sein.

Wenn es einen Gewinner unter den Verlierern gibt, ist es Neuer

Daran besteht spätestens seit Samstagabend, seit seinem Startelfeinsatz im Testspiel gegen Österreich, kein Zweifel mehr. Wenn es bei dieser 1:2-Niederlage überhaupt einen Gewinner unter den deutschen Verlierern gibt, dann ist es Manuel Neuer. „Es war alles so weit so gut“, berichtet Bundestrainer Löw. „Er hat keine Probleme gehabt.“ Für Neuer ist es der erste Einsatz nach mehr als acht Monaten, sein erstes Länderspiel seit dem 11. Oktober 2016. Exakt 599 Tage sind seitdem vergangen.

Das Spiel in Klagenfurt ist so etwas wie die letzte Prüfung für Neuer – und sie fällt härter aus, als man das erwartet hätte. Es regnet und hagelt, blitzt und donnert. Beim Warmmachen prasseln die Hagelkörner auf Neuers Körper. Die Spieler müssen in die Kabine, zwei Mal wird der Anpfiff verschoben. Neuer, die Frisur vom Regen komplett verrutscht, blickt in den Himmel, er schließt kurz die Augen und schüttelt den Kopf.

Wenn er gegen Österreich nicht spielt, kann er nicht mit zur WM, hat es in den vergangenen Tagen geheißen. Aber was, wenn das Spiel ausfällt? Wenn Neuer durch höhere Gewalt um die Möglichkeit gebracht wird, sich noch einmal zu präsentieren?

103 Minuten dauert es, bis das Spiel angepfiffen wird, weitere 54 Sekunden, bis Neuer den ersten Ball in den Fuß gespielt bekommt. Und noch mal 31 Minuten, bis auch die letzten Zweifler an Neuer ihre Zweifel zumindest überdenken. Österreichs Mittelfeldspieler Florian Grillitsch steht fünf Meter vor ihm völlig frei, Neuer hat seinen Körper schon nach rechts verlagert, aber Grillitsch schießt nach links, ins kurze Eck. Neuer wendet, taucht hinab und lenkt den Ball mit der Hand am Pfosten vorbei.

Vor zwei Monaten wäre die Nachricht, dass Neuer bei der WM dabei ist, noch eine Sensation gewesen. Selbst vor zwei Wochen, als die Nationalspieler ins Trainingslager nach Südtirol aufbrechen, überwiegen eher die Zweifel als die Gewissheit. Seit dem ersten Trainingstag in Eppan aber kann man quasi dabei zusehen, wie Neuers WM-Chancen von Tag zu Tag größer werden. Wie über ihn nicht mehr im Konjunktiv, sondern zunehmend im Indikativ gesprochen wird. „Er kommt nicht in die Spur“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Er ist da schon drin.“

599 Tage lang absolvierte Manuel Neuer wegen seiner Verletzung kein Länderspiel.
599 Tage lang absolvierte Manuel Neuer wegen seiner Verletzung kein Länderspiel.

© imago/Sven Simon

Mitte September hat sich Neuer im Training des FC Bayern München den linken Mittelfuß gebrochen. Um korrekt zu sein: Er hat sich zum dritten Mal den linken Mittelfuß gebrochen, und seitdem befindet sich die Nation, zumindest ihr fußballbegeisterter Teil, in einem Zustand ständiger Erregung. Kaum eine Woche ohne neue ärztliche Bulletins oder medizinische Ferndiagnosen. Anfangs heißt es, zur Rückrunde, also im Januar, werde Neuer auf den Trainingsplatz zurückkehren, später spricht Löw von Februar oder März.

Der Februar geht vorüber, der März auch. Von Neuer ist nichts zu sehen.

Verkraftet er das? Spielt sein Körper mit?

In Eppan nimmt der Wirbel um den Torhüter noch einmal eine neue Dimension an. An Tag vier erzählt Joachim Löw der ARD, wenn Neuer mit nach Russland fahre, werde er auch die Nummer eins sein. Später am Abend hat es diese Aussage des Bundestrainers zur Spitzenmeldung im Heute-Journal des ZDF geschafft. Neuer ist jetzt wichtiger als fehlende Kitaplätze, wichtiger als Nordkorea oder die Abstimmung der Iren über das Abtreibungsverbot.

Rational ist das alles nicht. Auch nicht, dass Löw sich so früh auf seinen Kapitän als Nummer eins festgelegt hat. Neuer hat 90 Minuten gegen Österreich im Tor gestanden, zwei, drei gute Paraden gezeigt. Vielleicht darf er sich auch am Freitag gegen Saudi-Arabien noch einmal unter realen Wettkampfbedingungen versuchen. Er reist ohne nennenswerte Spielpraxis zur WM. Nach mehr als acht Monaten Pause müsste Neuer bei der WM im Idealfall sieben Spiele in nur vier Wochen bestreiten. Verkraftet er das? Spielt sein Körper mit? Was passiert, wenn ihm ein Gegenspieler auf den operierten Fuß tritt? Und was, wenn er in einem der K.-o.-Spiele einen Ball durch seine Hände flutschen lässt?

Marc-Andre ter Stegens Leistung in der Nationalelf ist über jeden Zweifel erhaben. Dennoch wird er wohl zurückstecken müssen.
Marc-Andre ter Stegens Leistung in der Nationalelf ist über jeden Zweifel erhaben. Dennoch wird er wohl zurückstecken müssen.

© Christian Charisius/dpa

Sportlich ist die Entscheidung schwer zu begründen. Denn dass Manuel Neuer die Nummer eins sein wird, heißt eben auch, dass Marc-André ter Stegen es nicht sein wird.

Ter Stegen, 26, steht seit vier Jahren beim FC Barcelona unter Vertrag, einem der größten Klubs der Welt. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten genießt er dort inzwischen allerhöchsten Respekt; die spanische Presse hat ihn als „Messi in Handschuhen“ gefeiert. Zumindest im Spielaufbau mit dem Fuß ist ter Stegen so gut wie Neuer. Und seine Leistungen in der Nationalmannschaft, anfangs schwankend, waren zuletzt ebenfalls über jeden Zweifel erhaben. „Dass er bei Barcelona so ein Standing hat, das ist überaus toll und klasse. Das hat auch was mit seiner Persönlichkeit zu tun“, sagt Joachim Löw. „Er ist unheimlich gereift. Er wirkt irgendwie so auch in der Mitte, sehr, sehr stabil und klar. Das hat mir schon imponiert in den letzten zwei, drei Jahren.“

Manuel Neuer mitzunehmen ist deshalb keine rationale Entscheidung. Neuer ist für den deutschen Fußball eine übersinnliche Erscheinung und für Bundestrainer Löw der Faktor X im Unternehmen Titelverteidigung. „Marc-André ter Stegen hat sich super entwickelt“, hat Nationalverteidiger Jerome Boateng gesagt, „aber Manu hat eine andere Ausstrahlung als jeder andere.“

Man muss nur mal ein Elfmeterschießen mit oder gegen Manuel Neuer erlebt haben: wenn er seinen Platz auf der Linie einnimmt, kurz auf und ab hüpft und es scheint, als könnte er mit seinem Scheitel die Latte berühren; wenn er den rechten Arm ausfährt und fast an den rechten Pfosten heranreicht. Und dann das Gleiche mit dem linken Arm macht. Das Fußballtor, 2,44 Meter hoch und 7,32 Meter breit, schrumpft in solchen Momenten auf die Größe einer Mülltonne. Neuer füllt es scheinbar komplett aus, mit seiner Statur, vor allem aber mit seiner Persönlichkeit.

Marc-André ter Stegen ist nur sechs Zentimeter kleiner, sieben Kilogramm leichter, und selbst wenn man es ungerecht oder sportlich unverantwortlich findet, dass er nun wieder hinter Neuer zurücktreten muss: Er entfaltet nicht dieselbe Wirkung, nicht in seine eigene Mannschaft hinein, aber auch nicht auf die Spieler des Gegners.

Was Neuer zu all dem denkt? Er äußert sich nicht. Auch nicht nach dem Spiel in Klagenfurt. Am Dienstag werde er sprechen, verkündet die Medienabteilung des Deutschen Fußball-Bundes, DFB. Am Tag nach der Kaderbekanntgabe. Neuer ist zwar der Kapitän, aber er hat auch in Eppan weder Interviews gegeben, noch ist er bei einer der täglichen Pressekonferenzen aufgetreten. Allein dem Fernsehmann des DFB spricht Neuer ein paar dürre Sätze in die Kamera. „Ich bin wirklich guter Dinge“, sagt er. Und: „Mit dem Fuß geht es wirklich gut.“ Auf der Internetseite des Verbandes ist zu Beginn der Vorbereitung jeden Tag ein neues Video über den Torhüter zu sehen: „Manuel Neuer – die Serie“, Folge eins bis fünf.

"Das habe ich so noch nicht erlebt"

Man sieht Neuer bei der Ankunft in Südtirol mit falsch herum aufgesetzter Basecap, man sieht ihn in Trainingsklamotten, beim Fahrradfahren und beim Schuhanziehen – vor allem aber sieht man ihn beim Springen und Hechten, beim Fangen und Fausten, beim Laufen und Grätschen. Die Botschaft lautet: Macht euch keine Sorgen! Flankiert werden die Bilder von entsprechenden Aussagen aus dem Trainerteam und aus der Mannschaft. „Im Training hat man von der Sprungkraft, von der Beweglichkeit überhaupt keine Unterschiede gesehen“, sagt Andreas Köpke, der Bundestorwarttrainer. „Es war, als wäre er nie weggewesen.“

Köpke, 56, war selbst Nationaltorhüter. Auch er hat nichts erkennen können bei Neuer, keine Einschränkungen, keine schiefen Bewegungen, keine Schonhaltung, keinen falschen Respekt. Die Nationalmannschaft zeichnet jede Trainingseinheit per Kamera auf. Köpke hat die Videobilder noch mal in Zeitlupe an seinem Laptop seziert. Auch da: keine Auffälligkeiten. So erzählen es alle. „Ich habe schwer aus der Röhre geguckt, wie er im ersten Training die Bälle rausgekratzt hat“, berichtet Innenverteidiger Niklas Süle. „Das habe ich so noch nicht erlebt.“

Torhüter sind eine eigene Spezies. Mal kommen Neuer und die anderen drei – Marc-André ter Stegen, Bernd Leno und Kevin Trapp – ein bisschen früher auf den Platz als die Feldspieler, mal später. Sie absolvieren ihr eigenes Aufwärmprogramm, jeder so, wie er es für richtig hält. Neuer läuft parallel zur Torauslinie, er schmeißt sein Bein, gerade wie eine Zaunlatte, in die Luft, die Fußspitze schießt über seinen Kopf hinaus. Nach ein paar Bahnen setzt er sich am Strafraumeck auf den Boden.

Trapp jongliert den Ball auf seinem Fuß, Leno schießt scheppernd gegen eine Wand, die im Fünfmeterraum aufgebaut ist, und ter Stegen plaudert mit Köpke. Als der Torwarttrainer seine Übungen beginnt, sitzt Neuer immer noch auf dem Rasen. Er dehnt und streckt sich. Schon dieser kurze Einblick genügt, um zu erkennen, dass Manuel Neuer etwas Besonderes ist.

„Er ist unser Mannschaftskapitän, wir sind 2014 Weltmeister mit ihm geworden, deshalb versuchen wir auch bis zum Schluss alles, damit es hundertprozentig funktioniert“, sagt Köpke. Die Deutschen haben ihre Torhüter schon immer für die besten der Welt gehalten, egal ob Sepp Maier, Toni Schumacher oder Oliver Kahn.

Auf Manuel Neuer, viermal Welttorhüter des Jahres, kann sich auch der Rest der Welt verständigen. Weil er nicht nur gut auf der Linie ist, wie viele deutsche Torhüter der Vergangenheit, sondern mit seiner offensiven Interpretation des Torwartspiels stilbildend gewirkt hat. So wie Neuer – vorausschauend, mutig, ballsicher auch mit dem Fuß – muss man heutzutage als Torhüter auftreten. „Er ist eigentlich in allen Bereichen komplett“, findet Thomas Schneider, Löws Assistent, „unfassbar gut“.

Die Erfahrung zeigt, dass es bei einem großen Turnier wie einer WM immer ein Spiel gibt, in dem es für die Mannschaft nicht so läuft wie erhofft. Ein Spiel, das der Torhüter mehr oder weniger allein gewinnen muss. Vor vier Jahren in Brasilien hat Manuel Neuer den Deutschen zwei Spiele gewonnen.

Seine sensibelste Entscheidung überlässt Löw allein Manuel Neuer

Das erste war das Achtelfinale gegen Algerien. Der krasse Außenseiter überrumpelte den Favoriten aus Deutschland immer wieder mit simplen Kontern. Neuer sprintete in Serie aus seinem Strafraum, er grätschte jeden Angriff weg. Manu, der Libero, wurde er anschließend genannt.

Im Viertelfinale gegen Frankreich war die Nationalmannschaft durch ein Tor nach einem Freistoß früh in Führung gegangen, anschließend beschränkte sie sich weitgehend darauf, ihren Vorsprung zu verteidigen. Das gelang auch bis kurz vor Schluss: bis Karim Benzema fünf Meter vor dem Tor frei zum Schuss kam. Er traf den Ball perfekt, Neuer riss den rechten Arm in die Höhe, der Ball prallte ins Feld zurück. Für die Zuschauer auf der Tribüne sah es so aus, als hätte Benzema den Pfosten getroffen. Erst in der Zeitlupe war zu erkennen, dass Benzemas Schuss an Neuers Arm zerschellt war.

In seinen besten Momenten besitzt Manuel Neuer eine Aura der Unbezwingbarkeit. So wie vor vier Jahren bei der WM. Neuer konnte im Finale sogar Argentiniens Stürmer Gonzalo Higuain im Kampf um den Ball ungestraft zu Boden rempeln. Statt Elfmeter für Argentinien und Rot gegen Neuer gab es einen Freistoß für die Deutschen.

Am Tag nach seinem Comeback stehen für Manuel Neuer zwei wichtige Gespräche an. Die Bundeskanzlerin hat sich zum Abendessen im Quartier der Nationalmannschaft angemeldet; als Kapitän muss er ein paar Worte sagen. Das kriegt er hin. Das wichtigere Gespräch ist das mit dem Bundestrainer. Joachim Löw hat immer erklärt, bevor er seinen Kader zusammenstreiche, werde er sich mit Neuer „offen und ehrlich“ austauschen. Der Torhüter wisse um seine Verantwortung, nicht nur für sich, auch für die Mannschaft, für Deutschland. Sagt Neuer, es geht, dann ist er dabei. Im Grunde überlässt Löw die vielleicht wichtigste, auf jeden Fall sensibelste Entscheidung seiner Amtszeit allein Manuel Neuer.

Er sieht sie bei ihm in guten Händen.

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