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Christian Gentner hat in seiner Karriere schon viel erlebt. Jetzt sind auch Geisterspiele für ihn Routine.

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Christian Gentner vom 1. FC Union im Interview: „Bei der ersten Gelegenheit wird unser Stadion wieder voll sein“

Christian Gentner über die Herzlichkeit der Union-Anhänger, Heimvorteil ohne Publikum und die Chancen für das kommende Spiel beim FC Bayern.

Christian Gentner, 35, wechselte 2019 zum 1. FC Union. Zuvor absolvierte der fünffache Nationalspieler 377 Bundesligaspiele für Stuttgart sowie Wolfsburg und wurde mit beiden Klubs Meister. Aufgrund einer Wadenverletzung kam der neben Max Kruse mit Abstand erfahrenste Spieler der Köpenicker in dieser Spielzeit auf nur15 Einsätze.

Herr Gentner, am Samstag spielen Sie mit Union beim FC Bayern (15.30 Uhr/Sky). In der vergangenen Saison sind 7500 Berliner Fans mit nach München gefahren, dieses Mal wird das Stadion leer sein. Wie oft müssen Sie noch daran denken, was für eine Stimmung es vor Corona beim Fußball gab?
Man kommt zwangsläufig immer mal wieder darauf zu sprechen, in der Kabine mit Mitspielern, aber auch im privaten Umfeld. Auch wenn man ältere Spiele sieht oder Highlights in den Sozialen Medien, kommt man an dem Thema nicht komplett vorbei. Leider begleitet uns das jetzt schon eine ganze Weile und man hat sich ein bisschen daran gewöhnt – aber nie voll und ganz und das wird auch nicht passieren. Denn beim Derby hat man gerade wieder gesehen, dass ohne Fans unheimlich viel Emotionalität verloren geht. Ich fand es noch eklatanter, als wir im Olympiastadion gegen Hertha gespielt haben, da war es sehr trist.

Mittlerweile ist es mehr als ein Jahr her, dass die Stadien voll waren. Verschwimmt nach solch einer langen Zeit langsam auch die Erinnerung an die Stimmung?
Dieses Stadion und die besondere Atmosphäre werde ich nie vergessen, weil das außergewöhnlich ist. Auch als wir vor knapp 5000 Zuschauern gespielt haben, war es ein total gutes Gefühl. Das ist nichts, was komplett verloren geht.

Einige Ihrer Mitspieler haben noch nie im vollen Stadion An der Alten Försterei gespielt. Kann man denen erklären, wie sich diese Stimmung anfühlt?
Der eine oder andere kennt das aus den Spielen gegen Union, aber es ist noch einmal was anderes, wenn du Spieler von Union bist. Diese Herzlichkeit, mit der du aufgenommen wirst, und der Support fangen schon vor dem Spiel an und gehen weit über das Spiel hinaus. Das ist schon etwas sehr Außergewöhnliches und das versuchst du den Mitspielern auch zu vermitteln. Für die Jungs, die im Sommer aus dem Ausland gekommen sind und das noch nie erlebt haben, ist das aber schon ein trauriger Zustand.

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Viele Profis haben im vergangenen Jahr schon gesagt, dass ihnen die Fans fehlen. Aber was fehlt Ihnen konkret?
Hauptsächlich ist es als Spieler natürlich die Stimmung, weil sie einer der Hauptgründe ist, weswegen du Profifußballer werden willst. Die Atmosphäre, die wir hier in Deutschland mit vollen Stadien normalerweise haben, ist total beeindruckend. Ich finde es auch viel schwieriger, im Fernsehen Fußball zu schauen. Bei Topspielen ist es für uns als Spieler natürlich auch sehr spannend, das überragende taktische Niveau zu sehen. Aber es gibt auch viele andere Spiele, die von der Emotionalität leben und da geht ohne Fans sehr, sehr viel verloren. Wenn man sich an Aufholjagden in der Champions League wie vor zwei Jahren zwischen Tottenham und Ajax oder das 6:1 von Barcelona gegen Paris erinnert – ich glaube, das ist ohne Zuschauer in der Form nicht möglich.

Beim VfB Stuttgart hatten Sie als Kapitän einen engen Draht zu den Fans. Vermissen Sie das direkte Feedback der Zuschauer und auch die Möglichkeit, als Spieler vielleicht mal in der Kurve zu vermitteln?
Beim VfB hatten wir ein, zwei Mal die Woche Zuschauer beim Training und in den Ferien hast du danach auch mal eine halbe Stunde Autogramme geschrieben. Klar fehlt so etwas, weil ich es die ersten 15 Jahre meiner Karriere immer erlebt habe. Wir hatten auch regelmäßig Fanklubtreffen, wo du eine andere Wahrnehmung der Leute mitbekommst und darauf eingehen kannst. Wenn es sportlich nicht läuft, kannst du besänftigen, und wenn es gut läuft, zusammen feiern. Das sind Dinge, die wir uns alle wieder wünschen – am liebsten früher als später.

In der Anfangsphase der Pandemie im vergangenen Frühjahr mussten sich alle Mannschaften erst mal an die Geisterspiele gewöhnen. Haben Sie dafür auf besondere Maßnahmen zurückgegriffen?
Wir haben schon versucht, diese ganzen Rückmeldungen, die du sonst von den Fans bekommst, wenn du einen Zweikampf gewinnst oder einen Eckball herausholst, etwas zu kompensieren und die Emotionen hochzuhalten. Die Mitspieler müssen mehr kommunizieren und lauter sein. Wir haben auch der Ersatzbank einen höheren Wert zugesprochen. Von außen muss man mehr einwirken, positiv sein, mitcoachen. Aber es fällt definitiv schwerer, die Spannung beim Warmmachen hochzuhalten, wenn du in ein leeres Stadion kommst.

Ist das für erfahrene Spieler einfacher?
Ich habe in der Anfangszeit darüber auch mit einem befreundeten Sportpsychologen gesprochen und denke, dass es für erfahrene Spieler ein Stück weit einfacher ist, weil man nicht mehr so sehr auf die unmittelbare Rückmeldung der Zuschauer reagiert oder darauf angewiesen ist. Aber mittlerweile hat sich jeder Spieler daran gewöhnt.

„Wahrscheinlich hätten wir mit Fans im Derby am Ende mehr riskiert“

Union ist im eigenen Stadion auch ohne Zuschauer seit 13 Spielen ungeschlagen. Warum gibt es offenbar auch bei Geisterspielen einen Heimvorteil?
Der Heimvorteil ist auch dadurch gegeben, dass du die Möglichkeit hast, öfter in dem Stadion zu trainieren. Dadurch kennst du alles und hast ein besseres räumliches Verständnis. Wir sind ja nicht die einzige Mannschaft, die momentan zu Hause sehr erfolgreich ist – das gilt genauso für Wolfsburg, Frankfurt und zuletzt auch für Stuttgart. Man könnte es auch so sehen, dass mit Fans ein größerer Druck da ist und das manchmal eher hemmt. Ich glaube trotzdem, dass vor allem in der Schlussphase eines engen Spiels, wenn die Mannschaft bei jedem Angriff ein Schub von den Fans bekommt, ein großer Heimvorteil besteht. Wahrscheinlich hätten wir im Derby am Ende mehr riskiert, vielleicht wären wir dann aber auch in einen Konter gelaufen.

Beim Derby gab es am Stadion ein Feuerwerk, in manchen Spielen haben Fans vor dem Stadion „Eisern Union“ gerufen. Nehmen Sie so etwas auf dem Platz wahr?
Die Rufe eher weniger. Aber das Feuerwerk war nicht zu überhören, das hat jeder wahrgenommen. Für uns ist es immer gut, wenn Stimmung herrscht, aber auf dem Platz bist du natürlich fokussiert.

Glauben Sie, dass sich das Verhältnis zwischen Fans und Profis durch die Pandemie und die lange Zeit ohne Zuschauer in den Stadien nachhaltig verändern wird?
Ich kann das nicht für jeden Standort ganzheitlich beurteilen und weiß nicht, ob die Stadien überall gleich wieder voll sein werden oder ob es vielleicht Leute gibt, die große Menschenmassen meiden. Bei Union bin ich mir aber zu tausend Prozent sicher, dass das Stadion – wenn es endlich wieder möglich ist – bei der ersten Gelegenheit voll sein wird. Der Verein lebt die Nähe zu den Fans, und ich denke, die wird schnell wieder zurückkehren.

Viele Fans sprechen von einer gewissen Entfremdung vom Profifußball und kritisieren zum Beispiel Spielverlegungen in der Champions League nach Budapest oder die Einführung immer neuer Wettbewerbe. Können Sie das nachvollziehen?
Das ist eine sehr weitreichende Diskussion, die du von vielen Seiten betrachten kannst und vielleicht auch musst. Ich bin als Spieler dankbar dafür, dass ich meinem Job nachgehen kann und dass der Profifußball Konzepte geschaffen hat, wie wir unsere Saison so spielen können, wie wir das tun. Der Großteil der Leute, mit denen ich privat zu tun habe, freut sich total, dass am Wochenende Bundesliga ist und unter der Woche Champions League. Mit den neuen Reformen habe ich mich nicht genug beschäftigt, um dazu eine klare Meinung zu äußern. Dass man aber Möglichkeiten sucht, wie man die Wettbewerbe fortführen kann, ist für mich verständlich. Es ist sicherlich keine optimale Lösung, wenn Spiele einer deutschen Mannschaft und einer englischen Mannschaft in Budapest stattfinden müssen, aber der Terminkalender ist sehr eng, du hast gewisse Rahmenbedingungen und natürlich geht es auch um viel Geld. Ich glaube trotzdem, dass sich ein ganz, ganz großer Teil der Fans freut, dass die Spiele stattfinden.

Ihr nächster Gegner hat gerade gegen Paris in der Champions League verloren, hat am Dienstag schon das Rückspiel und zudem einige Ausfälle. Ist die Chance, etwas zu holen, größer als normal?
Ich glaube nicht, dass das ein Riesenvorteil ist, weil der FC Bayern einen Kader hat, wo auch die Spieler hinter den ersten Elf ein Topniveau haben. Trotz der Niederlage gegen Paris hat man gesehen, was da für eine unheimliche Qualität auf dem Platz steht. Das ist nach wie vor die absolute Topmannschaft in Deutschland.

Union hat als Siebter Chancen auf das internationale Geschäft. Wie sehen Sie die bisherige Saison?
Wer unsere Saison ein bisschen verfolgt hat, kann nur feststellen, dass es herausragend gelaufen ist. Die Mannschaft als Ganzes hat sich enorm entwickelt und viele Spieler sind zu festen Größen in der Bundesliga geworden. Man bekommt das ja mit, dass die Namen unserer Spieler auch bei anderen Vereinen fallen, weil sie sich das verdient haben und konstant gute Leistungen bringen. Wir treffen noch auf einige Topmannschaften, aber in der Hinrunde haben wir in diesen Spielen auch gepunktet. Von daher werden und wollen wir uns nicht verstecken.

Gegen Hertha haben Sie zum ersten Mal seit Mitte Februar wieder von Beginn an gespielt. Sie haben sich diese Saison sicherlich anders vorgestellt.
Natürlich ist für mich persönlich nicht optimal gelaufen. Vorher war ich in meiner Karriere von Muskelverletzungen weitgehend verschont geblieben, in dieser Saison hat es mich erwischt. Die Verletzung hat sich ein bisschen gezogen, sodass es schwierig war, den richtigen Rhythmus zu finden. Jetzt bin ich seit einigen Monaten aber wieder voll dabei. Ich habe einen sehr engen Draht zum Trainer und wir tauschen uns viel aus. Es war klar, dass meine Rolle in der Mannschaft auch über das hinausgeht, was ich auf dem Platz liefern kann. Das mache ich zu 100 Prozent und ich bin total glücklich, dass wir als Mannschaft diesen Erfolg haben.

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Ihr Vertrag läuft im Sommer aus. Haben Sie schon einen Zeitplan, wann Sie eine Entscheidung über die Zukunft fällen?
Da gibt es keinen konkreten Zeitplan und auch keine Tendenz. Wir werden uns ganz in Ruhe zusammensetzen und schauen, was für den Verein und was für mich persönlich Sinn macht.

Sie fühlen sich trotz der muskulären Probleme fit für einen weitere Saison?
Ja, so ist der aktuelle Stand der Dinge. Ich habe vom Trainer auch die Bestätigung bekommen, dass er mich in den letzten Wochen im Training voll im Rhythmus wahrnimmt, was auch ein Grund dafür war, dass ich gegen Hertha von Anfang an spielen durfte. Das bestätigt mich in meiner täglichen Arbeit. Ich fühle es auch selbst, dass es körperlich weiter möglich ist. Aber in meinem Alter und in meiner Situation mit der Familie gehören mehr Dinge dazu und deshalb gehen wir das ganz entspannt an.

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