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Das Olympiastadion und die alte Försterei trennen 23 Kilometer.

© picture alliance / dpa

Berlins größtes Fußballspiel und das Coronavirus: Die Verabschiedung des Derbys zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union

Ausgerechnet ein Friedhof liegt am Mittelpunkt zwischen Olympiastadion und Alter Försterei. Passender hätte es nicht sein können. Eine Spurensuche.

Doch, das muss hier tatsächlich der perfekte Ort sein, eine Woche vor diesem Derby, das es nicht geben wird. Hier im Grünen, wo sich Grabstein an Grabstein reiht. Wo der Berliner Stadtadel in großen Erbbegräbnissen ruht. Wo es außer ein wenig Vogelgezwitscher still ist, totenstill.

Hier, auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof am Kreuzberger Südstern. Am idealen Ort, um das so sehnlich erwartete zweite Bundesliga-Derby zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union nach dessen Verschiebung oder vielleicht sogar Absage zu Grabe zu tragen.

Hier sensibel und Oweh, da eisern und Hahohe

Eigentlich war die Dramaturgie der ganzen Nummer ja ein wenig anders geplant. Wenn man denn überhaupt von Planung sprechen kann – Schicksal trifft es ja eigentlich viel mehr. Es hatte sich schließlich alles ganz von selbst ergeben. Das erklärt sich mit einem Blick auf die Stadtkarte von Berlin.

Ganz im Westen, kurz vor Spandau, steht das Olympiastadion, die Heimstätte von Hertha BSC. Ganz im Osten, kurz vorm Müggelsee, steht das Stadion An der Alten Försterei, die Heimstätte des 1. FC Union. Von Anstoßpunkt zu Anstoßpunkt sind es etwas mehr als 23 Kilometer Luftlinie.

Da stellt sich natürlich die Frage: Was liegt eigentlich genau in der Mitte? Was ist das für ein mystischer Ort, an dem zwei Fußballwelten ineinander verschmelzen? Und wo genau in Berlin befindet sich diese Sakralstätte der totalen fußballkulturellen Äquidistanz?

Nun ja, auf einem Friedhof eben. So sagen es zumindest die Geodaten, wenn man sich mithilfe von Karten- und Messtools den Mittelpunkt zwischen Olympiastadion und Alter Försterei errechnen lässt: 52° 29' 10,0" Nord, 13° 24' 14,0" Ost – das ist die geographische Koordinate des Berliner Fußballherzens. Und dieser Fleck liegt ausgerechnet da, wo die Herzen schon lange zu schlagen aufgehört haben. Auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof, einem der vier historischen Friedhöfe an der Bergmannstraße.

Der Alte Luisenstädtische Friedhof ist es

Die Idee: Gegensätze zwischen Friedhofsstimmung und Derbyatmosphäre aufzugreifen. Die Reise zum Mittelpunkt des Derbys quasi: Hier beschauliche Wüste des ewigen Friedens, da des ewigen Unfriedens wüste Schau. Hier himmlische Ruhe, da Höllenspektakel. Hier Ehrenmäler, da Ehrenmänner. Hier Liegen, da Siegen. Hier sensibel und Oweh, da eisern und Hahohe. Irgendwie so was.

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Dann kam das Coronavirus. Dann kamen die ersten Quarantänefälle. Dann die ersten Einschränkungen. Die ersten Hamsterkäufe. Liquiditätshilfen. Kurzarbeit. Dann kam lange nichts. Dann kam auch der Berliner Senat. Dann die ersten Absagen. Schließungen. Geisterspiele. Saisonabbrüche. Dann kam noch länger nichts.

Und dann kam auch die Deutsche Fußball-Liga. Die Unterbrechung der Bundesliga-Saison. Und damit das zumindest mal vorläufige Ende für das Derby. Aber nicht für die Reise zu dessen Mittelpunkt. Alles eine Frage der Dramaturgie.

Hintergründe zum Coronavirus:

Es ist ein milder Nachmittag im März. Die Stadt fühlt sich noch nicht an wie ausgestorben, ist aber auf bestem Weg dorthin. Das Coronavirus verbreitet überall morbide Stimmung. Und spätestens an den beiden Backsteinsäulen, die das gusseiserne Eingangstor zum Alten Luisenstädtischen Friedhof halten, rückt die eigene Vergänglichkeit ganz nah.

Der Mittelpunkt der Berliner Fußball-Welt

Das will alles gar nicht zu den äußeren Bedingungen passen. Der Frühling, so scheint es, gibt sich heute erstmals in diesem Jahr die Ehre. Auch die Sonne konnte es einrichten und schaut zwischen den Wölkchen am sonst blauen Himmel hervor. Hinter dem Eingangstor grünt und blüht es bereits. Das pralle Leben. „Oah, ich liebe es, wenn es so sonnig ist auf dem Friedhof“, sagt eine Frau mit fescher Sonnenbrille zu ihrem Begleiter. Dann verschwinden sie beide in Richtung Pforte. Der Begleiter darf auch mit.

„Bitte respektieren Sie die Würde dieses Ortes und die Gefühle der Trauernden“, so steht es auf einem Schild direkt im Eingangsbereich. Ganz schön pathetische Worte, nur weil das Derby abgesagt wurde. Aber na schön. Der Würde dieses Ortes und den Gefühlen der Trauernden wollen wir ja heute schließlich auch selbst auf den Grund gehen.

Hereinspaziert: Die Pforte zum Alten Luisenstädtischen Friedhof in der Bergmannstraße.
Hereinspaziert: Die Pforte zum Alten Luisenstädtischen Friedhof in der Bergmannstraße.

© Brandbeck

Wer zum Mittelpunkt der Berliner Fußballwelt vordringen will, muss erst einmal ein Stückchen über den Friedhof wandern. Mehr als neun Hektar Fläche hat der und ist damit der größte der vier benachbarten Friedhöfe am Südstern. Direkt vom Eingang weg – die Friedhofskapelle zur Linken, das Verwaltungsgebäude und die Gärtnerei zur Rechten – führt ein kerzengerader Weg ins Innerste der Begräbnisstätte.

Dabei geht es einen leichten Hang aufwärts. Das Terrain hatte ursprünglich einmal als Weinberg dienen sollen. Aber naja, Weinlese in Berlin – man hätte es auch gleich mit Ananaszucht versuchen können. Ab 1831 verscharrte man an Ort und Stelle lieber Leichen.

Michael Preetz, übernehmen Sie!

Nun ist das Gräberfeld „wie ein L“ angelegt, weiß einer der wenigen Spaziergänger, die sich an diesem Nachmittag auf den Friedhof gewagt haben. Seine Hände hat der Mann in einer dunklen Daunenjacke vergraben, und mit leicht rollendem R erklärt er, wie sehr er die Ruhe hier schätze. „Solche Oasen müssen erhalten bleiben“, sagt er, meint damit aber vermutlich nicht den Derby-Mittelpunkt. Interessiert er sich denn gar nicht für Fußball? „Nein. Aber für Friedhöfe.“

Daran besteht kein Zweifel. Einen kreativen Vorschlag, wie man diesem salbungsvollen Ort der Berliner Fußballgemeinde höchste Weihen angedeihen lassen könnte, hat er trotzdem: „Man könnte hier ja ein gemeinsames Stadion bauen“, findet der Friedhofskenner. Das wäre dann jedoch das Ende für seine geschätzte Oase. „Vielleicht kann man da was auf Stelzen machen“, überlegt er. Und warum eigentlich nicht? Hertha BSC wäre bestimmt ganz Ohr: Michael Preetz, übernehmen Sie!

Wie ein L: Der Alte Luisenstädtische Friedhof ist ums Eck angelegt. Der Derby-Mittelpunkt liegt in Abschnitt 21.
Wie ein L: Der Alte Luisenstädtische Friedhof ist ums Eck angelegt. Der Derby-Mittelpunkt liegt in Abschnitt 21.

© Brandbeck

Überhaupt ist der Klub aus Westend gut vertreten auf dem Friedhof. Der Weg zum Inneren des Areals ist noch keine 50 Meter lang, da ist bereits der erste Grabstein mit der Aufschrift „Herta“ zu erblicken – um ein H hätte man sie richtig geschrieben. Es folgt ein Glockenturm (nicht ganz so hoch wie der auf dem Olympiagelände), ehe von einem steinernen Sockel der über zwei Meter große Auferstehungsengel herabblickt. Das Zentrum des Friedhofs soll das sein. Naja. Kann höchstens geographisch gemeint sein.

Steht da KLINSMANN?!

Denn für das wahre Zentrum muss man nun so langsam rechts abbiegen. Da wartet auch schon die nächste Herta. Und was steht da noch auf dem Grabstein? Moment, das kann doch nicht wahr sein! Da steht doch nicht etwa ... KLINSMANN?! Näher ran da!

Es raschelt. Ein Fuchs schleicht zwischen den Steinen hervor und setzt sich genau vor das Grab. Genüsslich beschnüffelt er seinen Schwanz. Und verschwindet dann so unvermittelt wieder, wie er aufgetaucht ist. Hahohe, Euer Fuchs. Auf dem Grabstein steht Kloppmann.

Hahohe, Euer Fuchs: Der Alte Luisenstädtische Friedhof hat in Sachen Flora und Fauna viel zu bieten. 
Hahohe, Euer Fuchs: Der Alte Luisenstädtische Friedhof hat in Sachen Flora und Fauna viel zu bieten. 

© Brandbeck

Der Schmelztiegel des Derbys rückt näher. Inzwischen sind auch die großen Erbbegräbnisse an der Rückmauer des Friedhofs zu sehen. Und durch das Vogelgezwitscher dringen jetzt auch vereinzelt Rufe von Kindern. Wurde da nicht gerade auch gegen einen Ball getreten? Eine jüngere Frau in grüner Jacke kennt sich aus, sie ist regelmäßig zum Spazieren hier. Gleich hinter dem Friedhof liegt der Sportplatz Züllichauer Straße. „Wenn am Wochenende Spiele sind, hört man manchmal das Geschrei“, sagt die Frau. „Aber ich finde das schön.“

Und tatsächlich: Hinter der Friedhofsmauer ragen Flutlichter und ein hoher Zaun hervor. „100 JAHRE AMA“ ist dort als großflächiger Schriftzug aus weißen Wimpeln zu lesen. Hier trainiert der SC Berliner Amateure, in diesem Jahr feiert der Kreuzberger Kiezklub Jubiläum. Zur großen Sause sollte eigentlich auch Hertha BSC vorbeikommen. War aber wohl ein bisschen teuer. Jetzt kommt die Traditionsmannschaft des 1. FC Union.

Bezirkspolitik in der Pandemie: Da müssen die Verordneten auf dem Sportplatz tagen.
Bezirkspolitik in der Pandemie: Da müssen die Verordneten auf dem Sportplatz tagen.

© Brandbeck

„Bei uns im Verein ist es eigentlich recht gleichmäßig verteilt“, erklärt auch einer der beiden Jugendcoaches, die nach dem Training noch ein bisschen auf den Bierbänken vor dem Vereinsheim fläzen. Sein Kollege löffelt eine Tupperdose leer und ergänzt: „Kreuzberg ist jetzt eh nicht so der Bezirk mit Fußballfans.“ Halb Union, halb Hertha ist hier angesagt – wie sich das für einen Verein gehört, der sich auch aufgrund seiner Lage als der neutralste Fußballklub der Stadt fühlen darf.

Der Derby-Check

Die jungen Trainer machen jedoch keinen Hehl daraus, dass sie selbst der Hertha-Fraktion angehören. Kurzer Check. Das geplatzte Derby? „Richtig bitter.“ Klinsmann? „Lief objektiv betrachtet schlecht.“ Windhorst? „Übernimmt gerade den Verein.“ Profifußball? „Die großen Klubs machen nur noch Jugendarbeit, und ihre Profiteams gliedern sie aus. Das hat mit einem demokratischen Verein nichts mehr zu tun.“ Und die exquisite Lage ihres Vereinsgeländes? Die Coaches bekommen große Augen: „Echt? Nee, das wussten wir nicht.“

Himmlische Grüße: Die Statue des Auferstehungsengels ist das Zentrum des Alten Luisenstädtischen Friedhofs. Aber natürlich nur im geografischen Sinne. 
Himmlische Grüße: Die Statue des Auferstehungsengels ist das Zentrum des Alten Luisenstädtischen Friedhofs. Aber natürlich nur im geografischen Sinne. 

© Brandbeck

Wären die Stadien von Hertha und Union nur ein paar Meter weiter südlich gebaut worden – der SC Berliner Amateure hätte ohne jede Diskussion zum fußballerischen Knotenpunkt der Stadt erklärt werden müssen. Aber der liegt nun eben auf einem Friedhof. Und rückt jetzt immer näher. Die großen, gravitätischen Gräber werden weniger, und ein etwas verspielterer Teil des Friedhofs beginnt.

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Grablichter sind an meterhohen Ästen aufgehängt und schwingen wie Mobiles über den Gräbern. Windräder, Lampions, Traumfänger, bunte Steine und Wimpel verzieren die Ruhestätten. Persönliche Gegenstände erinnern an die Verstorbenen: Fotos, Dosen mit Seifenblasen, ein Sommerhut. Irgendwo hier muss es sein.

Die Wege sind inzwischen schlechter geworden. Ein Mann mit blauer Mütze manövriert einen Kinderwagen an Pfützen und Schlaglöchern vorbei. „Hier passiert viel“, ist er sicher, während sein Kind seelenruhig schlummert. „Die EU unterstützt hier irgendwelche Projekte.“

Die Alte Försterei im Abendlicht.
Die Alte Försterei im Abendlicht.

© Nietfeld / dpa

Mit dem Kinn weist er auf einen Baum am Wegrand, an dem ein laminierter DIN-A3-Aushang mit der Überschrift „Qualifizierung Teilflächen“ baumelt. Das „Qualifizierung“ hat wer mit einem schwarzen Stift eingekreist und einem großen Fragezeichen versehen. Viel konkreter wird es auf dem Blatt tatsächlich auch nicht. „Neue Bänke und so was“, glaubt der so freundliche Kinderwagen-Pilot.

Die Toten freuen sich über andere Themen

Doch dann lässt er seine abscheuliche Maske fallen: „Ich bin Dortmund-Fan“, sagt er. „Da tangiert mich das Derby jetzt nicht so sehr.“ Immerhin hat er noch eine weitere kreative Idee zur Würdigung des Derby-Mittelpunkts: „Vielleicht kann man ja hier so ein Public Viewing veranstalten“, schlägt er vor. Und die Grabesruhe? „Ach, die Toten freut das doch auch, wenn mal über was anderes gesprochen wird.“

Genug gesprochen, Tote reden nicht. Nun gilt es, ein Derby zu Grabe zu tragen. Der Mittelpunkt zwischen Olympiastadion und Alter Försterei, dieser Fixstern des Berliner Fußballkosmos, er ist nun ganz nahe.

52° 29' 10,0" Nord, 13° 24' 14,0" Ost: Das sind die Koordinaten. Und genau auf dieser Lichtung befindet sich der exakte Mittelpunkt zwischen Olympiastadion und Stadion An der Alten Försterei.
52° 29' 10,0" Nord, 13° 24' 14,0" Ost: Das sind die Koordinaten. Und genau auf dieser Lichtung befindet sich der exakte Mittelpunkt zwischen Olympiastadion und Stadion An der Alten Försterei.

© Brandbeck

52° 29' 10,0" Nord, 13° 24' 14,0" Ost. Eine kleine Lichtung abseits des Weges. Hier ist es. Acht Gräber, zwei davon mit klassischem Grabstein, sechs davon bunter, zierlicher. Eine ältere Frau pflegt eines davon. Sie schnäuzt sich mehrmals und lässt sich auf einer Bank nieder. Dann zündet sie sich eine Zigarette an. Der Rauch weht herüber. Die gespenstische Ruhe ist auf einmal zurück.

Hier ist er also, der Fleck Erde, an dem Fußballwelten aufeinanderprallen. Hier treffen sich West und Ost, Westend und Köpenick, Hertha BSC und der 1. FC Union. Hier beerdigt sich das Derby ganz von selbst. Auf diesem elenden Totenacker. Wo sich Grabstein an Grabstein reiht. Wo der Berliner Stadtadel in großen Erbbegräbnissen ruht. Wo es außer ein wenig Vogelgezwitscher still ist, totenstill. Wie am kommenden Samstag. Wenn das Derby hätte stattfinden sollen, das es wohl nicht geben wird.

Leonard Brandbeck

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