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Schüler, Lehrer und Eltern protestieren mit einer Lichterkette.

© Thilo Rückeis

Sieben Jahre Baustelle: Diese Schule zeigt, wie man im Berliner Chaos überlebt

Keine Klassenzimmer, keine Aula, keine Turnhalle, sie kennen es nicht anders. Die Kinder der Kurt-Schumacher-Grundschule lernen fürs Leben in Berlin.

Als Henrike Hüske vor dreieinhalb Jahren ihren ältesten Sohn zur Einschulung brachte, stand vor der Kurt-Schumacher-Schule ein Bauschild, und mit dem Provisorium werde es bald vorbei sein, hieß es.

Provisorium bedeutet: Kein Musikraum, keine Aula, keine Turnhalle, Religionsunterricht findet in der Bibliothek statt, das Pseudo-Lehrerzimmer für ein Kollegium von 30 hat zehn Plätze, die auch von Kindern zum Lernen genutzt werden. Der Chor singt im Foyer, sonst passt er nirgends hin. Stühle und Material für den Musikunterricht lagern draußen auf dem Hof in Übersee-Containern.

Der erste Jahrgang, der zum Lernen, Essen und für die Freizeit in der gesamten Grundschulzeit nichts anderes als einen einzigen Raum gekannt hat, ist bereits auf die weiterführenden Schulen entlassen. Auch Hüskes Sohn, jetzt vierte Klasse, wird das so gehen.

Die heutige Elternvertreterin Henrike Hüske ist tatsächlich gefragt worden, warum sie denn jetzt so einen Aufstand mache – es sei doch vorher auch gegangen, seit 2012. Doch die in Wahrheit viel rätselhaftere Frage ist, warum die Elternschaft von zwölf Grundschulklassen so lange stillgehalten hat.

Was ist das für eine Schule, deren Klassen sieben Jahre lang in ihren eigenen Horträumen ausharren, weil die Schule selbst wegen fehlendem Brandschutz geschlossen ist? Wie um alles in der Welt haben sie diesen Zustand so lange ausgehalten?

2012: Die Schule ist nicht mehr benutzbar

Schulleiter Lutz Geburtig, der am vergangenen Montag früh vor Schulbeginn wie immer die Kinder im Foyer begrüßt, weiß noch wie heute, wie es begann: An einem Donnerstag im Dezember 2012 hatte er bis vier Uhr Unterricht. Um halb vier wurde er aus der Klasse gerufen: Ab dem nächsten Morgen, 9 Uhr, sei seine Schule nicht mehr benutzbar: Notfall. Mangelhafter Brandschutz. Es würde nicht lange dauern.

Sie haben dann alle ihre vorweihnachtlichen Plätzchenteller genommen und in das Hortgebäude hinübergetragen. Jede Klasse bezog erst einmal ihren Hortraum. Wo sie unglaublicherweise noch heute sind. Und vermutlich bis 2024 bleiben werden.

Schulleiter Lutz Geburtig lobt den Zusammenhalt.
Schulleiter Lutz Geburtig lobt den Zusammenhalt.

© Stefan Weger

Weil immer wieder ein Baustopp galt. Sie immer wieder vertröstet wurden. Kein Geld da war. Eine Firma pleite ging, einer anderen, die schlecht gearbeitet hatte, gekündigt wurde. Weil der Bezirk, wie der Rechnungshof sagt, das Kostenrisiko nicht genug geprüft habe. Alles kam zusammen. Und das ist natürlich einerseits spektakulär unerhört, dass eine einfache Brandschutzsanierung sieben Jahre dauert: Diese Schule, sagt Hüske, ist der BER von Kreuzberg! Andererseits ist es die sich nur immer wiederholende Geschichte dieser Stadt mit ihrem rasenden Stillstand, bei der am Ende das Bemerkenswerteste bleibt, welche Opfer zu bringen die Bewohner bereit sind. Warum ist man gar nicht überrascht?

Diktatheft und Thermometer

„Denkt dran, 8 Uhr, gleich geht’s los“, ruft Geburtig. Und dann geht der Alltag los, der auch in einem Krisenland spielen könnte. Auf dem Korridor sitzt eine Lehrerin mit einem Schüler, einem Diktatheft und einem Thermometer, das nun von den mehr als 20 Grad aus dem Klassenzimmer stetig abwärts geht. In der 3C tragen alle Kinder Hausschuhe, weil in den Horträumen, die zugleich die Klassenzimmer sind, die Spielecken mit Teppich ausgelegt sind.+

Mehrzweckraum. Um 12.15 Uhr rollt die Erzieherin einen Wagen mit Geschirr herein.
Mehrzweckraum. Um 12.15 Uhr rollt die Erzieherin einen Wagen mit Geschirr herein.

© Stefan Weger

Um Viertel nach zwölf rollt die Erzieherin einen Wagen mit Schüsseln und Geschirr herein. Die Kinder decken ihre Schreibtische und essen mit Blick auf die Tafel. „Sehen, du siehst, du sahst. Helfen, es hilft, es half“ steht dort. An den Schreibtischen Eisbergsalat mit oder ohne Käse, Nudeln mit Soße, Joghurt. Danach ist Freizeit. Jetzt stören die Schultische eher.

["Pechsträhne", sagt der Stadtrat. Diese Schule ist immer wieder Thema im Tagesspiegel-Newsletter für Friedrichshain-Kreuzberg. Den schnellen Kreuzberg-Newsletter in voller Länge und kostenlos lesen unter leute.tagesspiegel.de]

Sie könnten nebenan in dem kleinen Raum mit den Sportmatten spielen, aber leider ist der nur im Sommer nutzbar, denn die zwei winzigen Heizungen schaffen nur 15 Grad. Sie könnten das auf dem Schulhof tun, aber den alten, mit der Baustelle gesperrten Schulhof samt Kletterspinne hat sich in sieben Jahren längst die Natur zurückerobert. Die Kinder strömen also auf den Sportplatz. Sie wissen, dass sie hier aufpassen müssen, denn die Wurzeln einer Platane haben ihn zu einer Hügellandschaft gemacht.

Sein Kollegium bleibt trotz des Lärms dabei

Der Schulleiter selbst sitzt mit seinen zwei Mitarbeitern in einen schmalen Raum gezwängt, der anderswo als Pförtnerloge durchginge. Elterngespräche führt er im Eingangsfoyer. Geburtig ist kein Mensch, der ein Glas halb leer nennen würde. Er sieht auch, dass sie durch die Enge und das Improvisieren hier als Schicksalsgemeinschaft gut zusammengewachsen sind. Sein Kollegium bleibt trotz des Lärms dabei, niemand leiste bloß Dienst nach Vorschrift.

Und tatsächlich macht die angeregte Atmosphäre unter den grüßenden Schülern sofort gute Laune. Geburtig sagt sogar: Wir müssen darauf achten, dass wir uns diesen Zusammenhalt im neuen Gebäude erhalten. Aber das kann noch dauern. Weil der Bezirk im September den Architekten gekündigt hat, muss jetzt neu aufgenommen, geplant und ausgeschrieben werden. Frühestens 2024, rechnet Hüske aus, könne alles fertig sein.

So sieht es bislang in dem Gebäude aus, in dem die Kinder eigentlich lernen sollten.
So sieht es bislang in dem Gebäude aus, in dem die Kinder eigentlich lernen sollten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spätestens jetzt kommt einem eine Melodie bekannt vor. Es ist, hier im Kleinen, das Lied von Berlin, der Stadt des ewigen Übergangs: Berlin ist die Kunst, aus eigentlich unhaltbaren Zuständen noch Charme zu gewinnen. Das Einrichten mit einem Provisorium.

Die Welt lobt, wie sich die Bewohner unerschrocken Lösungen überlegen, angesichts von Leere kreativ werden. Was von außen wie eine Katastrophe aussieht, ist dann von innen zu Recht auch mit Stolz gefüllt: Dem Stolz auf die eigene Unerschrockenheit und die Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen.

Und sie haben ja Lösungen gefunden: Ihrer Tochter kaufte Hüske einen Lärmschutzkopfhörer. Bei Weihnachts- und Sommerfesten bestellen sie einfach gutes Wetter, denn es passen nicht alle Schüler ins Foyer. Man ist geländegängig und stolz darauf. Die Schule hat die Situation angesichts der Umstände bislang hervorragend gemeistert. Zu gut vielleicht. Denn so entstand kein Handlungsdruck.

Für 90 Prozent der Schüler ist Deutsch nicht die Muttersprache

Eltern, die die Wahl haben, wählen nicht so rasend häufig die Kurt-Schumacher-Schule, sagt Geburtig. Man könne ihnen schwer schmackhaft machen, dass ihr Kind erst einmal keine Turnhalle haben werde. Für etwa 90 Prozent der Schüler ist Deutsch nicht die Muttersprache, mehr als 75 Prozent der Familien sind arm. Doch Eltern, die hier schließlich landen, sind dann sehr zufrieden: die Atmosphäre, der Umgang, die Schülerzeitung, der Garten.

Die Elternvertreterin Henrike Hüske führt in das unwahrscheinliche Gärtchen in diesem verkehrsumflossenen Block, mit dem alten Pflaumenbaum, dem Hühnerhaus und den Bienenvölkern. Auch Väter, die sonst nicht schnell das Gespräch suchen, erkundigen sich, ob die Bienen über den Winter gekommen sind. Schon zweieinhalb Jahre nach der Beantragung kamen die Sonnensegel, mit denen sie jetzt im Sommer auch einmal draußen unterrichten können.

Jede Woche hat eine andere Klasse Hühnerdienst.
Jede Woche hat eine andere Klasse Hühnerdienst.

© Stefan Weger

Lutz Geburtig hatte hier lange einen Lieblingshahn, Kasimir, der immer gleich angerannt kam. Und den eines Tages eine Kollegin auf frischer Tat ertappte: Der vermeintliche Hahn hatte ein Ei gelegt. Hey, dies ist Kreuzberg – es war der Tag, an dem sich der Hahn entschied, als Frau zu leben. Fortan hieß Kasimir Kasimira.

Vor Jahren hatten sie beschlossen, Natur und Werken zum Schulschwerpunkt zu machen. Eben weil sie wussten, dass ihre Schüler oft aus beengten Verhältnissen kommen, wo große Familien auf kleinem Raum leben. Da konnten sie nicht ahnen, dass sich diese häusliche Enge fortan sieben Jahre lang in einem Klassenzimmer mit dreißig Kindern potenzieren würde. Tragischerweise könnte es genau die Tatsache sein, dass diese Familien daran gewöhnt sind, sich auf kleinstem Raum zu arrangieren, dass sie sich erst jetzt beschweren.

Anfang des Jahres hat der Fuchs alle Hühner gerissen

Be Berlin. Sei tolerant. Halte aus. Lasse dich inspirieren. Probleme sind Chancen. Und so handeln sie hier.

Anfang des Jahres hatte der Fuchs alle Hühner gerissen. Auch Kasimira war unter den Opfern. Prompt nahmen sie „Der Fuchs und sein Lebensraum“ durch: Die Nahrungsketten, der Fuchs – der wohl eine Füchsin war, man kannte sie ja – hatte soeben vier Junge bekommen, für die sie zu sorgen hatte.

Ein Fuchs hatte, so viel war klar, seine eigenen Probleme. Funktionierte nach Gesetzmäßigkeiten und Zwängen, die ihm die Natur und seine Rolle darin vorschrieb. Vielleicht würde es möglich sein, Verständnis für den Fuchs aufzubringen, der ihre Hühner gerissen hat, weil er nicht anders konnte?

Henrike Hüske nennt die Schule ihre Sohnes den "BER von Kreuzberg", mit diesem Slogan hat sie auch den Zaun verziert.
Henrike Hüske nennt die Schule ihre Sohnes den "BER von Kreuzberg", mit diesem Slogan hat sie auch den Zaun verziert.

© Stefan Weger

Die Kurt-Schumacher-Schule ist in vielerlei Hinsicht eine fabelhafte Schule. Und weil es auch beinahe wörtlich eine Fabel ist, haben sie es geschafft, sieben Jahre lang Verständnis für das Schulamt aufzubringen, das ihnen die Schule weggenommen hat. So sind sie hier. Sie lehren an dieser Kreuzberger Schule, tolerant zu sein. Nun tolerieren sie schon sieben Jahre unhaltbare Zustände.

Die Schüler mit ihren Wurzeln in vielen verschiedenen Herkunftsländern wissen, dass jeder in seinem Lebensraum zu seinen eigenen Bedingungen funktioniert. Ein Fuchs wie ein Schüler, eine Schulamtsleitung wie ein Baustadtrat. Dass man Widrigkeiten erst einmal nicht persönlich nehmen muss. Aber wie lange kann man Verständnis haben, bevor der eigene Lebensraum immer kleiner wird? Wer dem Fuchs auch noch die eigenen Hühner gönnt – kann so jemand der Stadt die eigene Schule wieder entreißen?

Zwei Filme, mit Auszeichnungen

Zuletzt hat die Lehrerin Zara Demet Altan mit ihren Schülern unter diesen Bedingungen noch preiswürdige Filme gedreht. Demet Altan ist seit dreieinhalb Jahren dabei, es ist ihre erste Stelle nach der Uni, und es dauerte nicht lange, bis eines der Kinder ihr erzählte, dass es nicht schwimmen mag. Warum? Weil es von einem Rettungsboot auf ein anderes gehoben wurde, mitten auf dem Mittelmeer.

Es waren echte Geschichten, die sie da hörte. Demet Altan ging in Geburtigs winziges Direktorenzimmer und fragte, ob sie mit den Kindern einen Film drehen könne. Fiktional, aber über Flüchtlingserfahrungen. Der Film „Frühlingskinder“ gewann einen Preis des „Bündnis für Demokratie und Toleranz“, am Donnerstagabend wird ein weiterer Film mit dem Titel "Sommernachtskinder" ausgezeichnet, beim "180' Filmfest Berlin".

Nach sieben Jahren will die Schule endlich auf ihr Problem aufmerksam machen.
Nach sieben Jahren will die Schule endlich auf ihr Problem aufmerksam machen.

© Thilo Rückeis

Am Mittwoch um vier zur Abholzeit treffen sich Eltern, Lehrer und Kinder zu einer Lichterkette um die Schule. Es sollte eine ironische Geburtstagsfeier für ihre siebenjährige Baustelle sein. Eltern, die sich in den Elternversammlungen kaum etwas zu sagen trauen, haben Plakate gemalt. Ein Fernsehsender ist gekommen und eine niederländische Zeitung. „Happy Birthday“, singen sie.

Beim letzten runden Tisch mit Baustadtrat Florian Schmidt Anfang Dezember stellte eine Mutter, die ein Kopftuch trug, die Frage, ob der mangelnde Fortschritt vielleicht auch damit zusammenhängen könnte, dass auf diese Schule so viele Migranten gehen. Man hat das verneint, für die Verwaltung gelte das nicht.

Andere Eltern hätten früher Alarm geschlagen

Aber zugleich kann man beinahe sicher sein, dass Eltern, die weniger scheu sind, früher Sturm gelaufen wären. Eltern, die schon Hemmungen haben, wenn in der Elternversammlung auffällt, dass ihr Deutsch nicht so gut ist, werden gar nicht auf die Idee kommen, sich bei den Ämtern zu beschweren. Sie würden gar nicht wissen, wohin sie sich wenden müssen.

Bis 2024 wird es vermutlich noch dauern, bis die Schüler umziehen können.
Bis 2024 wird es vermutlich noch dauern, bis die Schüler umziehen können.

© Stefan Weger

Henrike Hüske, drei Kinder, ein Job und nun auf den schnellen Turnschuhen, die man braucht, um alles zu vereinen, hat das Gewirr der Zuständigkeiten zwischen Schulamt und Baustadtrat fast im Alleingang freigelegt.

Bevor sie loslegte, suchte sie für den Internetauftritt im Netz nach alten Bildern von der funktionierenden Schule. Sie hat nichts gefunden. Es war gespenstisch, als wäre die Kurt-Schumacher-Grundschule unsichtbar gewesen. Als läge sie nicht mitten im touristischen Herzen Berlins, nur 600 Meter entfernt vom Abgeordnetenhaus, schräg gegenüber der Topographie des Terrors. Hatte sie nie von sich reden gemacht? 

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Hüske, der man sagte, es werde alles noch länger dauern, wenn die Presse ins Spiel käme, sagt, es laufe alles darauf hinaus: Was darf man hoffen? Sie wollte es in Berlin noch einmal probieren. Sie legte einen Twitter- und einen Instagram-Account an, #berkreuzberg.

Seitdem feuert sie dort ihre staubtrockenen Tweets ab: „Mama, warum baut Berlin ein Schloss? Ein Schloss braucht man doch gar nicht.“ Henrike Hüske bezweifelt, dass es auch nur eine einzige Person unter den Eltern gibt, die ihr folgt, aber das spielt keine Rolle. Es ist wichtig, dass Journalisten und die Verwaltung mitlesen.

Neue Hühner haben sie inzwischen bekommen, eine bunte Mischung verschiedener Rassen. Jetzt hat jede Klasse wieder eine Woche Hühnerdienst. Sie bringen Kartoffelschalen von zu Hause mit, die Eier verbacken sie in der Schulküche zu Kuchen. Als Henrike Hüske einmal in einer Mutter-Kind-Kur von ihrer Schule erzählte, dachten die anderen, ihr Sohn sei auf einer Privatschule. Der Garten! Die Eier! Hüske konnte nur lachen.

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