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Dunkelheit macht Angst: Viele Menschen fühlen sich abends unsicher in schlecht beleuchteten U- und S-Bahnhöfen und in Tunneln.

© Pexels/D. Schewig

Sicherheitsforschung: Wann ist die Angst nur gefühlt?

Wissenschaftler der Freien Universität untersuchen das Sicherheitsempfinden von Fahrgästen in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Es ist kurz nach Mitternacht, als Jana K. die Ringbahn in der Hermannstraße in Neukölln verpasst. Sie hat sich die Kapuze ihres schwarzen Mantels über den Kopf gezogen und hört Musik. Es ist kalt an diesem 27. Oktober 2016. Um 00.18 Uhr steigt sie die Treppe zur U-Bahn hinunter, um sich aufzuwärmen. Sie geht rechts am letzten Treppenabsatz, kann den Bahnsteig schon sehen. Noch sechs, fünf Stufen, als sie völlig unverhofft einen kräftigen Stoß im unteren Rücken spürt, das Gleichgewicht verliert und kopfüber die Treppe hinabstürzt und auf dem Gesicht landet.

Der sogenannte „U-Bahn-Treter-Fall“ sorgt in Berlin und ganz Deutschland für Aufregung und verunsichert viele Menschen. Monate später folgt eine ähnliche Tat am Alexanderplatz. Am U-Bahnhof Schönleinstraße werfen Jugendliche ein brennendes Taschentuch auf einen schlafenden Obdachlosen, in Köln wird ein Mann vor eine einfahrende Stadtbahn geschubst und stirbt.

Diese Taten sind Momentaufnahmen. Durch ihre Brutalität und das öffentliche Aufsehen, das sie erregen, kommen sie vielen Menschen spontan in den Sinn, wenn sie über ihre Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln nachdenken. Doch es sind vor allem Einzelfälle, die die tatsächliche Gefährdung in Bussen und Bahnen sowie an Haltestellen verzerrt wahrnehmen lassen.

Dennoch bleibt die Frage: Wie sicher fühlen wir uns in den öffentlichen Verkehrsmitteln? „Kann man eigentlich noch gefahrlos in die Bahn steigen?“, fragt die Boulevardpresse. Die Betreibergesellschaften des Öffentlichen Personenverkehrs (ÖPV) sorgen sich um ihre Fahrgäste – und um ihren guten Ruf. Sie suchen Lösungen, um die tatsächliche und die subjektiv wahrgenommene Sicherheit zu erhöhen.

Online wurden 2000 zufällig ausgewählte Personen befragt

Unter der Leitung von Professor Lars Gerhold untersuchen André Jaworski und Kilian Dorner von der Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität derzeit das Sicherheitsgefühl von Bürgerinnen und Bürgern in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ihre Arbeit ist eingebunden in das Projekt „Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen im öffentlichen Personenverkehr“ (WiSima), das die Freie Universität als Koordinator gemeinsam mit der Technischen Hochschule Wildau, der Universität Bremen, dem Fraunhofer-Institut für offene Kommunikationssysteme, der Deutschen Bahn AG und sechs assoziierten Partnern bis Sommer 2019 beschäftigt. Das Forscherteam untersucht, welche Sicherheitsmaßnahmen im ÖPV das subjektive Sicherheitsempfinden der Kunden erhöhen und welche auch wirtschaftlich sinnvoll sind. Gefördert wird das Vorhaben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

„Unsere Aufgabe ist dabei, ein möglichst genaues Verständnis des persönlichen Sicherheitsempfindens der Fahrgäste im ÖPV zu erlangen“, sagt Kilian Dorner. „Wir möchten aussagekräftig Auskünfte darüber geben können, was ihnen Angst macht.“ Der Politikwissenschaftler wertet zurzeit gemeinsam mit Volkswirt André Jaworski die Antworten aus einer repräsentativen Umfrage aus, die Anfang April online unter rund 2000 zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern stattfand.

Bereits im Herbst 2017 haben die Forscher mithilfe einer Handy-App und unterstützt durch 100 Probandinnen und Probanden aus Bayern, Bremen, Brandenburg und Berlin eine innovative Erhebungsmethode eingesetzt: Die Fahrgäste wurden während ihrer Fahrt im ÖPV befragt – eine explorative Studie, die neue Möglichkeiten bot, Erkenntnisse zu gewinnen. Deren Teilnehmer wurden im Vergleich zur repräsentativen Befragung nicht zufällig ausgewählt, sondern nach bestimmten Kriterien. „Sie mussten alle eine Monatskarte des ÖPV besitzen, und wir haben versucht, alle Teile der Gesellschaft einzubeziehen; Alt und Jung, Mann und Frau, Stadt und Land, mit und ohne Migrationshintergrund“, sagt Jaworski.

Viele Tester empfanden Enge als bedrohlich

Für die Studie entwickelte das Fraunhofer-Institut eigens eine App für das Smartphone, die mithilfe der Geodaten des Gerätes erkennen kann, wenn sich eine für die Untersuchung ausgewählte Person weiter als 500 Meter bewegt. „Dann erschienen auf dem Display des Smartphones Fragen“, sagt der Wissenschaftler. Zunächst wurde erhoben, ob die Person unterwegs ist und ob sie dabei den ÖPV benutzt. Anschließend wurden weitere situationsabhängige Fragen gestellt: Sind Sie auf dem Weg zu einer Haltestelle? Sind Sie im Verkehrsmittel? Oder auf dem Weg von der Haltestelle zum Ziel? Fühlen Sie sich sicher? Warum fühlen Sie sich unsicher? „Die Studie hat uns insofern schon wichtige Einblicke in das Befinden von ÖPV-Nutzern gegeben, denn dank der App hatten wir die Möglichkeit, quasi in Echtzeit Daten über das Sicherheitsgefühl der Reisenden zu erheben“, erläutert Kilian Dorner. „Diese Daten sind in die Vorbereitung unserer Repräsentativstudie eingeflossen, dadurch konnten wir den Fragebogen präzisieren und verbessern.“ So sei zum Beispiel Enge weitaus intensiver von den Probanden wahrgenommen worden, als dies in bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben wird; andere Faktoren, wie Graffiti und Müll an den Haltestellen, wurden von den Teilnehmern der Studie dagegen als weitaus weniger sicherheitsbedenklich wahrgenommen als bisher in Untersuchungen beschrieben.

Entsprechend konnten die beiden Wissenschaftler die Fragen für die repräsentative Studie anpassen. „Wir haben jetzt schon deutliche Hinweise dafür, dass Dunkelheit an Haltestellen oder in den Verkehrsmitteln den Menschen Angst macht; jetzt können wir uns stärker auf die Frage konzentrieren, warum das so ist“, sagt Kilian Dorner. Und die Forscher möchten herausfinden, inwieweit die objektive Sicherheitslage mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden einhergeht. So zeigte sich in den Daten der App-basierten Studie, dass sich die Teilnehmer unsicherer fühlten, wenn die Bahn oder der Bus besonders voll war.

Steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Vorfall tatsächlich in einer vollen Bahn? Oder ist die objektive Sicherheitslage eine andere? Hierzu werten die Wissenschaftler auch Daten der Bundespolizei und der Deutschen Bahn AG aus.

Am Ende stehen Handlungsempfehlungen für die Betreiber

Am Ende der Studie sollen konkrete Handlungsvorschläge für die Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel präsentiert werden. Ziel ist es, eine höheres Sicherheitsempfinden der Fahrgäste zu erreichen: Reicht es, dunkle Ecken in U-Bahnhöfen besser auszuleuchten, oder bedarf es einer stärkeren Präsenz von Sicherheitspersonal auf den Bahnsteigen? Wie voll dürfen Bahnen sein, um nicht als überfüllt wahrgenommen zu werden? Kann Videoüberwachung das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste steigern?

Die Kameraüberwachung des U-Bahnhofs Hermannstraße jedenfalls konnte die Straftat im Oktober 2016 nicht verhindern. Aber zumindest half sie, den Täter zu ermitteln.

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