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Große Freiheit auf kleinem Feld. Als Serdal Celebi (r.) hörte, dass der FC St. Pauli eine Blindenmannschaft hat, zog es ihn von Nürnberg zurück nach Hamburg. Aufgewachsen ist er in den türkischen Kurdengebieten, wo er als kleines Kind schon Fußball spielte und später den Krieg miterlebte.

© Fredrik von Erichsen/dpa

Blinder Torschütze des Monats: Serdal Celebis Gespür für Fußball

Als er mit 13 Jahren erblindet, verkriecht er sich. Jahre später beschließt er, das Beste aus seinem Leben zu machen. Heute ist Serdal Celebi berühmt.

Von Benjamin Apitius

Zuallererst sieht man durch die Glastür hindurch nur seinen weißen Stab. Eine rollende Kugelspitze tanzt flach über dem Boden und sucht den Eingang in das Café im Hamburger Stadtteil Billstedt. Dann tritt Serdal Celebi ins Bild. Die kleine Kugel stupst gegen die verschlossene Tür, Celebi stoppt, zieht die Tür mit einem Schwung zu sich auf und kommt rein. Die vielen Gespräche überlagern sich hier an diesem letzten Oktobertag, ein Wirrwarr aus Stimmen, aus verschiedenen Sprachen, von überall her klappert Geschirr, die Kaffeemaschine zischt, ein Handy klingelt. „Herr Celebi!“ Auf den Zuruf reagiert er sofort. „Da sind Sie ja“, sagt er und streckt die Hand aus.

Serdal Celebi ist blind. Seinen Stab klappt er zusammen wie einen Zollstock und legt ihn neben sich auf den Tisch. Als der Kaffee serviert wird, greift er sich einen Streuer und fragt: „Ist das der Zucker?“ Durch Mittel- und Zeigefinger hindurch schüttet er ihn in seine Tasse. So kann der 34-Jährige die Menge genau abschätzen.

Auch auf dem Fußballplatz ist Celebi auf Unterstützung angewiesen. Für den FC St. Pauli läuft er in der Blindenfußball-Bundesliga auf. Die Tore schießt der Stürmer aber ganz allein. Und was für welche! Im vergangenen August gelang ihm im Finalspiel um die deutsche Meisterschaft nach einem Dribbling ein Schuss in den linken oberen Torwinkel. Ein Reporter war von diesem Treffer derart angetan, dass er sich die Aufzeichnung besorgte und die Szene an die Fernsehanstalt der ARD schickte, Abteilung Tor des Monats.

Serdal Celebi bekam davon erst einmal gar nichts mit. Er saß heulend auf dem Kunstrasen und hielt sich die Hände vor sein Gesicht. „Tor ist doch immer irgendwie Tor“, sagt er heute. Für ihn sei es in diesem Moment gar nicht darum gegangen, ob sein Tor nun besonders schön gewesen sei. Es war bei der 1:2-Niederlage gegen den neuen Deutschen Meister aus Stuttgart eben vor allem: eins zu wenig! Der Torjäger hatte seinen Klub mit einem weiteren Treffer unbedingt noch ins Penaltyschießen retten wollen, so aber war er untröstlich geblieben und sank auf den Hosenboden. Die Geschichte nahm trotzdem ihren Lauf. Aber erzählen wir sie an dieser Stelle mal ganz von vorn.

Es gibt noch eine Zeit, an die erinnert sich Serdal Celebi in Bildern. Es sind die Achtziger Jahre in den Kurdengebieten im Osten der Türkei. Celebi wächst in einem kleinen Dorf namens Cakan auf. Es gibt dort keine richtige Straße, ja nicht einmal ein Auto. Für die Kinder ist dieser Ort am Fuße der Berge ein Paradies. Celebi sieht noch heute den weißen Schnee vor sich. Im Winter kommt soviel davon vom Himmel, dass er die Haustüren versperrt, einen Meter hoch, manchmal zwei.

„Fußball ist für mich die größte Freiheit“, sagt der Stürmer

Im Sommer rennen Celebi und seine Freunde „wie die wilden Tiere durchs Dorf“, erzählt er, hauen sich gegenseitig auf die Nasen und plündern die Obstbäume der Nachbarn. Äpfel, Pflaumen, Birnen, Kirschen, Maulbeeren. Sie stopfen alles in sich hinein. Mittelpunkt für die Kinder aber stets: der Fußballplatz. Oder besser gesagt: ein Feld aus Sand, vier Steine bilden die Tore, der geflickte Plastikball ist meistens schon nach zwei Stunden wieder kaputt. „Mein ganzes Leben lang, seit ich denken kann, denke ich an Fußball“, sagt Celebi. Es ist eine glückliche Kindheit, an die er sich erinnert. Dann haut der Vater nach Hamburg ab und lässt seine Familie zurück. Dann kommt der Krieg. Auch in das kleine Dorf Cakan.

„Stellen Sie sich das mal so vor“, sagt Celebi: „Sie sitzen mit Ihrer Familie draußen und trinken Tee – und plötzlich knallt es so laut, dass Ihnen fast die Ohren wegfliegen!“ Die Mutter rennt mit ihren drei Kindern ins Haus und wirft sich unter den Tisch. Es explodieren weitere Bomben, die Detonationen sind so stark, dass der Boden vibriert. Celebi und seine Geschwister schreien, die Mutter erstarrt, „und mit diesem Gefühl wächst du als Kind dann auf. Du weißt, es ist Krieg. Und dann wird dieser Krieg zu deinem Alltag, du hast irgendwann gar keine Angst mehr davor. Nach dem dritten, vierten Mal weißt du halt, wie eine Bombe explodiert, wie sich das anhört.“ Serdal Celebi holt Luft. „Als Kind wird man im Krieg schnell erwachsen. Mit sieben Jahren denkst du schon wie ein Erwachsener. Dann sitzt du am Esstisch und redest nicht mehr über die Hausaufgaben oder was du morgen machen willst, dann redest du nur noch über den Krieg und über die Menschen. Dann ändert sich alles.“ Pause. „Krass, oder?“

Immer mehr Menschen verlassen das Dorf. Die Celebis sind eine der letzten Familien, die das Militär in die nächst gelegene Stadt Karakocan vertreibt. Dem kleinen Serdal verschwimmt in dieser Zeit zunehmend die Sicht. Im Alter von acht Jahren ist es so schlimm, dass er in der Schule die Aufzeichnungen an der Tafel nicht mehr erkennen kann. Eines Morgens schleicht er sich ins Klassenzimmer und schiebt vor dem Unterricht alle Tischreihen weiter nach vorne, ganz dicht vor die Tafel. Als der Lehrer zur Türe hereinkommt, fragt der nur: „Welcher Idiot hat hier alles umgestellt?“

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Ein kleiner Junge sieht immer weniger, und niemand weiß ihm zu helfen. „Die Menschen kannten das ja gar nicht. Es war eine unbekannte Situation für alle Beteiligten, auch meine Eltern konnten damit nicht umgehen, es gab ja keine Sensibilisierung für die zunehmende Erblindung eines Kindes. Das hat mir das Leben unheimlich schwer gemacht.“ Celebi wird das erste Mal operiert und trägt fortan eine Brille. Einmal, in den Gassen der Stadt, wird er von einem anderen Jungen als „Vierauge“ beschimpft, da platzt ihm der Kragen und es kommt zu einer wilden Keilerei. Die Brille zerbricht.

Die Netzhaut löst sich immer weiter ab von seinen Augen. Schon bald kann Celebi, wenn es schummrig wird, nichts mehr erkennen. Sein Vater will ihn nun zu sich nach Hamburg holen. In Deutschland, so glaubt die Familie, bestehe für Serdal die beste medizinische Versorgung. Aus Karakocan nimmt die Mutter mit ihrem Sohn also den Bus nach Istanbul, 20 Stunden geht es für sie durchs Land. Mit der zweiten Frau seines Vaters, die ihn in der türkischen Hauptstadt erwartet, steigt er in den Flieger nach Hamburg. Doch auch in Deutschland kann man seine Sehkraft nicht retten. Die Netzhaut löst sich komplett. „Mit 13 war ich dann blind, ich konnte nichts mehr sehen. Gar nichts“, erzählt Celebi. Dieses „gar nichts“ heißt konkret in seinem Fall: Licht. Und zwar immer und nur noch: Licht. Gleißend hell. Man muss sich das in etwa so vorstellen, als würde man sehenden Auges der Sonne entgegen blicken. So lange, bis man eben gar nichts mehr sieht. Keinen Fußball. Keinen Schnee. Nicht mehr das eigene Gesicht im Spiegel, wie es älter wird. Nie den Menschen, in den man sich einmal verliebt. Nichts. Gar nichts. Nie wieder irgendwas. „Damit umzugehen war schwierig, da habe ich jahrelang für gebraucht“, sagt Serdal Celebi: „Da musst du dein ganzes Leben auf den Kopf stellen.“

Er schoss das Tor des Monats und zieht heute die Lose für den Pokal

Ein blinder Junge im Alter von 13 Jahren. In einem fremden Land, dessen Sprache er nicht spricht. Serdal Celebi zieht sich zurück. Traut sich kaum noch aus dem Haus. Er schämt sich. In seinem Kopf immer wieder diese Fragen: Warum kann ich nichts mehr sehen? Warum ich? Warum? Warum? Warum? Eines Tages dann das: Das Licht vor seinen blinden Augen bekommt eine Stimme. Ist es Gott, der sich in diesem Moment an den Jungen wendet? „Serdal“, habe er zu sich selbst gesagt, erzählt Celebi: „Willst du jetzt dein ganzes Leben da in der Ecke sitzen und heulen? Egal was die Menschen über dich denken, ob die dich anschauen, blöd anschauen, du bist so wie du bist, ich kann das nicht ändern, du musst jetzt das Beste für dein Leben rausholen.“ Im Alter von 17 Jahren nimmt Serdal Celebi seinen Blindenstock und entdeckt ein zweites Mal die Welt.

Er will jetzt herausfinden, was das ist: das Beste für sein Leben. In der Förderschule arbeitet er sich hoch und schafft einen Hauptschulabschluss, mit der Sprache klappt es jetzt immer besser. Es folgt ein Praktikum bei einem Bürstenmacher in Hamburg, „aber ich wollte nicht mein ganz Leben Bürsten machen“. Celebi hört von einem Ausbildungszentrum für Menschen mit Beeinträchtigung in Nürnberg, wo er sich zum Masseur und medizinischen Bademeister ausbilden lässt, Durchschnittsnote 1,3. Celebi will mehr. Wird Physiotherapeut, Durchschnittsnote 2,3. Kurz darauf verlässt er Nürnberg wieder und geht zurück nach Hamburg. Es ist plötzlich wieder der Fußball, der ihn ruft, die Blindenfußballmannschaft des FC St. Pauli, von der er hört. Serdal Celebi will das jetzt auch unbedingt versuchen, Fußball für Blinde, konnte das sein?

„Beim ersten Mal auf dem Platz war ich ganz ungeduldig, irgendwie war der Ball immer schneller als ich. Alle sagten mir dann: bleib ruhig, das wird funktionieren“, erzählt Celebi: „Und es hat dann auch funktioniert.“ Er bringt alles mit, was man als Blindenfußballer braucht: Orientierung, Mobilität und Motorik. Für ihn gleicht dieser Sport mit dem rasselnden Ball einer Offenbarung. „Blindenfußball ist für mich die größte Freiheit. Ich kann auf dem Platz ohne Hilfsmittel laufen, ich kann mich drehen, dribbeln, wie ich möchte. Durch die Zurufe von Außen und von den Mitspielern kann ich mich auf dem ganzen Feld völlig problemlos und entspannt bewegen.“

Tor für die Ewigkeit. Als erster Blindenfußballer überhaupt wurde Serdal Celebi zum Torschützen des Monats in der ARD gekürt.
Tor für die Ewigkeit. Als erster Blindenfußballer überhaupt wurde Serdal Celebi zum Torschützen des Monats in der ARD gekürt.

© dpa

Celebi ist gut. Celebi ist sogar sehr gut. Er schafft es in die deutsche Nationalmannschaft und fährt 2014 zur Weltmeisterschaft nach Japan. Der Blindenfußball kann aber auch für ihn nicht mehr als ein zeitintensives Hobby sein. In Deutschland – im Gegensatz zu Ländern wie England, Brasilien, Frankreich oder Spanien – können die Spieler mit ihrem Sport kein Geld verdienen. Es braucht den Privaturlaub, um mit der Nationalmannschaft auf Reisen gehen zu können. Den will Celebi dann aber irgendwann viel lieber mit seiner Frau verbringen, die ihm seine Tante aus Istanbul vorgestellt hatte. Im vergangenen November kommt ein Kind dazu. Für die Celebis ist die Geburt das schönste und aufregendste Ereignis in ihrem Leben. Angst. Freude. Glück. Alles mischt sich an diesem Tag. „Ich konnte unser Baby erst nach einer Stunde in die Arme nehmen, so zittrig war ich am ganzen Körper“, erinnert er sich: „Ich hatte Tränen in den Augen.“

Serdal Celebi ist mittlerweile 34 Jahre alt und arbeitet seit zehn Jahren als Physiotherapeut in einer Hamburger Praxis. In dieser 40-Stunden-Woche reicht es für den Familienvater aktuell noch zu zwei Trainingszeiten beim FC St. Pauli. Es ist also nicht ganz weit hergeholt, wenn man behauptet, Serdal Celebi führe heute ein ganz normales Leben.

Wäre da nicht dieser eine Tag im August gewesen.

Sein Ehrentreffer im Finale um den Meistertitel schafft es tatsächlich in die Auswahl zum Tor des Monats. Die Nominierung gleicht einer Sensation, er ist der erste Blindenfußballer, der es nach über 500 Folgen dieser beliebten Zuschauerrubrik unter die Kandidaten schafft. Celebi hat von dieser Wahl noch nie etwas gehört. Alles, was ihm dann davon berichtet wird, die Glückwünsche aus aller Welt, erfüllen ihn mit großem Stolz – „das ist doch echt der Wahnsinn“.

Celebi ist plötzlich ein gefragter Mann. Er gibt Zeitungen Interviews, wird ins Radio eingeladen, tritt im Fernsehen auf. Die Herzen fliegen ihm überall zu. Am Ende geht er bei der Wahl tatsächlich als Sieger hervor und sein Name steht nun in einer Reihe mit Fußballern wie Günter Netzer, Zico und Jay-Jay Okocha. „Auf den Millionenvertrag warte ich aber trotzdem noch“, sagt Celebi trocken. Als Sonderbonus spendiert ihm die ARD nun aber immerhin noch einen weiteren Auftritt im Fernsehen. Am ersten Sonntag im November wird er die Achtelfinalpaarungen im DFB-Pokal ziehen. Danach wird sein Sport wohl erst einmal wieder von der Bildfläche verschwinden.

Serdal Celebi hat in seinem Leben nie ein Blindenfußballfeld gesehen. Die 40 mal 20 Meter kennt er trotzdem wie sein eigenes Wohnzimmer. Auch das Tor, mit dem er nun berühmt wurde, kennt er nur aus Erzählungen. So wie er seinen Schuss nie in der Wiederholung wird sehen können, so bleibt allen anderen das Gefühl von Serdal Celebi für seinen außergewöhnlichen Treffer verborgen. In dem Café in Billstedt greift er an diesem letzten Tag im Oktober noch einmal zum Zuckerstreuer und setzt auf der Tischplatte zum Konter an. „Ich komme da irgendwie an den Ball, von links nehm ich den mit, dribbel nach rechts, gehe rechts-links und schicke die Spieler ins Leere. Dann schieße ich, und der Ball geht direkt in den Winkel.“ In diesem Moment löst sich der Deckel vom Streuer und der Zucker fließt über den ganzen Tisch. Vielleicht sah so ja der Schnee in Cakan aus.

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