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Ganz allein. Es ist bisher nicht die WM des Lionel Messi.

© AFP

Alles hängt an Messi: Warum Argentinien so ausrechenbar ist

Messi sollte die Lebensversicherung von Trainer Sampaoli sein. Doch der Plan geht nicht auf.

Auf zur finalen Erniedrigung! Ivan Rakitic leitet sie ein, als er den Ball nach vorn treibt, umzingelt von sechs Argentiniern, keiner von ihnen versucht, ihm richtig nahezukommen. Ein erster Schuss, abgewehrt von Willy Caballero, der tragischen Gestalt im argentinischen Tor. Der Ball springt auf Mateo Kovacic. In der Mitte hebt Javier Mascherano den Arm, er hofft wohl auf eine Abseitsposition, aber da ist keine. Die sechs Argentinier schauen teilnahmslos zu, wie Kovacic zurück auf Rakitic spielt und der den Ball ins verwaiste Tor schiebt. Zum 3:0 der Kroaten über den WM-Favoriten, der nun mit einiger Sicherheit das Achtelfinale der Weltmeisterschaft verpassen dürfte.

„Diese Mannschaft ist keine Seleccion“, kommentiert die Zeitung „La Libertad“. „Seleccion“ – das ist in Argentinien ein heiliger Begriff für elf Männer, würdig befunden, die Nation in himmelblauweißen Leibchen zu repräsentieren. „Diese ist an der eigenen Inkompetenz gescheitert“ heißt es bei „La Libertad“.

Hat Lionel Messi dieses Debakel vorausgesehen, schon in den Minuten, bevor es ernst wird in Nischni Nowgorod? Er fährt sich mit der Hand durch das Gesicht und bedeckt die Augen, als die Fernsehkamera auf ihn blendet, wie er der Nationalhymne lauscht. „Sean eternos los laureles, que supimos conseguir“, ewig seien die Lorbeeren, die wir zu erlangen wussten. Es gibt keine Lorbeeren in Russland für diese vom Kapitän Messi angeführte Mannschaft. Aber führt er sie überhaupt an?

Nachfragen zur Führungsschwäche beantwortet Stürmer Sergio Aguero. Es ist kurz vor Mitternacht, als ihn ein Reporter auf das anspricht, was sein Trainer Jorge Sampaoli gerade erzählt hat. Dass die Spieler sich vielleicht nicht an seinen Plan gehalten hätten und der Plan deswegen gescheitert sei. „Lass ihn doch sagen, was er will“, entgegnet Aguero und verschwindet in die Nacht.

Sampaoli übernimmt die symbolische Verantwortung für das, was in diesen Tagen passiert. Für das bescheidene 1:1 gegen Island, das peinliche 0:3 gegen die Kroaten. Trotz dieses Tiefschlags kann die Mannschaft sogar noch aus eigener Kraft mit einem Sieg gegen Nigeria das Achtelfinale erreichen. Der Trainer hat den Job erst spät in der Qualifikation übernommen und seine Mannschaft am letzten Spieltag noch zur WM geführt, und das auch nur dank eines Hattricks von Lionel Messi. Messi sollte auch in Russland seine Lebensversicherung sein, aber diesmal geht der Plan nicht auf. Sampaoli sagt, das liege nicht an Messi, sondern am Rest der Mannschaft: „Leo ist limitiert, weil das Team nicht so mit ihm spielt, wie es sollte.“ So viel zum Plan, an den Sergio Aguero und die anderen sich nicht gehalten haben.

Messi ist überfordert

Was ist das für ein seltsamer Plan. Der Versuch, auf dem Rasen alles auf einen auszurichten und all die anderen Hochbegabten wie Aguero, Angel di Maria, Gonzalo Higuain oder Paulo Dybala zu Dienern zu degradieren. Argentinien ist so reich mit Talent gesegnet wie kaum eine andere Nation, aber alles muss sich den Launen und der Tagesform eines einzelnen unterordnen. Damit ist Lionel Messi überfordert. An guten Tagen kann er mit seinen Tempodribblings Spiele ganz allein entscheiden. Er ist ein virtuoser Solist, aber kein Stratege. Kein geborener Anführer, wie Diego Maradona einer war. Maradona hat es in Neapel und in der Seleccion geschafft, mittelmäßige Spieler besser zu machen. Der Messi von Barcelona verdankt seinen Erfolg seiner Klasse, aber auch selbstständig denkenden und handelnden Persönlichkeiten wie Gerard Piqué, Andres Iniesta oder Luis Suarez. Und der Messi von Argentinien? Macht gute Spieler schlechter.

Die Kroaten machen es wie schon die Isländer, nur noch ein bisschen besser. Sie hetzen immer zwei oder drei Spieler auf Messi. Messi bringt es in Nischni Nowgorod auf 49 Ballkontakte, die wenigsten davon dort, wo es gefährlich wird. Der Plan geht auf. Ja, es ist auch ein wenig Glück dabei. Etwa in der ersten Halbzeit, als der Argentinier Enzo Perez das leere Tor nicht trifft. Oder beim Führungstor, Torhüter Caballero verursacht es mit einem missratenen Kick auf den Fuß des Frankfurters Ante Rebic.

Kroaten mit Rezept

Doch anders als die Argentinier haben sie auch für das Spiel nach vorn ein Konzept. Sie sind versiert in der Ballbehandlung und clever im Umgang mit dem Gegner. Sie provozieren, lassen sich aber nicht provozieren. Das zeigt Wirkung. Als Nicolas Otramendi den Ball an den Kopf des am Boden liegenden Rakitic jagt, bewahrt ihn allein die Gnade des Schiedsrichters vor einem verdienten Platzverweis. Argentinien rast, Kroatien spielt Fußball. Mit Strategen wie Luka Modric und Ivan Rakitic, die je nach Bedarf das Tempo forcieren oder bremsen und dazu beide noch ein Tor schießen. „Wie sehr beneiden wir sie um diese multifunktionalen Mittelfeldspieler“, heißt es in der argentinischen Zeitung „Clarin“. Das darf auch als Kritik an Messi gewertet werden.

Argentiniens Fußball steht vor einer Zäsur. Messi selbst wird sie einleiten mit seinem allgemein erwarteten Rücktritt aus der Nationalmannschaft, den er vor zwei Jahren nach dem verlorenen Finale bei der Copa America schon mal verkündet und dann auf Flehen der Nation wieder zurückgenommen hatte. Argentinien wird ihn vermissen und mittelfristig doch profitieren. Auf dass sich all das zurzeit nutzlos um ihn versammelte Talent endlich entfalten kann.

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