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Frau für alles. Bärbel Güldenstein leitet kommissarisch die Martin-Lichtenstein-Schule. Sie hat Personalprobleme, weil junge Lehrer nicht nach Neukölln wollen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Schule ohne Direktor: In Berlin fehlen 126 Schulleiter

Manager, Bauleiter und Motivationscoach: Vielen Lehrern ist der Job als Schulleiter zu hart. Doch ohne Führung kann eine Schule schnell abrutschen. Und an manchen Schulen ist überhaupt kein Bewerber in Sicht.

Die Woche beginnt mit schlechten Nachrichten. Ein Lehrer hat sich bis Mittwoch krankgemeldet. Und dann steht auch noch der Hausmeister da und verzieht genervt das Gesicht: In der Jungentoilette ist eine Tür aus dem Rahmen getreten worden. Von wem? Er weiß es nicht.

Jetzt muss Bärbel Güldenstein ran. Sie ist die Rektorin. Es hängt viel davon ab, wie sie reagiert. Ob sie wütend auftritt oder verständnisvoll, hilflos oder bestimmt – es wird von Schülern, Eltern und Kollegen als Signal wahrgenommen. Würde sich herumsprechen, dass die Rektorin auf einen solchen Vorfall nicht angemessen reagiert, könnte das ihre Autorität schmälern und das Ansehen der ganzen Schule ruinieren. Die Martin-Lichtenstein-Grundschule hat schon genug mit dem Image ihres Stadtteils zu kämpfen: Sie liegt in Neukölln.

Bärbel Güldenstein ist eine sehr kleine, schmale Frau. Der schicke schwarze Rock, eng und kurz, das schwarze Oberteil und die Pumps betonen ihre Zartheit. Sie scherzt gerne. Jetzt aber streicht sie die schwarzen Haare hinters Ohr, legt die Stirn in Falten und marschiert los. Auf den Fluren ist es still. Güldensteins Absätze hallen auf dem Linoleum nach.

Schulleiter können eine Schule in den Abgrund treiben

Es ist von großer Bedeutung, welche Persönlichkeit an der Spitze einer Schule steht. Durch die Art, wie sich Schulleiter Respekt verschaffen, das Kollegium führen und motivieren, können sie einer Schule zum Aufstieg verhelfen oder sie in den Abgrund treiben. Schulen sind heute kleine oder mittlere Unternehmen mit zunehmender Eigenständigkeit und Wettbewerbsdruck. Schulleiter sind dafür verantwortlich, dass der Unterricht stattfindet und die Verwaltung reibungslos funktioniert. Neuerdings sollen sie auch noch wie Manager der Einrichtung ein Profil geben, sich auskennen mit Feedback-Kultur und Zeitmanagement.

Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern leiden, wenn die Schulleitung über einen längeren Zeitraum nicht besetzt ist. Das hat sich 2006 bei der Rütli-Schule und 2011 bei der Heinrich-Mann-Schule in Neukölln gezeigt. Die Lehrer, die die Schulen kommissarisch leiteten, konnten nicht verhindern, dass sich Respektlosigkeit und Gewalt ausbreiteten. Umso dramatischer ist, dass zurzeit 126 Schulleiter und Stellvertretender, sogenannte Konrektoren, an Berliner Schulen fehlen, davon 78 an den 370 öffentlichen Grundschulen. An Gymnasien und Sekundarschulen gibt es 596 Fachleiter zu wenig, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern. Insgesamt sind rund 830 Leitungsstellen vakant. Etwa an jeder siebten Schule ist das Leitungsteam nicht komplett. In anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus. In Nordrhein-Westfalen fehlt an jeder achten Schule der Chef. Die Berliner Schulverwaltung betont jedoch, dass keine Schule ohne Leitung bleibe, es gebe überall zumindest kommissarische Leiter.

Wie sich die Aufgaben des Schulleiters verändert hat

Frau für alles. Bärbel Güldenstein leitet kommissarisch die Martin-Lichtenstein-Schule. Sie hat Personalprobleme, weil junge Lehrer nicht nach Neukölln wollen.
Frau für alles. Bärbel Güldenstein leitet kommissarisch die Martin-Lichtenstein-Schule. Sie hat Personalprobleme, weil junge Lehrer nicht nach Neukölln wollen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Güldenstein ist seit 34 Jahren Lehrerin an der Martin-Lichtenstein-Schule und seit 22 Jahren Konrektorin. Vor zwei Jahren meldete sich plötzlich ihre Chefin krank und kam nicht wieder. Seitdem leitet sie die Schule kommissarisch. Würde sie ebenfalls krank, es gäbe niemanden, der sie vertreten könnte. Als Güldenstein dieses Jahr in Skiurlaub gefahren ist, haben ihr Eltern zwei Schutzengel aus Plastik geschenkt.

Die Lichtenstein-Schule wurde 1972 eröffnet, ein funktionaler Zweckbau auf zwei Etagen. Man sieht genau, bis wohin Bärbel Güldensteins Einfluss reicht: Flure und Klassenzimmer sind gepflegt. Kein Pausenbrotpapier fliegt herum, kein Kaugummi klebt unter der Tischkante. Es gibt auch keine Schmierereien an den Wänden, weder innen noch außen – anders als an der Turnhalle nebenan. Die wird abends von Vereinen genutzt. Güldenstein hat keine Kontrolle darüber.

Ihre Stimme ist eigentlich weich. Doch jetzt klingt sie hart

An diesem Vormittag muss sie nun erst einmal die Sache mit der kaputten Toilettentür klären. Die Jungentoiletten sind gerade erst saniert worden. Um da eine Tür aus dem Rahmen zu treten, braucht es schon ein bisschen Kraft. „Ein Zweitklässler wird es wohl nicht gewesen sein“, sagt Bärbel Güldenstein – und öffnet bei einer sechsten Klasse die Tür. „Guten Morgen, Frau Güldenstein“, rufen die Jungen und Mädchen. „Guten Morgen“, antwortet sie. Ihre Stimme war eben noch weich und fast mädchenhaft. Jetzt klingt sie tief und hart. „Ich bin so sauer“, sagt sie und wiederholt es gleich noch mal: „Ich bin soo sauer. Da hat doch tatsächlich einer die Klotür herausgetreten.“ Sie hat die Augen weit geöffnet und alle im Blick. Keiner rührt sich. „Hätte ich gewusst, dass ihr nicht normal auf die Toilette gehen könnt, hätte ich zuerst die Mädchentoiletten sanieren lassen.“ Dann fragt die Schulleiterin, ob jemand etwas gesehen hat?

Nicht nur die Aufgaben der Schulleiter haben sich enorm verändert, sondern auch die Schüler. Als sie angefangen hat, gingen hier in der Wutzkyallee in Gropiusstadt mehr als 540 Kinder in die Schule, die meisten wohnten in den Wohnblocks gegenüber. Das Wort „Migrationshintergrund“ kam nicht vor. Das änderte sich, als die Mauer fiel. Familien, die es sich leisten konnten, zogen weg, und es kamen viele mit sozialen Problemen nach. Heute gehen 300 Kinder in die Lichtenstein-Schule, etwas mehr als die Hälfte hat ausländische Wurzeln. Bei jedem zweiten Kind haben die Eltern keine Arbeit oder verdienen so wenig, dass sie Anspruch auf Zuschüsse haben.

Die Kinder in der sechsten Klasse mustern sich jetzt gegenseitig. Bärbel Güldenstein wartet gespannt. Vier, fünf Jungenköpfe drehen sich zu einem bestimmten Mitschüler. Der hat den Blick auf den Boden gerichtet. „Der hat sich in der Pause mit einem gekloppt“, sagt einer. Später wird sie mit dem beschuldigten Jungen alleine in ihrem Büro sprechen. Es wird sich herausstellen, dass der Junge die aufgestaute Wut nach der Prügelei offenbar durch Tritte gegen die Toilettentür abbauen wollte. Bärbel Güldenstein wird zum Telefonhörer greifen und die Mutter um ein Gespräch bitten.

Die Verwaltung des Mangels verschlingt immer mehr Arbeitszeit

Jetzt muss sie aber erst mal den Vertretungsplan für morgen organisieren. Wieder klacken die Absätze auf dem Linoleumboden – jetzt noch hastiger. Es ist schon kurz nach elf. Früher war das mit den Vertretungsstunden keine große Sache. Heute verschlingt die Verwaltung des Mangels immer mehr Arbeitszeit. An der Schule unterrichten 24 Lehrer und elf Erzieher. Nicht selten müssen sie 50 fehlende Stunden in der Woche ausgleichen. Eine ganze Generation geht in Pension, und zu wenige rücken nach. Es fehlen so viele Lehrer, dass in Berlin jetzt auch Seiteneinsteiger willkommen sind. Wer einen Job sucht, geht zum „Lehrer-Casting“. Da sitzen 85 Schulleiter 20 angehenden Lehrern gegenüber, sagt Güldenstein. Als sie fragte, ob die Bewerber zu ihr nach Neukölln kommen würden, kramte eine junge Frau einen Zettel aus der Hosentasche und las vor, was ihr Freund aufgeschrieben hatte: Sie solle auf keinen Fall nach Kreuzberg, Neukölln oder Wedding gehen: zu viele Probleme, zu viele Migranten, zu anstrengend. „Da kommt man sich schon merkwürdig vor“, sagt Güldenstein, schüttelt den Kopf und lacht. Manchmal hilft nur noch Humor. Die einzige Bewerberin, die sich zu ihr nach Neukölln getraut hätte, ist später bei der Abschlussprüfung vom zweiten Staatsexamen durchgefallen.

Warum die Lehrer den Job nicht machen wollen

Frau für alles. Bärbel Güldenstein leitet kommissarisch die Martin-Lichtenstein-Schule. Sie hat Personalprobleme, weil junge Lehrer nicht nach Neukölln wollen.
Frau für alles. Bärbel Güldenstein leitet kommissarisch die Martin-Lichtenstein-Schule. Sie hat Personalprobleme, weil junge Lehrer nicht nach Neukölln wollen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Auf Güldensteins Schreibtisch stapelt sich die Verwaltungsarbeit: Anfragen vom Schulamt, Anträge für Honorarkräfte, Protokolle von Konferenzen, Notizen über Gespräche mit Eltern und schwierigen Schülern. Sie muss den Überblick über mehrere Budgets behalten, sie arbeitet mit Musikschulen, Sportvereinen und der Polizei zusammen, mit Elternvertretern und dem Förderverein. Bei Baumaßnahmen muss sie mitunter entscheiden, in welcher Höhe Toilettenschüsseln angebracht werden sollen. Außerdem unterrichtet sie fünf Stunden Englisch in der Woche. Vier mehr, als sie müsste. Aber wer soll es sonst machen?

Die Schulverwaltung sieht die Not der Schulleiter. Demnächst sollen ihnen zwei Verwaltungsleiter pro Bezirk Arbeit abnehmen. Güldenstein bezweifelt, dass sie dadurch entlastet wird. Die Lichtenstein-Schule ist eine kleine. Die Verwaltungsleiter sollen sich vor allem um die großen Schulen kümmern.

Ab 2015 ist die Fortbildung Pflicht

Seit einem Jahr gibt es ein neues Fortbildungsprogramm. Die Schulverwaltungen von Berlin und Brandenburg bereiten Lehrer, die sich für einen Leitungsposten interessieren, auf die neuen Aufgaben vor. Ab 2015 ist der Nachweis über die Fortbildung Pflicht für Bewerber auf ein Leitungsamt. Ein Jahr lang werden die Kandidaten gecoacht und lernen viel über professionelle Personalführung, Qualitätsentwicklung, Teambuilding, Zeitmanagement, Feedback-Kultur und die Finessen der Verwaltung. Denn auch die Schulinspektoren legen zunehmend Wert darauf, dass sich die Schulen weiterentwickeln. Zurzeit laufen 16 Kurse mit jeweils rund 20 Teilnehmern.

Drei der vier Grundschullehrerinnen, die zu den ersten Absolventen gehören, sind über 50 Jahre alt. „Die Kollegen zwischen 30 und 40 Jahren haben genug zu tun, um Familie mit kleinen Kindern und Beruf zu verbinden, die wollen nicht auch noch Schulleiter werden“, sagt eine von ihnen. Die mittlere Generation der 40- bis 50-Jährigen fehle, weil einige Jahre in Berlin keine neuen Lehrer eingestellt worden seien. Das wirke sich jetzt aus. „Die Pensionierungswelle müssen komplett die 50-Jährigen auffangen.“

Kein einziger Bewerber hat sich gemeldet

Zwei Mal war Güldensteins Rektorenstelle ausgeschrieben. Kein einziger Bewerber hat sich gemeldet. „Schulleitung ist ein Verwaltungsjob. Ich bin Lehrerin geworden, um mit Kindern zu arbeiten“, sagt eine jüngere Kollegin im Lehrerzimmer nebenan. „Schulleiter sind eingequetscht wie ein Sandwich zwischen den Erwartungen der Schulverwaltung, Lehrerkollegen und Eltern“, sagt eine andere. Keiner hier möchte mit Güldenstein tauschen – obwohl der Posten des Schulleiters oft die einzige Aufstiegsmöglichkeit für Grundschullehrer ist. Alle sind dankbar und froh, dass „Güldi“, wie sie von den Kollegen genannt wird, den Job macht – und dass sie ihn anders macht als ihre Vorgängerin. Bei der war die Tür oft zu. Güldenstein lässt die Tür auf. Sie hat viele andere Dinge gemacht, bevor sie Lehrerin wurde. Vielleicht ist sie deshalb offener als andere. Kollegen, Eltern, Schüler – jeder kann sie ansprechen. Sie kniet sich auch mal zu einem Kind auf den Boden und tröstet, sie ermutigt und plaudert auch einfach mal gerne. Auch das ist wichtig fürs Klima.

Sie haben Arbeitsgruppen gebildet und im Team ein neues Schulprogramm entwickelt – „alles nebenher“. Es klingt nach einem Kraftakt. Jetzt muss noch die Außendarstellung verändert werden, sagt Güldenstein. Immer wenn einer Zeit hat, gehe es weiter. Zur Internetseite ist noch keiner gekommen.

Es ist jetzt halb zwei am Nachmittag. Der Unterricht ist zu Ende. Im Schulgebäude ist es still geworden. Kinder, die länger bleiben, werden im Hort nebenan betreut. Die Sekretärin und die meisten Lehrer der Lichtenstein-Schule sind gegangen. Güldenstein ist seit halb acht Uhr hier. Ihr Arbeitstag ist noch lange nicht zu Ende. „Am Freitagnachmittag ist mein Akku leer“, sagt sie. „Ich muss ständig präsent sein, körperlich, emotional, intellektuell. Und immer alles unter Zeitdruck.“ Da bleibe keine Energie für Fortbildungen. Würde sie sich auf die Position bewerben, die sie jetzt kommissarisch leitet, müsste auch sie die neuen 120 Stunden Weiterbildung absolvieren, viele davon samstags. „Wozu soll ich das machen?“, fragt sie. Vieles habe sie auch so gelernt. Und hinterher würde sie keinen Cent mehr bekommen. Mit einem A-13-Gehalt, etwas mehr als 4000 Euro brutto, plus 280 Euro „Amtszulage“ für die Konrektorenstelle ist sie bei einer Grundschule mit 300 Kindern am Ende des finanziell Möglichen angelangt.

In der Schublade liegen ihre Schätze

Manchmal, wenn sie müde ist und frustriert, zieht sie die unterste Schublade des Schreibtischs auf. Da liegen ihre Schätze: Dutzende Briefchen mit Herzen und selbst gemalten Tulpen von Ahmed, Phuong oder Mercedes. „Danke, dass Du geholfen hast“, steht da, und wie schön es ist, dass es sie gibt.

Oder sie denkt an neulich, als sie zusammen mit der Polizei versuchte, zwei verfeindete Elternpaare zu versöhnen. Die Gespräche drehten sich im Kreis. Dann hat sie mit der flachen Hand auf den Tisch gehauen. Da waren alle erschrocken: Diese Frau Güldenstein, dieses Persönchen, kann so austeilen? Mit dem Schrecken kam die Vernunft zurück. Einen Tag später brachte ihr die eine Mutter eine Tafel Schokolade vorbei.

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

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