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Trockenübung. Leroy Sané (links) und Thomas Müller kennen sich aus ihrem gemeinsamen Tun beim FC Bayern München. Nun ist Müller angeschlagen, Sané brennt dagegen auf seine Einsatzchance am Mittwoch.

© imago images/HMB-Media

Bisher nur Ersatz bei der EM: An Leroy Sané scheiden sich die Geister

Sollte Thomas Müller gegen Ungarn ausfallen, wäre Leroy Sané zumindest einer der Kandidaten für die Startelf. Wie entscheidet sich Joachim Löw?

Vielleicht sollte man nicht immer zu viel in die Dinge hineininterpretieren. Vor allem dann nicht, wenn ein großes Turnier im Gange ist und die Aufregung ohnehin schon deutlich größer ist als in normalen Zeiten. Aber ein bezeichnendes Bild war es schon, das da am Samstagabend in der Arena in München zu besichtigen war.

Leroy Sané stand in der Coaching Zone vor der deutschen Bank. Er würde gleich eingewechselt werden und bekam noch letzte Instruktionen für seinen kurzen Einsatz gegen die Portugiesen mit auf den Weg. Marcus Sorg, der Co-Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, stand neben ihm und hatte die Taktiktafel zur Hand. Von Joachim Löw, Sorgs Chef, war in diesen Momenten nichts zu sehen.

Spätestens mit der WM vor drei Jahren hat sich der Eindruck verfestigt, dass die Beziehung zwischen dem Bundestrainer und dem hochbegabten Sané, sagen wir, nicht ganz spannungsfrei ist. Kurz vor dem Turnier in Russland wurde der Offensivspieler, damals noch bei Manchester City unter Vertrag und gerade als bester junger Spieler der Premier League ausgezeichnet, von Löw als einer von drei Spielern noch aus dem Kader gestrichen.

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Ein großer, unverzeihlicher Fehler, hieß es hinterher; nach dem Vorrundenaus der deutschen Mannschaft. Wie kann man freiwillig auf jemanden wie Sané verzichten. Nur: Hätte man die Journalisten, die damals die Vorbereitung der Nationalmannschaft in Südtirol verfolgt hatten, befragt, wer denn ihre Streichkandidaten seien, dann hätte eine große Mehrheit vermutlich als Erstes Leroy Sané genannt. Sané war im Trainingslager vor allem dadurch aufgefallen, dass er sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein schien.

Dieser Vorwurf steht bei ihm immer wieder im Raum. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus hat nach dem 4:2-Erfolg gegen Portugal in seiner Kolumne für den Fernsehsender Sky geschrieben: „Ich habe ihn mir beim Warmmachen etwas genauer angesehen, und wenn man zum Vergleich Kimmich vor dem Spiel beobachtet, dann ist das in Sachen Körpersprache fast ein anderer Sport.“

Leroy Sané ist inzwischen so etwas wie der legitime Nachfolger von Mesut Özil

In Sachen Körpersprache und der daraus folgenden öffentlichen Wahrnehmung ist Leroy Sané inzwischen so etwas wie der legitime Nachfolger von Mesut Özil. Bei ihm wurde „immer wieder gern auf seine angebliche Körpersprache abgehoben, die berühmten hängenden Schultern, die die Berichterstatter bei ihm zu erkennen glaubten“, hat der „Spiegel“ geschrieben. „Solche Etiketten bekommt jetzt auch Sané schon aufgeklebt.“

Von der Verheißung, die Sané mit seinen grandiosen linken Fuß, seiner Schnelligkeit und seinen Dribblings einmal war, scheint wenig geblieben. Dazu hat vielleicht auch die erste Saison beim FC Bayern München beigetragen, die nicht so glanzvoll war, wie viele erwartet hatten. Bei seinen 32 Einsätzen in der Bundesliga stand er nur 14-Mal in der Startelf. Dass es die erste Saison war, nachdem Sané wegen eines Kreuzbandrisses ein Dreivierteljahr ausgefallen war, hat in der Bewertung seiner Leistungen allerdings nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

Seltsame Körpersprache, miesepetrig und unmotiviert, in sich gekehrt und abwesend, scheu und launisch, angefressen und emotional sehr labil – all das war in den vergangenen Tagen und Wochen über den 25-Jährigen zu lesen. Wer, wie Matthäus aus flüchtigen Beobachtungen aus der Distanz Rückschlüsse auf Sanés Charakter zieht, der muss wenig Widerspruch fürchten.

Immer auf Achse. Auch Timo Werner könnte Thomas Müller in der Startelf ersetzen.
Immer auf Achse. Auch Timo Werner könnte Thomas Müller in der Startelf ersetzen.

© AFP

Aus der Nähe aber ergibt sich offenbar ein anderes Bild. Ilkay Gündogan, der mit Sané zusammen bei Manchester City gespielt hat, hat sich nach der Niederlage gegen Frankreich explizit für dessen Beförderung in die Startelf ausgesprochen: „Ich hoffe einfach, dass er so viel Einsatzzeit wie möglich bekommt.“ Und sogar Bundestrainer Löw verteidigt den Münchner gegen die sich wiederholenden Vorwürfe: dass er zum Beispiel wenig Lust an der Defensive habe und sich im Spiel gegen den Ball immer ein wenig hängen lasse.

Sané habe inzwischen „gelernt, dass er im Tempo nachgehen muss, wenn Fehler passieren und dass er auch Defensivarbeit machen muss“, sagt Löw. Da habe er sich eindeutig verbessert. Und: „Seine Trainingsleistungen waren absolut okay, absolut gut. Die Einstellung bringt er mit.“

Für einen Platz in der Startelf hat es bei der Europameisterschaft trotzdem noch nicht gereicht. Gegen Frankreich wurde Sané spät eingewechselt, gegen Portugal noch später, so dass er gerade mal 20 Minuten auf dem Platz gestanden hat. Nachdem Sané in den ersten vier Länderspielen dieses Jahres immer von Anfang an gespielt hat, kam er in den jüngsten drei Begegnungen jeweils von der Bank. Dass sich das an diesem Mittwoch gegen Ungarn, ändert, ist möglich. Wahrscheinlich ist es nicht.

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Natürlich ist Leroy Sané ein Startelfkandidat für den Fall, dass sein Münchner Teamkollege Thomas Müller ausfällt. Genau danach sieht es aus. Während die zuletzt angeschlagenen Mats Hummels und Ilkay Gündogan am Dienstag wieder mit der Mannschaft trainieren konnten, absolvierte Müller, der sich gegen Portugal leicht am Knie verletzt hat, in Herzogenaurach lediglich eine individuelle Einheit. Die endgültige Entscheidung über seinen Einsatz fällt allerdings erst am Spieltag, nach einer weiteren Untersuchung. Doch warum sollte Bundestrainer Joachim Löw bei Müller ein Risiko eingehen? Gerade jetzt, da den Deutschen bereits ein Unentschieden gegen die Ungarn zum sicheren Weiterkommen reicht?

Aber nicht nur Sané kommt als Ersatz für Müller in Frage. „Es gibt natürlich verschiedene Gedankenspiele, verschiedene Möglichkeiten“, sagt Löw. Timo Werner ist ebenfalls eine Option. Da sich die Ungarn mit einem Sieg sogar noch fürs Achtelfinale qualifizieren können, werden sie vermutlich nicht ausschließlich mauern, sondern auch gelegentlich den Weg nach vorne suchen müssen.

Das könnte den Deutschen und vor allem dem flinken Werner Räume zum Kontern eröffnen. Der junge Münchner Jamal Musiala ist ein weiterer Kandidat für den freien Platz im Sturm. Laut Bundestrainer Löw wird der 18-Jährige aber zuerst einmal auf der Bank Platz nehmen, nachdem er es bei den ersten beiden Gruppenspielen noch nicht in den 23er-Kader geschafft hatte.

Jamal Musiala rückt erstmals in den 23er-Kader

Sané, Werner oder Musiala? Vermutlich wird Löws Antwort auf diese Frage lauten: Leon Goretzka. Der Münchner hat beim Sieg gegen die Portugiesen nach sechswöchiger Verletzungspause sein Comeback gefeiert. Im fitten Zustand ist Goretzka als Startelfspieler eigentlich unantastbar. Aber wen für ihn opfern? Durch Müllers Ausfall würde Löw zumindest für das Spiel gegen Ungarn eine schwierige Entscheidung erspart bleiben.

Leroy Sané aber wird sich wohl weiter gedulden, sich über Kurzeinsätze für mehr empfehlen müssen, obwohl er von seiner Anlage alles andere als der ideale Joker ist. „Leroy ist ein Spieler, der Rhythmus braucht, der dieses Selbstverständnis haben muss, ständig zu spielen“, sagt Ilkay Gündogan. „Dann ist er unglaublich.“

Vielleicht will Bundestrainer Joachim Löw ihn auch ein bisschen kitzeln und anstacheln. Ganz am Anfang seiner Zeit bei der Nationalmannschaft, noch als Assistent von Jürgen Klinsmann, hat es einen ähnlichen Fall gegeben. Löw hat das mal erzählt.

Tim Borowski musste sich damals ebenfalls lange in Geduld üben. Der Bremer galt dank seiner Anlagen als eine Art Reserve-Ballack und verfügte über ein recht gesundes Ego. Beim Confed-Cup 2005 aber ließen Klinsmann und Löw Borowski bewusst links liegen, um ihn ein bisschen zu provozieren. Nur ein einziges Mal kam er bei der Generalprobe für die Heim-WM ein Jahr später zum Einsatz. Im Halbfinale gegen Brasilien wurde Borowski eingewechselt. In der 87. Minute. So wie Leroy Sané am Samstag gegen Portugal.

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