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Das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin.

© Kitty Kleist-Heinrich

Schicksalsgemeinschaft: Woher die Nähe der Ostdeutschen zu Russland rührt

Die große Mehrheit der Ostdeutschen wünscht sich eine Annäherung an Russland. Begegnungen mit Menschen, die Putin verstehen.

Венн ду дас лезен каннст, бист ду кеин Весси!

Manchmal machen sich Ostdeutsche Geschenke mit dieser Aufschrift. Wenn du das lesen kannst, bist du kein Wessi! Russisch gelernt haben alle, aber meist mit Tendenz zum Miserablen, weil sie mussten. Und weil es blöd war, so bald nach dem ersten Alphabet noch ein zweites, komisches lernen zu müssen. Das übliche DDR-Muster: kein offener Widerstand, aber allgegenwärtige Subversion.

Doch manche lernten besser. So, wie Ulrike Euen heute mitten in einem alltäglichsten deutschen Satz das Wort Druschba, Freundschaft, ausspricht, rollt das R, das U merkt wieder, dass es ein U ist, es singt das Sch, viel weicher. „Ich hatte schon ab der 3. Klasse Russisch“, erklärt die Schwedterin. Sie gehört zum letzten Jahrgang, der vor der Wende Abitur machte, im Sommer 1989. Heute ist sie Schauspielerin in Chemnitz.

Druschba, Freundschaft. Das wünschen sich viele Ostdeutsche. Doch die Beziehungen zu Russland zeigen alle Symptome eines neuen Kalten Krieges. Jüngsten Umfragen zufolge befürworten 54 Prozent der Westdeutschen eine neue Annäherung an Russland, bei den Ostdeutschen sind es 72 Prozent. Und die Russlandpolitik des Westens finden wohl fast ähnlich viele falsch.

„Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“

In Schwedt endet noch immer die Erdölleitung Druschba, nach 5327 Kilometern, aus Westsibirien kommend. Was die DDR auf die Idee brachte, hier nicht nur ein großes petrolchemisches Kombinat zu errichten, sondern gleich eine ganze sozialistische Stadt. Und in einer sozialistischen Stadt sollten möglichst alle gut Russisch sprechen. „Also haben wir die Geschichte des Komsomol und der KPdSU gleich auf Russisch gelernt“, sagt Ulrike Euen, und ihr Tonfall verrät, dass Semantik und Didaktik dieses Unterrichts nicht unbedingt dazu geeignet waren, Freundschaft für immer zu stiften. Gestern und heute. Sind sie gar verschieden?

„Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“, erfuhren schon die Kinder in der DDR, was eine frühe Anlage zum Sarkasmus durchaus beförderte. Der Alltag Ost war durchzogen mit Gegensprüchen, wobei die Feststellung „Das gibt’s in keinem Russenfilm!“ die ultimative Reaktion auf Zumutungen aller Art darstellte. Russenfilm, das hieß: zu viel Pathos! Schon das Logo der sowjetischen Filmproduktionsgesellschaft Mosfilm, bäuerliche Heroine und Arbeiterheld kreuzen Hammer und Sichel, war eine schwere Bürde für alles Folgende, obgleich das manchmal auch ziemlich gut war.

Nein, die Russen hatten es nicht leicht in der DDR. Kurz vor ihrem Ende waren mehr als sechs Millionen ihrer Bürger Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, meist, weil sie glaubten zu müssen. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war ein großes Hindernis für die deutsch-sowjetische Freundschaft. Was aber am schwersten wog: Die Russen hatten den Rock’n Roll nicht erfunden! Die DDR-Jugend lernte Russisch mit Dauerblick gen Westen, natürlich über die Bundesrepublik hinweg gleich bis nach Amerika, eine Minderheit schaute mehr nach Paris.

Im Namen der historischen Wahrheit

Nein, die starke ostdeutsche Anteilnahme an Russland lässt sich nicht einfach aus der Vergangenheit erklären. Die Betonung liegt auf „einfach“.

Immer mehr meist etwas ältere Leipziger betreten das Café Yellow in der Steinstraße. Sie wollen hier gleich zusammen einen Russenfilm sehen, und zwar einen, den sie schon kennen: „Die Kraniche ziehen“ von 1957. Ein junges Paar, so alltäglich-unalltäglich wie Verliebte sind und wie es das sowjetische Kino bislang doch nicht kannte, blickt auf die Kraniche am Himmel über Moskau: „Schau einmal hin, schau zweimal hin, dann sieh’ mich wieder an!“ Es ist der 21. Juni 1941, der letzte Abend im Frieden, und keiner weiß es.

„Die Kraniche ziehen“ von Michail Kalatosow gewann 1957 in Cannes die Goldene Palme, aber dies hier ist kein Cineasten-Treffen, nein, es ist die etwas andere Art, des 22. Juni zu gedenken, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Kino statt Sanktionen! Also ist das hier eine Zusammenkunft der letzten Veteranen der deutsch-sowjetischen Freundschaft? Lauter Russland-Versteher, wie jene sagen, die sich nichts vormachen lassen?

Wenn ihr wüsstet, was ihr euch alles vormachen lasst!, antworten dann gewöhnlich die Gäste des Café Yellow. Vor drei Jahren haben sie die Bürgerinitiative „Gute Nachbarschaft mit Russland e.V.“ gegründet. Wie nötig sie sei, hätten gerade die letzten Wochen gezeigt, begrüßt die Vorsitzende des Abends die Gäste. Wahrscheinlich haben die meisten Mitbürger West auf den großen Gedenkveranstaltungen zum D-Day-Jahrestag niemanden vermisst, die Ostdeutschen schon: die Russen. Schon im Namen der historischen Wahrheit.

Er ging 1946 über die Schlachtfelder vor Moskau

Alle hier wissen, dass es den Westalliierte nicht eilig war mit dem D-Day. Dass sich Faschisten und Kommunisten im Osten gegenseitig die Köpfe einschlugen, schien ihnen so verkehrt nicht. Erst als klar wurde, dass die Rote Armee auf ihrem Weg gen Westen nicht mehr aufzuhalten war, spürten die Alliierten ernsten Handlungsbedarf. „Ich habe im Radio gehört, die Schlacht in der Normandie sei die größte Schlacht des II. Weltkriegs gewesen“, ruft einer. Eine Art von trauriger Heiterkeit legt sich über den Raum. Cornelius Weiss, Mitgründer der Bürgerinitiative, Chemiker, bis 1997 Rektor der Leipziger Universität, SPD-Landtagsabgeordneter, zuletzt Alterspräsident des Sächsischen Landtags, lacht nicht.

Es gab bestimmt nicht viele deutsche Halbwüchsige, die wie er 1946 über die Schlachtfelder kurz vor Moskau gingen. „Die zerschossenen deutschen Panzer standen alle noch da, die russischen waren schon fort“, wird Weiss nachher sagen. Bilder, die bleiben. Weiter im Süden war es noch apokalyptischer. Die Schlacht am Kursker Bogen war die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs und sein Wendepunkt, die größte Landschlacht der Geschichte überhaupt.

Wie sähe die Welt aus, hätten es die Deutschen noch geschafft, die Atombombe zu bauen? Die Radiumreserve des Deutschen Reiches – wichtig für die Nutzbarmachung der gerade erst entdeckten Kernspaltung – wog 21 Gramm. Millionen Dollar wert. Der Atomphysiker Carl Friedrich Weiss sollte die 21 Gramm im April 1945 SS-bewacht auf den Obersalzberg schaffen. Als die SS weglief, hat er es unterwegs vergraben. Doch zu Hause warteten die Amerikaner schon auf den 21-Gramm-Kurier: Ausgraben!

Beifallsbrief für Herrn Kretschmer

Sie wollten nicht nur die 21 Gramm, sondern auch den Atomphysiker gleich mitnehmen, aber der weigerte sich: er sei Sozialist! Als kurz darauf die Sowjets nach Thüringen kamen, fragten sie gar nicht erst. Und darum lebte sein dreizehnjähriger Sohn Cornelius nun in einem Lager 130 Kilometer vor Moskau, lief über die Schlachtfelder, begriff sich als Opfer einer Entführung und verstand doch allmählich, was die Deutschen diesem Land angetan hatten. Dass er nie Hass spürte, nicht von den alten, nicht von den jungen Russen, erstaunt ihn noch immer.

Cornelius Weiss schämt sich wie die anderen hier für die Europäer und Amerikaner, die so tun, als hätten sie den Krieg allein gewonnen – und die zugleich Sanktionen gegen Russland verhängen. Gerade haben sie dem Ministerpräsidenten aller Sachsen einen Beifalls- und Beistandsbrief geschrieben, denn Michael Kretschmer hatte im Juni eine neue Russland-Politik gefordert: „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, … unsere Leipziger Bürgerinitiative müht sich seit drei Jahren darum, dass dieses für den Frieden in Europa eminent wichtige Verhältnis aus dem Tal herauskommt, in das es geschichtsvergessene und kurzsichtige Politiker und Medien hineingesteuert haben.“

Die Mehrheit der Sachsen sehe das übrigens genauso, erfuhr der Ministerpräsident, schließlich hat eine Bürgerinitiative das Ohr grundsätzlich am Volk. Aber was ist mit der Krim, was mit der Ostukraine, was mit Flug MH 17?

Der Film ist zu Ende. Weiss und der Architekt Johannes Schroth, der einst gemeinsam mit russischen Bauleuten „Experimentalwohnkomplexe“ für Nischni Nowgorod plante, als es noch Gorki hieß, sehen sich an. Sie sitzen im Hofgarten des Kulturzentrums, zu dem das Café gehört. Schräge bunte Keramiken rahmen die Szene. Meist treffen sich hier junge alternative Gruppen, sie sind eine eher ältere alternative Gruppe.

Sie sind Wladimir Putin dankbar

„Wir wissen, dass wir uns auf schwierigem Terrain bewegen“, sagt Schroth, aber einfach zuzusehen, wie „der Russe“ als Feindbild wiederkehrt, das sei ihnen nicht gegeben. Bei jedem neuen Nato-Manöver, das zumindest gefühlt den Grenzen Russlands nahekommt, stocke ihnen der Atem. Schroth und Weiss sagen, sie hätten das Versprechen des amerikanischen Außenministers James Baker aus dem Jahr 1990 nicht vergessen, dass die Nato ihre Ostgrenze nie über das Gebiet der DDR hinaus erweitern würde – als Vorbedingung der Sowjetunion für die deutsche Einigung.

Ein solches Versprechen indes ist in den Verhandlungspapieren nicht dokumentiert, formell hat es eine solche Zusage also nicht gegeben. Nur Baker selbst machte sich handschriftliche Notizen eines Gesprächs mit Michail Gorbatschow zu dem Thema, in einem Brief an Helmut Kohl erklärte er, er habe Gorbatschow nach seiner Meinung dazu gefragt.

Es kommt nicht darauf an, Putin zu mögen, ihn gar zu verteidigen. Aber Schroth und Weiss sind ihm dankbar für seine Besonnenheit, mit der er zugesehen habe, wie an der Westgrenze seines Landes zum Gründungsmitglied Norwegen schließlich auch Estland, Lettland und Litauen als Nato-Staaten dazukamen. Dass in Polen und Rumänien an einem Raketenabwehrschirm gearbeitet wird. Der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hat das einmal so formuliert: „Was wäre, wenn Russland auf die Idee käme, in Mexiko einen Raketenschutzschirm aufzubauen und zu behaupten, das richte sich nicht gegen die USA?“

Dass irgendwann Schluss sein würde, war beiden klar. Bei Georgien und der Ukraine würde Schluss sein. „Sollte die russische Schwarzmeerflotte plötzlich in einem Nato-Land liegen? Sewastopol, diese so hart umkämpfte Stadt?“ Sieben Monate lang, bis zum 4. Juli 1942, verteidigte die Rote Armee den Hafen. Fast abgeschnitten von jeder Versorgung, unter Dauerbombardement. Am Ende standen nur noch neun unversehrte Häuser in der ganzen Stadt, eine halbe Million Soldaten der Roten Armee waren gefallen. Nein, Sewastopol ist kein guter Ort für einen Nato-Stützpunkt.

Eine nachträgliche Fernnähe

Und warum, fragen Schroth und Weiss, fiel die seit Katharina der Großen urrussische Krim überhaupt an die Ukraine? Weil der Ukrainer Chruschtschow 1954 auf die Idee kam, die Krim an die Ukraine zu verschenken. Eine kleine symbolische Aufmerksamkeit, mehr konnte es nicht sein innerhalb der Sowjetunion. Was man so macht, wenn man – nach Stalins Tod – noch Gefolgsleute braucht. Wir sind kein Präsent, wir sind nicht zu verschenken!, protestierten damals die Bewohner der Krim, sogar die örtliche KPdSU.

Das Verständnis der Ostdeutschen für Russland ist größer, schon weil sie es besser kennen. Und vielen fällt es schwer, sich eine nichtrussische Krim vorzustellen. Aus der einstigen Reserve ist doch eine nachträgliche Fernnähe geworden, wie es oft passiert, wenn Menschen eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Bei dem Wort Dostoprimetschatelnosti fangen sie an zu lächeln, vielleicht, weil sie es so lange nicht mehr gehört haben, vielleicht aus Freude, dass sie es immer noch verstehen. Dostoprimetschatelnosti heißt Sehenswürdigkeiten. Aber es ist viel mehr.

Die innerdeutsche Grenze gibt es immer noch: Es ist eine unsichtbare, eine epistemologische Grenze. Osten und Westen denken verschieden. Der Westen denkt primär rechtsförmig, der Osten primär genealogisch. Er fragt zuerst, wie eine Sache geworden ist. Die Dinge ausschließlich rechtsförmig zu betrachten, heißt abstrakt zu bleiben. Aber Interessen sind nie abstrakt, Sanktionen sind nie abstrakt. Nahezu jedes Jahr am 22. Juni wurden die Sanktionen gegen Russland verlängert, am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. In diesem Jahr war es der 20.

Die Arroganz des Westens

„Treffen Sanktionen nicht immer die Falschen?“, fragt Ulrike Euen. „Russland ist unser Riesennachbar, die sind so dicht dran an uns, da können wir nicht einfach auf Konfrontation gehen.“ Da ist ein großes Unbehagen angesichts der westlichen Politik der Stärke.

Wer aus der DDR kommt, aus dem Land, das die Bundesrepublik lange Zeit in Gänsefüßchen setzte, hat ein feines Gespür für solche Dinge. Und weil sie einst selbst Sanktionierte waren, wissen Ostdeutsche auch, dass Druck von außen den inneren Zusammenhalt eher fördert. Manche vermuten, der russische Nationalismus sei unter tätiger Mitwirkung des Westens entstanden, gewissermaßen ein Kollateralschaden der europäischen Ostpolitik.

„Ich mag diese Arroganz des Westens nicht, anderen zu erklären, wie sie zu denken, wie sie zu leben haben“, sagt Andrea Roscher-Muruchi, Jahrgang 1957, ein eher jüngeres Mitglied der Leipziger Bürgerinitiative. Andrea Roscher-Muruchi aus dem Erzgebirge hatte sowjetische Brieffreunde wie viele andere auch, erinnert sich aber nicht mehr an ihre Namen, es war doch eine zu mühsame Verständigung. Sie war nie gut genug in Russisch, um mit dem „Freundschaftszug“ in ein sowjetisches Ferienlager fahren zu dürfen, aber dafür machte sie mit achtzehn eine Lenin-Reise. Nach Moskau, Uljanowsk und Wolgograd.

„Lenin war mir egal, aber es gab keine andere, und es war so großartig weit weg.“ Wer Russland gesehen hat, sagt sie, diese unerhörte Weite des Landes, der muss doch spüren, dass es sich nicht vom Westen aus regieren lässt.

Manchmal wird die Leipziger Bürgerinitiative darauf hingewiesen, dass Russland keine Demokratie sei. Meist antwortet sie nur: Wissen wir!

Der Vater des Herbst '89 war ein Russe

Es ist – noch immer – das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft. Und das, obwohl die Ostdeutschen stets wussten, dass sie stellvertretend für ganz Deutschland die Kriegsschuld bezahlten, indem sie vierzig Jahre lang in einem besetzten Land lebten, in dem die Russen quasi noch die letzte Schraube abgebaut und mitgenommen hatten.

Das zentrale Ereignis im Leben vieler Ostdeutscher war der Herbst ’89, und dessen Vater war ein Russe: Michail Gorbatschow. Er war, mehr noch als Kohl, auch der der deutschen Einheit. Kaum ein Ostdeutscher hat Gorbatschows schönes Bild vom gemeinsamen europäischen Haus, das man nun bauen werde, vergessen. Nichts anderes war nach 1990 vorstellbar, als der Kalte Krieg vorbei war. Doch die USA haben von dieser WG noch nie etwas gehalten. Nein, es ist kein Zimmer frei für Russland im europäischen Haus. Wahnsinn sei das schon, finden Schroth und Weiss.

Nicht die Politik der Konfrontation und der Stärke, sondern einzig die Politik der Entspannung hat den Ost-West-Konflikt gelöst und die deutsche Einheit möglich gemacht. Das ist die zentrale historische Erfahrung der Ostdeutschen. Sie ist nicht widerrufbar, nicht löschbar, sie ist nicht einmal relativierbar.

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