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Markus Rehm, David Behre, Felix Streng und Johannes Floors gewannen 2016 in Rio Gold mit der Staffel.

© imago/Beautiful Sports/Axel Kohring

Aus Leverkusen zu den Paralympics: Viele deutsche Athleten kommen vom TSV

Die Para-Sport-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen ist eine Erfolgsgeschichte. Geschäftsführer Jörg Frischmann erinnert sich an besondere Athleten.

„Eigentlich kommt man als Prothesenträger nicht an Leverkusen vorbei“, sagt der aktuelle Weltrekordhalter im Sprint, Johannes Floors. Neben Floors haben zahlreiche andere Sportlerinnen und Sportler, auch ohne Prothesen, dort trainiert. Jörg Frischmann, seit 23 Jahren Geschäftsführer in Leverkusen, selbst Paralympics-Sieger und in Tokio als Teammanager dabei, erklärt: „In Leverkusen gibt es den Para-Sport seit über 70 Jahren.“

Nach dem Krieg habe die Bayer AG für die Mitarbeiter ein Sportangebot geschaffen. „Daraus ist das Ganze entstanden und hat sich immer weiterentwickelt. Was ursprünglich für die Kriegsversehrten gedacht war, ist heute für alle Behinderten gedacht.“ Aus Frischmanns Sicht ist es entscheidend, „dass man ein Unternehmen hat, das sagt: Wir stehen zum Thema Behindertensport.“ Damit einher gehe auch die Entscheidung, den Para-Sport hauptamtlich zu begleiten: „Das war ein Knackpunkt. Das ist, was uns auch den Vorsprung gebracht hat.“

Trainer Karl-Heinz Düe sei dabei eine Schlüsselfigur. „Der Karl-Heinz hat immer mit Nichtbehinderten gemeinsam trainiert. Er ist die Trainergestalt, die Leverkusen geprägt hat." Genauso zentral sei Trainerin Steffi Nerius. Helena Pietsch und Sara Grädtke hätten zudem in der Nachwuchsarbeit "neue Maßstäbe gesetzt und bringen Jahr für Jahr neue Talente heraus." Frischmann betont, es sei „einmalig, wer in den 23 Jahren, wo ich hier bin, unter Karl-Heinz schon alles Paralympics-Sieger geworden ist. Wenn du Paralympics-Sieger bist, ist das was für die Ewigkeit.“ Jörg Frischmann erinnert sich an besondere Sportlerinnen und Sportler, die in Leverkusen trainieren oder trainiert haben.

Heinrich Popow (u.a. Paralympics-Sieger im Weitsprung 2016 und über 100 Meter Sprint 2012)

Mit dem bin ich zusammen gestartet. Ich weiß es noch wie heute: Wir hatten in Leverkusen das integrative Sportfest und Karl Quade (Vizepräsident des DBS, Anm. d. Red.) kommt zu mir. Er sagt: ‚Frischi, dahinten ist einer, der will gleich 100 Meter laufen, aber der sieht nicht so aus, als ob er im Ziel ankommt.‘ Das war Heinrich. Er ist dann 100 Meter gelaufen. Etwa die zehntschnellste Zeit in der Welt, und das mit seinem ‚Holzbein.‘ Damals hatte er noch keine Sportprothese. Dann bekam er eine und war langsamer. Da sieht man: Hightech bedeutet nicht immer gleich schneller. Man muss das Gerät beherrschen und damit umgehen können, und das hat Heinrich wie kein zweiter gelernt beim Kalle Düe (Leverkusener Trainer Karl-Heinz Düe, Anm. d. Red.). Kalle ist auch so ein guter Para-Sport-Trainer geworden, weil er letztendlich mit dem Heinrich gelernt hat. Die Fehler, die der Heinrich gemacht hat, die macht der Léon (Léon Schäfer, Anm. d. Red.) nicht mehr. Heinrich hat am Ende des Tages auch dazu beigetragen, Trainer bei uns auszubilden, die dieses hohe Niveau haben. Deshalb gebührt Heinrich ein Riesenrespekt für das, was er in den Jahren geleistet hat.

Vanessa Low (u.a. Paralympics-Siegerin im Weitsprung und Silber über 100 Meter 2016)

Das ist eine Story, die auch nie vergesse: Vanessa Low kommt zum Schnupperkurs nach Leverkusen. Sie kam damals an, mit Krücke und Oberschenkelprothesen. Sie wollte auch nicht abgeholt werden, sondern sie kam mit dem Bus, und ist den Weg zur Anlage – bestimmt einen Kilometer – gelaufen. Das hat mich schon beeindruckt. Und dann hat sie mir erzählt, dass sie in Dortmund in einer Kneipe gekellnert hat. Das muss man sich auch erstmal zutrauen. Da habe ich zu ihr gesagt: ‚Vanessa, wenn ich deine Behinderung so sehe – Leichtathletik können wir versuchen, aber spiel Sitzvolleyball. Geniale Sportart für Menschen mit doppelseitiger Beinbehinderung. Oder geh Schwimmen.‘ Da hat sie gesagt: ‚Nein, ich will laufen.‘ Und du wusstest: Du kannst jetzt machen was du willst, die will laufen. Und wenn man dann sieht, wie sie angefangen hat, mit Sprüngen um drei Meter… Bei etwa vier Metern hat Steffi (Trainerin Steffi Nerius, Anm. d. Red.) irgendwann gesagt, weiter geht’s nicht mehr. Und heute springt sie über fünf Meter!

Johannes Floors (u.a. Paraylmpics-Sieger 4x100m Staffel 2016, Gold bei WM 2019 über 100 und 400 Meter)

Johannes kommt aus dem gleichen Ort wie ich, aus Steyerberg in Niedersachsen. Das Witzige ist: Als er geboren wurde, war ich aus Steyerberg schon weg. Irgendwann kommt der Karl Quade zu mir und sagt: ‚Frischi, in eurem Nest, da gibt’s schon wieder einen, der paralympischen Sport macht.‘ Damals war Johannes noch Schwimmer. Da ist mir der Name das erste Mal begegnet.

Johannes ist ein konsequenter Arbeiter. Es ist alles durchdacht. Damals hatte er überlegt, sein Abitur in Braunschweig erstmal zu Ende zu machen. Und dann haben wir gesagt: ‚Dann könntest du nach Leverkusen kommen.‘ Das haben wir dann durchgezogen. Wir haben ihm geholfen, Kontakte zu Rahm herzustellen, damit er dort seine Lehre als Orthopädietechnik-Mechaniker machen konnte. Auch da hast du einfach gesehen: Johannes ist morgens um 5 Uhr aus dem Haus, ist in die Bahn gestiegen und nach Spich gefahren, hat dann um etwa 7 Uhr angefangen, war um etwa 15 Uhr fertig, setzt sich in die Bahn, fährt nach Leverkusen, und trainiert dann noch drei bis vier Stunden. Wenn du so ein Programm über drei Jahre durchziehst, ist das schon aller Ehren wert. Gerade wenn du kein Auto hast, ist der Weg zur Arbeit schon sehr beschwerlich. Das alles so durchzuziehen, wie er es gemacht hat… Das ist schon gut.

Felix Streng (u.a. Paralympics-Sieger über 4x100 Meter Staffel, Bronze über 100 Meter und Bronze im Weitsprung 2016)

Felix schreibt mir damals, dass sein Lehrer eine Projektwoche mit Behindertensport hat. ‚Kann ich das bei Ihnen mal testen?‘, fragt er. Da ist der Felix aus Coburg nach Leverkusen gekommen. Hat bei uns Leichtathletik getestet. Dann habe ich ihm was über unser Internat erzählt. Dann saß er da, hat nachgedacht und meinte: ‚Ich fahr jetzt mal nach Hause und überlege, ob ich jetzt hier herkomme.‘ Dann haben wir an dem Tag noch schnell ein Gespräch mit der Schule geführt, und einen Tag später war Felix in Leverkusen. Auch Paralympics-Sieger. Das hat von ihm eine Menge gefordert, das hat auch von den Eltern eine Menge gefordert, so einen jungen Menschen abzugeben. Zwei nichtbehinderte Speerwerfer haben ihn in die WG aufgenommen. Dann haben wir für Felix eine Wohnung gesucht, und dann wollte der eine Speerwerfer aber lieber allein wohnen, und der ist dann in die gesuchte Wohnung gezogen und Felix bei dem anderen Speerwerfer in der WG geblieben. Mehrere Jahre haben die da zusammen gewohnt.

Franziska Liebhardt (u.a. Paralympics-Siegerin Kugelstoßen und Silber im Weitsprung 2016)

Sie hatte eine Situation, wo sie Steffi im Trainingslager kennengelernt hat und sie gefragt hat: Kann ich für euch starten? Und dann ist sie zu uns gekommen, Paralympics-Siegerin geworden, und heute steht sie wie kein anderer in Deutschland für das Thema Organspende. Ist auch eine beeindruckende Geschichte.

Léon Schäfer (u.a. Weltmeister Weitsprung und Silber über 100 Meter bei WM 2019)

Der ist über „Wünsch dir was“ zu uns gekommen. Da haben sie uns angerufen und gesagt: Wir haben hier einen jungen Athleten, der möchte mal mit einem Paralympics-Athleten trainieren. Können wir vorbeikommen? Und dann ist er vorbei gekommen, das ZDF war damals dabei. Daniel Pinschower war da. Dann stieg Léon aus dem Auto aus, und er hat gesagt: Den will ich haben. Weil man konnte einfach sehen, dass da ein Talent drin schlummert. Mit Léon hatte ich auch die meisten Geschichten, wo ich ganz am Anfang nicht so happy mit war, er war schwierig zu handeln. Aber er hat sich gemacht, das ist jetzt auch ein Weltathlet, der erste, der über sieben Meter gesprungen ist.

Irmgard Bensusan (u.a. Silber über 100 Meter, 200 Meter und 400 Meter bei Paralympics 2016)

Sie wollte eigentlich für einen Monat hierherkommen, sich das ganze mal angucken und klassifiziert werden, heute ist Irmgard sechs Jahre in Leverkusen. Sie ist hier wirklich angekommen. Hat die deutsche Sprache gelernt und aus dem Team nicht mehr wegzudenken. Auch beruflich hat sie Hier Fuß gefasst. Da fehlt das Thema Paralympics-Siegerin noch. Hoffe, das haken wir in Tokio bei ihr ab. Sie hat im Team immer ein offenes Ohr für die jungen Sportler und ist sehr professionell. Ich hoffe, dass sie ihre Karriere bis 2024 fortsetzt.

David Behre  (u.a. Paralympics-Sieger über 4x100 Meter Staffel, Silber über 400 Meter, Bronze über 200 Meter 2016)

Auch Paralympics-Sieger geworden. David ist zu einem Biker-Treff gekommen, den unser Orthopädiemechaniker veranstaltet hat. Dort sind Kontakte zu Menschen mit Behinderung entstanden, und David war dann einer davon. David ist anschließend wie Vanessa Low und Markus Rehm zum Schnupperkurs nach Leverkusen gekommen. Ich glaube, das war der erfolgreichste Schnupperkurs, den wir jemals hatten. Die haben dann zusammen bei uns trainiert. Und so haben wir das Thema Leichtathletik bei David auf den Weg gebracht.

Markus Rehm (u.a. Paralympics-Sieger Weitsprung und Paralympics-Sieger 4x100 Meter Staffel 2016, Paralympics Sieger Weitsprung 2012)

Bei Markus war das so: Ich hatte einen Jungen auf einer Zeitung gesehen für die Rehacare-Messe in Düsseldorf. Der Junge sprang auf einem Trampolin. Da habe ich immer gesagt: Wenn ich junge Menschen mit Prothesen sehe, die Sport machen, ist das tendenziell jemand für uns. Parallel hat Heinrich Popow diesen Menschen – der Markus Rehm war – auch auf der Messe kennengelernt und ihm von uns erzählt. Er war dann auch bei dem Schnupperkurs. Und danach haben wir uns dann mit der Steffi Nerius zusammen überlegt, wie wir das Ganze weitermachen können. Dann hat Markus angefangen, in seiner Heimat zu trainieren und ist in regelmäßigen Abständen zu uns gekommen und hat hier am Wochenende trainiert. Steffi hat ihm Pläne geschrieben, und als er irgendwann seine Lehre als Orthopädiemechaniker in der Heimat fertig hatte, ist er nach Leverkusen gekommen und ist hier richtig durchgestartet.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier,

Mona Alker

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