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Zwei Mann auf einem Rad. Bei ihrem ersten Start in Tokio sind Robert Förstemann (vorne) und Kai Kruse am Dienstag schon nach 1000 von 4000 Metern ausgestiegen.

© imago images/Mario Stiehl

Auf dem Tandem bei den Paralympics: Förstemann und Kruse fehlt noch Gold

Durch die Kraft ihrer Beine bricht schon mal das Rad. Kai Kruse und Robert Förstemann wollen bei den Paralympics zu Gold fahren.

Die erste Frage war noch gar nicht gestellt, da begann Kai Kruse schon zu erzählen, ja fast schon zu schimpfen – über die Holzsplitter, die in seiner Schulter gesteckt hatten, über das versagende Material, das ihm schon mehrfach Probleme bereitet hatte und vor allem: über mangelnde Professionalität. Am Tag zuvor war Kruse, der bei den Paralympics auf dem Fahrrad-Tandem um Medaillen kämpft, im Training mit seinem Piloten Robert Förstemann auf der Bahn gestürzt – weil das Vorderrad gebrochen war. Die Leistung stimmte, das Material wieder einmal nicht, der jahrelange Traum von Tokio drohte eine Woche vor Abflug zu platzen.

Dabei war das Schlimmste für Kruse wohl gar nicht der Sturz selbst – physisch kam er bei einer Geschwindigkeit von etwa 70 Stundenkilometern noch halbwegs glimpflich davon. Viel schwerer wiegen dürfte für den Athleten ein anderer Umstand: die Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. Ein Thema mit Variation in Kruses sportlicher Laufbahn.

Kai Kruse überlässt nichts dem Zufall. Zum Doppel-Interview mit seinem Piloten Förstemann auf dem Gelände des olympischen Stützpunktes in Frankfurt an der Oder kommt er auf dem Fahrrad, generell legt er jeden nur möglichen Weg auf seinem Sportgerät zurück. Training ist Training.

Das war schon in seiner Kindheit so. Bereits mit drei Jahren trieb er regelmäßig Sport, ein Unfall führte zur frühen Wendung in seinem Leben. In einer Trainingseinheit stieß er mit einem älteren Kind zusammen. Kruse trug eine schwere Gehirnerschütterung davon, sein Sehnerv wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen. Heute sieht er auf seinem besseren Auge unter zehn Prozent.

Vom Rudern über Skilanglauf zum Radsport

Inzwischen ist Kruse 30, großgewachsen, austrainiert, Athlet durch und durch. In seiner Sportart gehört er mittlerweile zur Weltspitze. Und er weiß, was es heißt, paralympische Medaillen zu gewinnen. In London holte er 2012 Silber, damals noch als Ruderer im Vierer. Weil seine Leistung auch hier zu sehr von anderen Menschen abhängig war, wechselte er kurzerhand die Disziplin, versuchte sich zuerst im Skilanglauf und landete schließlich auf dem Rad. Wie professionell und diszipliniert er trainiert, zeigte er bei den darauffolgenden Spielen 2016 in Rio: Im Zeitfahren bei seinen ersten Paralympics im Radsport holte er Bronze.

Aufgrund seiner Sehbehinderung startet Kruse mit einem Piloten auf dem Tandem, der nicht nur tritt, sondern auch lenkt. Als sein damaliger Pilot im Jahr 2018 seine Karriere beendete, musste einer her, der mindestens so diszipliniert und ehrgeizig ist wie er selbst. Auch hier überließ Kruse nichts dem Zufall – wenn seine Leistung von jemandem abhängig sein musste, dann wenigstens von dem Besten.

Kai Kruse (links) und Robert Förstemann starten am Samstag über die 1000 Meter Verfolgung.
Kai Kruse (links) und Robert Förstemann starten am Samstag über die 1000 Meter Verfolgung.

© Imago

Das Telefon klingelte bei Quadzilla. So lautet der Spitzname von Robert Förstemann, seines Zeichens olympischer Bahnradfahrer, dessen Oberschenkel einen Umfang von 72-74 Zentimetern aufweisen, je nach Quelle. Der war erstmal überrascht von Kruses Mut – schließlich bereitete sich Förstemann zu diesem Zeitpunkt gerade selbst auf die olympischen Spiele in Tokio vor, wo er als Anfahrer im Teamsprint seine zweite olympische Medaille gewinnen wollte. Förstemann dachte nach, schaute sich Wettkämpfe an – und warf seine olympischen Pläne über Bord, um Kruses Tandem-Pilot zu werden.

Dabei war der Wechsel des Olympioniken in den paralympischen Sport gar nicht so einfach: Förstemann musste erst seine olympische Karriere offiziell beenden, um sich schließlich, gemeinsam mit Kruse, für den Nationalkader im paralympischen Bereich zu qualifizieren – bei einer Weltmeisterschaft musste dafür mindestens Platz 8 her. Förstemann startete nach einem Sturz mit gebrochener Schulter und Schlüsselbein – ein Risiko, das sich auszahlte: Das Tandem wurde Siebter, der Weg des Duos war geebnet.

Mehr als nur ein Zeichen

Mit seinem Wechsel wollte Förstemann ein Zeichen setzen, überrascht wurde er vor allem vom Niveau, auf dem die Para-Cycler unterwegs sind. Inzwischen ist das seine Botschaft: „Es ist oft so, dass die Leute denken: Da sind eh’ nur drei Mann am Start und die haben sowieso eine Medaille. So ist es nicht. Wenn wir mit unserem Tandem unterwegs sind, fahren wir schneller, als das die olympischen Leute einzeln machen. Das ist nicht nur Hobby, was wir hier machen, das muss man richtig ernst nehmen. Das ist krass, das ist richtig Leistungssport.“

Wie ernst ihm die Angelegenheit ist, merkt man Förstemann an, wenn er über die eingetauschten olympischen Spiele spricht – Spiele, die die Krönung seiner Karriere hätten werden können. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, das lässt mich komplett kalt. Ich bin mal Sportler geworden, um zu Olympia zu kommen. Aber ich habe mich der Paralympischen Sache verschrieben.“

Kruse und Förstemann erinnern ein wenig an Bud Spencer und Terence Hill auf dem Fahrrad. Der Ehrgeiz schweißt sie zusammen, die beiden leben füreinander und für den Sport. Hobbies neben dem Radsport gibt es nicht. Wie gut die Athleten harmonieren, zeigt Förstemann mit seiner Reaktion auf den Sturz im Training. Während die Ausfallzeit in anderen Sportarten aufgrund der Carbonsplitter in der Hand wohl auf mehrere Wochen taxiert worden wäre, rehabilitierte sich Förstemann im Kraftraum und steigerte erstmal seinen persönlichen Rekord bei einbeinigen Kniebeugen um 40 Kilo.

Ehrgeizig nach ganz vorne

Dass solche Charaktere auch mal aneinandergeraten, ist vorprogrammiert. Etwaige Wogen zu glätten, ist Aufgabe von Markus Wähner, dem Trainer von Kruse und Förstemann. Er weiß genau, wie er mit seinen Schützlingen umzugehen hat: „Das sind zwei testosterongeladene Athleten, Muskelpakete, die alles für ihren Traum geben, eine Medaille zu holen. Natürlich gibt’s irgendwo auch mal Reibereien. Aber nur, wo Hitze entsteht, kann auch mal ein Feuer entfachen.“

Manchmal lodern die Flammen derart, dass das Material darunter leidet. „Das ist jedes Mal wieder ein Schlag in die Fresse“, sagt Kruse. „Alle erwarten von uns eine Medaille, allein durch unsere Vitas. Das Problem ist, dass wir diesen Druck leistungstechnisch, physisch, definitiv erfüllen können. Aber: Wir sind materialtechnisch einfach gehandicapt.“

Trotz der Rückschläge wollen Kruse und Förstemann in der Nacht auf Samstag über die 1000 Meter Verfolgung ganz vorne wegfahren, etwas anderes lässt der eigene Ehrgeiz nicht zu. Beide haben in ihren Karrieren bereits fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, nur paralympisches Gold fehlt noch. Gemeinsam soll das nun klappen. Wenn das Material mitmacht.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Lennart Glaser

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