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Andreas Neuendorf, 42,  spielte zwischen 1998 und 2000 sowie von 2001 bis 2007 für Herthas Profis. Seit 2015 ist er Nachwuchstrainer.

© Imago

125 Jahre Hertha: Zecke Neuendorf: „Marcelinho hat uns alle eingenebelt“

Andreas „Zecke“ Neuendorf über brasilianische Abende, das Aus von Huub Stevens und Hans Meyers Duz-Angebot.

Hier erzählen ehemalige Profis anlässlich des 125. Geburtstages von ihren Erlebnissen bei Hertha BSC. Jeden Tag ist ein Spieler aus einem Jahrzehnt dran. Heute Teil fünf: die Nullerjahre.

Herr Neuendorf, wer war der beste Spieler, mit dem Sie zusammenspielten?

Der spektakulärste war Marcelinho, aber auch Sebastian Deisler war ein sensationeller Fußballer. Der Junge hat im Training Sachen gemacht – Wahnsinn. Leider spielten andere Faktoren bei ihm nicht mit. Aber auch René Tretschok und Dariusz Wosz waren ein sensationelles Duo.

Wer konnte am besten feiern?

Das ist einfach – der Marcelo. Er hatte ja immer sonntags seinen brasilianischen Abend, der nicht selten erst am nächsten Morgen endete. Wenn wir dienstags ein internationales Spiel hatten, sind wir bereits montags geflogen. Im Flugzeug waren dann drei Reihen vor Marcelo und drei Reihen hinter ihm völlig mit Alkohol eingenebelt. Hoeneß hat uns dann immer erklärt, er habe mit Marcelinho gesprochen und ihm das Versprechen abgerungen, dass das nie wieder vorkommt.

Und das glaubten alle?

Nö, aber wir wussten, wenn Marcelinho halbwegs normal in Form war, spielte er wie von einem anderen Planeten. Wenn er angeschlagen war, spielte er wie einer von uns. Hoeneß war clever, er wusste, dass wir ohne Marcelo kaum eine Chance hatten. Wir waren spielerisch ordentlich, aber Marcelo war der Unterschied. Er gehörte zu den sechs, sieben Spielern der Liga, die dafür sorgten, dass eine Mannschaft gewann oder verlor.

Hertha spielte damals regelmäßig im Europapokal.

Das war eine aufregende und erfolgreiche Zeit, die frühen Nullerjahre. Wir hatten aber auch bärenstarke Mannschaften. Ich denke an Gilberto, an Joe Simunic. Niko Kovac und Pal Dardai stritten um einen Platz, das waren zwei Qualitätsspieler, Kämpfer, Maschinen! Oder Ali Daei, wir hatten viele namhafte Spieler.

Wie haben Sie die Trennung von Jürgen Röber im Frühjahr 2002 erlebt?

Für mich kam es überraschend. Ob er freiwillig ging oder dazu getrieben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Er meinte, es wäre besser, dass den Endspurt ein anderer macht. Wir Spieler haben nie daran gezweifelt, dass wir es schaffen. Wir schätzten Röber, er hat es verstanden, so zu arbeiten, dass der Respekt ihm gegenüber groß war. Es gab ja auch Spiele, bei denen wir vorher im Kreis standen und sagten, was der jetzt erzählt hat, ist egal, wir machen das so und so. Es war halt ein Geben und Nehmen.

Dann kam Falko Götz, Hertha schaffte noch Platz vier. Wie auch 2005.

Besonders bitter war es 2005. Letzter Spieltag gegen Hannover. Wir hätten nur gewinnen müssen, und dann murksen wir ein 0:0 zusammen. International dabei zu sein, war ja bei uns damals fest drin, aber so dicht vor der Champions League zu scheitern...

Unter Huub Stevens hatte die Mannschaft nach Platz fünf 2003 die Champions League zum offiziellen Ziel gesetzt.

Mit Huub musste leider ein großartiger Mensch gehen, er hatte von Anfang an nie eine faire Chance gehabt. Weil Götz kurz vor ihm relativ erfolgreich war und Stevens zuvor Gelsenkirchen trainierte, was bei den Fans nicht gut ankam. Er hat uns Professionalität vorgelebt. Für ihn war es bitter. Ich habe mich geärgert, dass ich ihm nicht helfen konnte.

Wie meinen Sie das?

In seiner Zeit fehlte mir oft der Spielrhythmus, was an meinem Körper lag. Ich hatte insgesamt neun Leistenoperationen, allein sieben in Berlin. Es gibt Trainer, für die man durchs Feuer geht. Für Huub wäre ich durchs Feuer gegangen.

Warum?

Ich empfand es als ungerecht, wie mit ihm umgegangen wurde. Er hätte mehr Respekt verdient. Immer ehrlich, immer gerade. Er wollte, dass ein Wir-Gefühl aufkommt. Wir hatten aber ein paar selbsternannte Stars, die dachten, Stevens bräuchte sie, aber nicht umgekehrt. Sie haben nicht verstanden, was er wollte. Er hat uns das vor unser aller Augen verbildlicht. In der Kabine malte er einen Wagen. Vorn standen ein paar Figuren, die den Wagen gezogen haben. Dann hinten welche, die geschoben haben. Manche saßen obendrauf. Und ein, zwei Figuren hatte er so gezeichnet, als würden sie gegen alle anderen arbeiten. Er sagte zu uns: „Und das seid ihr. Das ist der Charakter dieser Mannschaft. Wir können gar nicht Großes schaffen, weil manche nicht verstehen, dass es nur gemeinsam geht.“

"Hoeneß hat jeden zweiten Tag eine Wutrede gehalten"

Wo waren Sie?

Passen Sie auf: Ich bin zu Huub, ich sagte ihm, dass das Bild ziemlich gut geworden ist. Ich muss erwähnen, dass er mich irgendwie mochte. Er fragte mich: „Hast du dich auch wiedererkannt?“ Ich antwortete: „Na klar, Trainer, ich bin der, der den Wagen von hinten richtig anschiebt.“ Er sagte: „Nee, nee, du sitzt obendrauf!“

Wie bitte?

Genau das war auch meine Reaktion. Er sagte in seinem Slang: „Junge, du sitzt da obendrauf, weil du nur verletzt bist. Wo schiebst du denn, wo hilfst du mir? Sieh’ zu, dass du gesund wirst.“ Dann habe ich Vollgas gegeben und als ich so weit war, war er weg.

Dann kam Hans Meyer ...

Ja, aber erst einmal hat Dieter Hoeneß eine seiner Wutreden in der Kabine gehalten. Hans Meyers erste Sätze waren: „So, meine Herren, wenn wir absteigen, dann passiert nichts! Die Sonne wird trotzdem weiter scheinen, wir werden morgens aufstehen, keiner von uns wird sterben.“ Das war das Gegenteil von dem, was Hoeneß gesagt hatte, der einen knallroten Kopf bekam. Hoeneß war zu dieser Zeit fast jeden zweiten Tag in der Kabine und hat eine Wutrede gehalten. Deswegen war das ja so angenehm, dass da mal einer stand, der normal mit uns sprach.

Hans, der Retter?

In seiner ersten Ansprache auf dem Platz hat er dann Nationalspieler Marko Rehmer vor versammelter Truppe rundgemacht. Er wollte alle erden, wir seien alle gleich, jetzt gehe es nur noch um Leistung. Er brauche 14, 15 Leute, mehr nicht. Jeder habe seine Chance und keiner solle sich nach zwei Monaten beschweren, wenn er nicht spielt. Das war Hans Meyer. Wir mussten von morgens bis abends auf dem Gelände bleiben, hatten also einen Zehn-Stunden-Tag. Für verwöhnte Fußballprofis, die um halb zehn kamen und mittags schon wieder im Auto saßen, war das – gewöhnungsbedürftig.

Der Rückrundenstart ging in Bremen gleich 0:4 verloren.

Ja, als Marcelinho noch der fatale Rückpass unterläuft, den Ailton erläuft und ein Tor schießt. Aber da war ich nicht im Kader. Meyer hatte zu mir gesagt: „Ich sehe, du machst das hier ordentlich, aber ich habe nur ein halbes Jahr Zeit. Mir wurde gesagt, du bist immer wieder verletzt. Ich kann nicht auf dich setzen.“ Das war hart. Ich sagte dann nur, dass ich brenne, wenn irgendwas ist, bin ich da.

Und Sie kamen ja dann auch.

Meyer hatte damals durchgesetzt, dass wir immer mittwochs vor Heimspielen ins Olympiastadion durften für ein Spiel elf gegen elf. Das war meine Chance. Das erste Spiel mit mir gewannen wir gegen Stuttgart, von da an war ich dabei. Aber wissen Sie was? In den Zeitungen hatte damals gestanden, dass Meyer für den Klassenerhalt 500.000 Euro erhalten würde. Ich bin dann zu ihm hin: „Herr Meyer, nur kurz, was kriegen wir eigentlich davon ab, wenn wir drin bleiben?“ Er sagte: „Die Belohnung ist, du darfst mich eine Woche lang Hans nennen."

Aber dafür musste 1860 München am letzten Spieltag in Berlin noch einen Elfmeter verschießen...

Stimmt, deren Stürmer Kioyo, dieser Teufelskerl. Ich habe danach im Bus auf Hans Meyer gewartet. „Du Hans, ist jetzt hier rauchfrei?“ Er: „Wie bitte?“ Ich: „Hans, du hast mich schon verstanden.“ Dann klärte ihn einer auf, unser altes Abkommen. Er nahm sich das Bordmikro und sagte: „Zecke, du darfst mich eine Woche Hans nennen, die anderen nicht. Aber Zecke, nur eine Woche!“ Wenn wir uns heute sehen, dann muss ich immer wieder staunen, was der Hans für große Hände hat. Aber er hat es neben Huub in mein Herz geschafft.

Wie haben Sie Herthas Abstieg verfolgt?

Zwischen 2007 und 2010 war ich in Ingolstadt. Ich wollte nie weg von Hertha. 2006 wollte mich Klopp nach Dortmund holen, aber Hoeneß sagte nein. Doch dann bot Hoeneß mir im April 2007 nur einen Vertrag als Stand-by-Profi an. Wir stritten uns. In Ingolstadt angekommen, hörte ich von zwei Hertha-Spielern, dass Lucien Favre nach dem Videostudium gefragt hat, wo ich denn sei? Er bräuchte so einen, der giftig ist und mit dem Ball schnell in die Spitze kommt. Ja, schade, habe ich mir gedacht. Ich habe meine Hertha nie aus den Augen verloren. 2009 wäre sie ja beinahe Meister geworden. Am Ende wurde Hertha wieder nur Vierter und verlor anschließend Typen wie Simunic, Friedrich, Woronin und Pantelic. Und Favre ging.

Ihr bitterster Moment mit Hertha?

Ich musste einmal gegen Hertha spielen. Mit Leverkusen. Das war im Dezember 2000, als gerade Berti Vogts Trainer geworden war. Ich musste dieses eine Jahr in Leverkusen spielen. In einem Interview vor diesem Spiel hatte ich gesagt, dass ich für Hertha bin, und dass ich mich, wäre ich Trainer, nicht aufstellen würde. Ich spielte dann doch, wir gewannen 4:0. Trotzdem hatte der Berliner Fanblock mich sowohl beim Warmmachen als auch nach dem Spiel gefeiert: „Zecke olé, Zecke olé!“ Das fühlte sich falsch an und ich sagte mir, ich möchte nie wieder gegen Hertha spielen.

Und für das Rückspiel in Berlin haben Sie sich versteckt?

Na fast. Es war der vorletzte Spieltag, für beide ging es um Europa. 1:1 ging das Spiel aus. Ich hatte zu Vogts gesagt, dass ich auf keinen Fall spielen werde. Dann wollten er und sein Co-Trainer Pierre Littbarski mich einwechseln. Ich sagte: „Leute, in wenigen Wochen bin ich wieder bei Hertha, bringt mich doch nicht rein, ich werde nur rumstehen, ich will doch mit Hertha international spielen.“ Dann habe ich mich sicherheitshalber hinter die Einwechselbank gestellt. Littbarski war stinksauer. Hinterher sagte er mir, dass er mich verstehen kann.

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