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Jon Gruden (r.) will die Oakland Raiders nach vorne bringen.

© Reuters

Big Four - die US-Sport-Kolumne: Jon Gruden: Die Rückkehr des verrückten Professors

Zehn Jahre hat John Gruden nicht mehr als NFL-Coach gearbeitet - nun soll er die Oakland Raiders zurück zum Erfolg führen.

Als Warren Sapp, ein Mann von 1,88 Meter und knapp 150 Kilogramm, noch aktiv American Football spielte, überließ er gerade morgens nichts dem Zufall. Der Star-Verteidiger der Tampa Bay Buccaneers hatte sich seinerzeit eine verbindliche Regel auferlegt; Sapp war stets der erste Angestellte, der in aller Herrgottsfrühe auf dem Gelände seines Arbeitgebers aus der National Football League (NFL) eintraf. Gewichte stemmen, Videos schauen, den nächsten Gegner scannen - so ging das jahrein, jahraus. In keiner anderen Sportart ist die taktische Vorbereitung derart umfangreich und wichtig wie im American Football; im Kosmos NFL gleicht sie einer Wissenschaft. Und Sapp, der Anführer seines Teams, wollte sich da nichts nachsagen lassen. 

Bis sich ihm eines Morgens ein überraschendes, ja, geradezu absurdes Bild bot. „Als ich das Trainingszentrum betreten habe, brannte in einem der Hinterzimmer schon Licht und ich habe mich gewundert: Wer zum Teufel ist vor mir hier?“, hat Sapp einmal dem Sender „ESPN“ erzählt. Daraufhin habe er einen Blick in besagten Raum geworfen und den neuen Coach entdeckt, den die Buccaneers gerade verpflichtet hatten: einen gewissen Jon Gruden. „Er saß wie ein Wahnsinniger im Licht seiner Schreibtischlampe, hatte zig Bücher aufgeschlagen und hat Spielzüge entworfen“, erinnert sich Sapp. Grudens Playbook - also das Gesamtwerk aller Spielzüge - war dicker als das jedes anderen Coaches in der taktikbesessenen NFL. Der Mann aus dem US-Bundesstaat Ohio galt gewissermaßen als verrückter Professor seiner Branche. 

Gruden unterschrieb bei den Raiders einen Zehn-Jahres-Vertrag

Nun ist Professor Gruden wieder zurück in der NFL, nach fast einem Jahrzehnt der Abstinenz als Cheftrainer. In dieser Zeit hat sich der mittlerweile 55-Jährige einen Namen als hochkompetenter und extrem unterhaltsamer Fernsehexperte gemacht, der unendlich viele und gute Geschichten über die Protagonisten der Liga erzählen kann - weil er eben aus einer Football-Familie kommt und von New York bis Los Angeles fast jedem einmal die Hand geschüttelt hat, der mit dem Sport zu tun hat. Sein Bruder Jay Gruden etwa ist Headcoach der Washington Redskins.

Jon Grudens neues Projekt sind die Oakland Raiders. Oder besser gesagt: sein neues, altes Projekt. Von 1998 bis 2001 hat Gruden schon einmal für den traditionsreichen Klub von der Westküste gearbeitet; er formte die Raiders in dieser Zeit zu einem Spitzenteam, bis ihn Al Davis, der legendäre, exzentrische und mittlerweile verstorbene Besitzer des Klubs, in einer Nacht- und Nebelaktion vor die Tür setzte. Gruden zahlte es ihm auf seine Weise zurück: Er wechselte zu den Tampa Bay Buccaneers und gewann gleich in seinem ersten Jahr in Florida den Super Bowl. Gegner im Endspiel waren, man ahnt es bereits: die Oakland Raiders, also Grudens altes Team. Tampa Bay demontierte die Raiders nach allen Regeln der Kunst, der Endstand lautete: 48:21. Für Gruden muss sich das Finale in etwa so angefühlt haben wie ein Schachspiel, in dem er die nächsten drei Züge seines Gegenübers kennt. 

Allerdings haben Oaklands Anhänger, die zu den lautesten, fanatischsten und kreativsten der NFL zählen, ihrem Coach die schmerzhafte Finalniederlage aus dem Jahr 2002 längst nachgesehen. Nachdem die Raiders seine Verpflichtung im Frühjahr 2018 öffentlich gemacht hatten, wurde Gruden wie ein Heilsbringer empfangen; die Erwartungen und die Vorfreude waren so außergewöhnlich groß wie die Kompetenzen, die er sich zusichern ließ. Gruden unterzeichnete einen Zehn-Jahres-Vertrag (!) bei den Raiders, der ihm 100 Millionen Dollar einbringt - und obendrein die Posten als Cheftrainer und General Manager. Im Alltag bedeutet das: fast jede Entscheidung geht über Grudens Tisch, in wichtigen Fragen darf er in bester Cäsarenmanier den Daumen heben respektive senken. Selbst Felix Magath, einst Alleinherrscher beim Fußball-Bundesligisten VfL Wolfsburg, wäre wahrscheinlich neidisch auf eine solche Konstellation. 

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Wenige Tage vor dem Start der Saison 2018/19 hat Gruden dann auch eine personelle Entscheidung getroffen, die seither kontrovers in den USA diskutiert wird: Oakland schickte seinen Star-Verteidiger, Defensive End Khalil Mack, für ein Paket zukünftiger Draft Picks zu den Chicago Bears. Mack gilt als einer der besten „Pass Rusher“ der NFL, seine Kernkompetenz besteht darin, den gegnerischen Quarterback zu jagen und Druck auf den Spielmacher aufzubauen. Wie wertvoll Mack sein kann, war bereits in seinen ersten beiden Spielen für die Bears zu sehen. Chicagos Football-Team zählt nicht zuletzt dank Macks Verpflichtung zu den Play-off-Anwärtern. 

Der Coach soll den Neustart in Oakland verantworten

Für die Oakland Raiders ist der Saisonstart dagegen alles andere als optimal verlaufen. Zum Auftakt gegen die Los Angeles Rams, einen der erklärten Titelfavoriten, sah es immerhin eine Halbzeit lang nach einer Überraschung aus, am Ende mussten sich die Raiders allerdings klar geschlagen geben (13:33). Im zweiten Spiel gegen die Denver Broncos ging es zwar deutlich knapper zu, jedoch mit dem gleichen Ausgang: Oakland verlor 19:20. Und eine Erkenntnis aus beiden Spielen lautete: Khalil Mack fehlte an allen Ecken und Enden. „Ich bereue es trotzdem nicht, dass wir seinem Wechsel zugestimmt haben“, sagt Gruden. 

Der Cheftrainer mit dem Rentenvertrag denkt ganz offensichtlich langfristig, er soll in Oakland einen „Rebuild“ einleiten, wie es in der NFL heißt, einen klassischen Neustart also, soll perspektivisch ein Team aufbauen, das irgendwann idealerweise um die Meisterschaft mitspielen kann. Einige der Fernsehexperten, zu denen Gruden zuletzt ja selbst zählte, äußerten sich allerdings skeptisch, ob Gruden nach zehnjähriger Pause als Trainer noch die Energie, das Fachwissen und den Ehrgeiz für ein solch ambitioniertes Unterfangen hat. 

Aktuell sprechen die Zahlen eher gegen Gruden und seine Raiders. Mannschaften, die mit zwei Niederlagen in die NFL-Saison gestartet sind, erreichen statistisch gesehen nur in etwa zehn Prozent der Fälle noch die Play-offs. Es sieht also stark danach aus, dass sich Oaklands Fans noch eine Weile gedulden müssen, ehe ihr Team wieder um die Meisterschaft mitspielen kann. Schließlich hat Gruden noch zehn Jahre Zeit, sofern nichts Außergewöhnliches passiert und der Coach, wie einst unter Al Davis, frühzeitig von seinen Pflichten entbunden wird. 

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