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Vorbild einer neuen Generation. Die US-Amerikanerin Simone Biles gewann in Rio vier Goldmedaillen.

© Imago/Kyodo News

Bundestrainerin Ulla Koch: "Diktatur hat im Turnen keine Chance mehr"

Turnerinnen sind kleine, schüchterne Mädchen? Bundestrainerin Ulla Koch macht andere Erfahrungen, zum Glück, sagt sie. Hier spricht sie über Gleichberechtigung, Gewicht und ADHS.

Frau Koch, beim Verhältnis der Geschlechter ist Turnen eine Klischeesportart. Mädchen sind klein und zierlich, Jungs muskulös. In manchen Nationen hat man grimmige Trainer auf diese kleinen Mädchen einreden sehen. Funktioniert das noch?

Ich glaube, dass die Diktatur im Turnen keine Chance mehr hat. Und die Nationen, die im Training diktatorisch arbeiten, von der Bildfläche verschwinden. Sie haben verpasst zu begreifen, dass Turnen keine Sportart ist mit kleinen Mädchen, bei denen man wenig Bildung zulässt.

Wer macht es richtig?
Amerikanerinnen, Britinnen, Kanadierinnen sind gute Beispiele. Das sind junge Frauen, die stehen im Leben, die sind stark. Physisch und mental. Aber auch unser Team besteht aus erwachsenen und interessierten jungen Frauen, die wissen, was sie wollen, sich ausdrücken können.

Warum funktioniert das besser als das Autoritäre?
Weil die Sportart so komplex ist. Weil man kein Profi werden kann, muss man sich die Frage stellen: Was bringt mir das fürs Leben? Wenn die Turnerinnen uns fragen, ob sie wegen des Studiums drei Monate auf Lehrgänge verzichten können, sollen sie sehen: Du bist uns wichtig als Mensch. Meine Philosophie ist auch: Alle Erfahrungen, die wir im Leben sammeln, sind mit Emotionen verbunden.

Und das bedeutet fürs Turnen?
Wir müssen schon die ganz Kleinen im Training so betreuen, dass sie sich wohlfühlen. Wer sich wohlfühlt, entwickelt auch Leistung. Viele haben negative Erinnerungen gespeichert, weil der Trainer mit der Pfeife in der Halle stand und sie Schmerzen ertragen ließ. Wir benennen nicht mehr die Fehler bei Korrekturen, sondern sagen den Athletinnen, was sie besser machen können. Also nicht: Du springst zu tief, sondern spring höher! Und nicht: Du hast krumme Knie, sondern zeig deine schönen gestreckten Beine!

Andere Sportarten haben Kämpfe für die Gleichberechtigung geführt. Im Turnen scheint das relativ starr zu sein mit vier Geräten bei den Frauen und sechs bei den Männern. Und sie teilen sich nur den Sprung und den Boden, das Königsgerät Reck ist den Männern vorbehalten.
Leider. Es gibt ein tolles Turnier, den Swiss Cup, das ist ein Mixed Cup mit 20.000 Franken Preisgeld. Das ist das höchste Preisgeld im Turnen. Da wollen alle hin. Bei unserem DTB-Pokal machen wir dagegen einen Männer-Wettkampf und einen Frauen-Wettkampf. Die sehen sich nicht mal untereinander. Man könnte einen tollen Mixed-Wettkampf draus machen. Die Zuschauer wollen sehen, dass Männer und Frauen miteinander gegen andere Männer und Frauen kämpfen. Das wäre auch etwas für Olympia.

"Beim Kaiserschmarrn habe ich die Augen geschlossen"

Ulla Koch, 61, ist seit 1005 Cheftrainerin der deutschen Turnerinnen. 2016 wurde sie mit dem Gleichstellungspreis des Deutschen Olympischen Sportbunds ausgezeichnet.
Ulla Koch, 61, ist seit 1005 Cheftrainerin der deutschen Turnerinnen. 2016 wurde sie mit dem Gleichstellungspreis des Deutschen Olympischen Sportbunds ausgezeichnet.

© picture alliance / dpa

Haben es Bundestrainerinnen schwerer als ihre männlichen Kollegen?
Ich kenne kaum Bundestrainerinnen. Bei Olympia in Rio habe ich so gut wie keine getroffen. Es gibt einfach zu wenige.

Woran liegt das?
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Thema. Ich glaube auch, dass Frauen nicht in diese Führungspositionen drängen, weil ihr Bedürfnis nicht so groß ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Vielleicht ist das ein Vorurteil. Aber Frauen sagen sich vielleicht: Bundestrainerin? Nee, ich bin hier in meinen Stützpunkt, mache super Arbeit, mir gefällt das hier. Warum soll ich mich auf die große Bühne schmeißen, wo ich untergebuttert werde?

Liegt es auch daran, dass fast alle Sportdirektoren, Olympiastützpunktleiter, Verbandspräsidenten Männer sind?
Es ist auf jeden Fall so, dass Frauen in Verbänden, in denen Männer dominieren, eine geringere Chance haben. Und in Sportarten, in denen Männer und Frauen zusammen trainieren, werden fast nur Männer in die leitenden Positionen berufen. Vielleicht können sich Frauen solche Jobs nicht leisten, weil sie immer noch zu wenig Unterstützung zu Hause bekommen. Ich habe jetzt einen Stützpunktleiter gehört, der gesagt hat: „Es ist echt eine Schande, wir haben zwei Trainer, die wollen jetzt Elternzeit nehmen. Wie kann ein Trainer nur Elternzeit nehmen?“ Da sage ich: Das ist ihr Recht. Es gibt für junge Männer, die mehr für die Familie da sein wollen, wenig Verständnis von den älteren. Ich kenne zwei Trainer in Berlin, die Lehrer geworden sind, um mehr für die Familie da sein zu können. Wenn Frauen schwanger werden, sind sie ja erst mal draußen. Aber ich habe auch gute Beispiele erlebt, dass Frauen ihr Baby erst mal mit in die Halle bringen. Die Turnhalle ist doch der beste Spielplatz der Welt.

Wie war das bei Ihnen?
Ich habe mich erst mit über 50 entschieden, Bundestrainerin zu werden. Man muss für eine Sache richtig brennen, um einen höheren Job anzunehmen. Ich bin zum Beispiel die Hälfte aller Nächte im Jahr nicht zu Hause, das wäre niemals gegangen, als unser Sohn noch klein war.

Hatten Sie mal das Gefühl, dass Sie sich etwas erkämpfen mussten, was einem Mann hinterhergeworfen worden wäre?
Wir waren drei Mädchen zu Hause und mein Vater hat in mir immer den Jungen gesehen. Ich habe Fußball gespielt, mit 14 noch in der Jungenmannschaft als einziges Mädchen. Ich konnte gut werfen und mich gut verteidigen. Ich habe auch früh angefangen, für die deutschen Trainer zu sprechen. Mit 22. Damals waren noch alle Posten mit Männern besetzt. Da habe ich in jungen Jahren gelernt, Strategien zu entwickeln, wie ich Männer überzeugen kann, dass es ihre eigene Idee ist, etwas zu verändern, auch wenn es meine Idee war.

Hat Ihnen mal jemand Kontra gegeben, weil Sie ein Frau sind?
Ich glaube, mein eigener Mann hat mir am meisten Kontra gegeben. Er war früher auch Bundestrainer, jetzt ist er in Bayern Landestrainer. Wenn es um den gemeinsamen Umgang geht, dann geht es auch oft um Sprache. Die Sprache im Männertraining und Frauentraining ist jedenfalls komplett anders.

Inwiefern?
Wenn die Männertrainer eine Woche bei uns trainieren würden, gäbe es schon zehn Briefe von Eltern. Bei uns fällt zum Beispiel nie der Begriff „Arsch“. Beim Männerturnen ist das normal. Wir versuchen, niemals etwas zu sagen, was den anderen verletzen könnte. Gerade bei Bemerkungen zum Körper sind die Mädels ganz sensibel. Wenn ein Männertrainer an unserem Frühstückstisch vorbeigeht, sagt er: Wenn ihr so viel esst, ist es kein Wunder, dass ihr so ausseht. Für die Turnerinnen ist das ein Scherz. Wenn wir das sagen würden, wären sie beleidigt.

Wie gehen Sie mit dem Thema Ernährung und Gewicht um?
Wenn ich mit Athleten aus den 80er Jahren spreche, erzählen sie mir, was das für ein Alptraum war: Oh, jetzt ist wieder Wiegetag! Da sind sie vorher mit allen Klamotten in die Sauna gegangen. Ich habe auch von asiatischen Spielsportmannschaften gehört, die den Zyklus der Frau kontrollieren. Weil es Untersuchungen gibt, nach denen Frauen anfälliger für Kreuzbandrisse sind, wenn sie ihre Tage haben. Das kann ich allein aus ethischen Gründen nur ablehnen. Wir hatten auch mal eine kleinwüchsige Turnerin, die mit Hormonen zum Wachstum angeregt werden sollte. Das haben wir komplett abgelehnt. Auf diese Idee darf man gar nicht kommen.

Wie behandeln Sie das Thema im Team?
Turnen ist sehr viel athletischer geworden. Wir haben keine Wirbelsäulenproblematiken mehr. Also diese ganzen Diskussionen, dass wir sie verbiegen und ihnen das Rückgrat brechen, tendiert gegen null. Wir haben viel mehr Probleme mit Knien und Füßen durch die stärkere Akrobatisierung. Je mehr athletische Dinge wir eingebaut haben, je mehr Krafttraining, umso mehr ist das Gewichtsthema zurückgegangen. Wir wiegen jetzt nur noch drei-, viermal im Jahr. Du kannst so schwer sein wie du willst, aber du musst mit deinem Körper umgehen können.

Wenn Sie mit Ihren Turnerinnen im Restaurant sind, dürfen dann alle bestellen, was sie möchten?
Ja, bei unserer Olympiaauswertung am Tegernsee gab es einen Hüttenabend, da haben sich einige Kaiserschmarrn bestellt. Ich habe da einfach meine Augen geschlossen. Die müssen selbstverantwortlich mit ihrem Körper umgehen, da müssen sie auch eigenverantwortlich essen.

Was ist mit den Gewichtstabellen?
Unsere Gewichtstabellen von früher sind out. Wir suchen jetzt auch andere Typen. Die auf dem Spielplatz von der Rutsche fallen und die Mutter sagt: Komm, steh auf und mach noch mal. Eigentlich so ADHS-Kinder, die rumtoben, die nicht zu bremsen sind. Als ich gehört habe, dass Simone Biles ein ADHS-Kind ist, habe ich gesagt, wir suchen nur noch ADHS-Kinder (lacht).

"Jede Nacht bis drei, vier Uhr gefeiert."

Also keine behüteten, schüchternen Mittelschichtskinder mehr?
Es hat sich alles verändert. Ich dachte früher auch immer, dass die Männer die Mädels zu Unsinn verführen. Vollkommen falsch. Nanning war so ein Thema…

…wo die WM 2014 stattfand…
…da sind wir früh rausgeflogen. Wir Trainer saßen abends da und haben uns zerfleischt, was wir falsch gemacht haben und die Mädels sind durch die Tiefgarage im Hotel abgehauen, jede Nacht und haben bis drei, vier Uhr gefeiert. Danach haben wir unseren Verhaltenskodex angepasst. Sie dürfen nach internationalen Wettkämpfen bis zwei Uhr raus, aber sie müssen sich abmelden. Unsere Ansage kann nur sein: Passt auf mit dem Alkohol, ihr dürft euch nach hartem Training und hartem Wettkampf auch belohnen, aber bezieht uns ein, damit wir wissen, wo ihr seid, und macht es so, dass niemand hinterher sagt: wir haben eine Dummheit gemacht. Dann heißt es, Vertrauen haben.

Was hat Ihnen das über Ihre Turnerinnen gezeigt?
Dass sie Gott sei Dank normale Leute sind. Das sind nicht mehr diese braven, kleinen adaptierten Menschen, die man zu Gehorsam und Disziplin dressiert hat. Nee, die büxen aus.

Da hätte mancher Trainer sicher etwas anderes gesagt.
Ja? Also ich kann die Trainer nicht verstehen, die sagen: Wenn man zu Olympia will, muss man so fokussiert sein, dass man links und rechts nichts mehr sieht. Ich bin schon für eine zielgerichtete Vorbereitung. Aber ohne nebenbei noch etwas anderes zu machen, Schule, Ausbildung, Studium, wird man so engstirnig, dass man sich kaum entwickeln kann.

Wo würden Sie selbst gerne noch einen Beitrag zur Gleichstellung leisten?
Ich würde gerne Vorbild sein für junge Frauen und sie ermuntern: Mensch, du kannst genauso stark sein wie ein Mann, wenn nicht sogar noch stärker. Ich sehe es aber als Chance, wenn Männer und Frauen gut zusammenarbeiten. Ich bin froh über jeden Mann bei uns im Frauenteam. Männer nehmen Probleme anders auf. Die trinken ein Bier zusammen, streiten sich dabei und nach dem zweiten Bier ist es vergessen. Das ist bei Frauen anders. Da trinkt man sechs Tee und am nächsten Tag ist das Problem immer noch da.

Wie ist denn das Verhältnis zwischen Turnerinnen und Turnern?
Sehr gut. Sie geben sich gegenseitig Tipps, respektieren und motivieren sich. Sie feiern auch zusammen. Wir haben im Moment sogar eine Paarphase. Pauline Schäfer ist schon drei Jahre mit Andreas Bretschneider zusammen, Michelle Tim mit Marcel Nguyen, Matthias Fahrig mit einer Trainerin in Halle. Und Andreas Hirsch …

… der Cheftrainer der Männer …
sagt, seinen Männern tue es gut, mit Frauen zusammen zu sein, die nicht ständig sagen, wie toll es ist, einen Turner als Freund zu haben, sondern die selbst Leistungssportlerinnen sind.

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